Kann man den Krimkrieg und den jetzigen Ukrainekrieg vergleichen?

Jaga

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Beide Kriege haben im selben geographischen Raum stattgefunden. Wie im 19. Jahrhundert ist der Westen auch heute in der Ukraine zumindest indirekt präsent.
 
Ist schon O.K. Es geht ja eigentlich eher um die Vorgeschichte zweier Konflikte bzw. um historisch bedingte russische "Staatsräson" (z.B. Wunsch nach Zugang zu eisfreien Häfen)
 
Vergleichen kann man alles miteinander. Denn vergleichen ist nicht gleich setzen.

Natürlich kann man, oberflächlich betrachtet, zwischen dem Ukrainekrieg und dem Krimkrieg Parallelen erkennen. Aber man muss nicht sehr in die Tiefe gehen, um diese Parallelen als nichtig zu erkennen.
Die größte Gemeinsamkeit zwischen beiden Kriegen ist wohl, dass die Aggression von Russland ausging.
Auch damals spielten durchaus ideologische Gründe eine Rolle, wobei damals das zaristische Russland gewissermaßen (vereinfacht gesagt) das oströmische Reich wiederherstellen wollte.
Heute soll hingegen die einstige Größe des zaristischen Russlands bzw. der SU wiederhergestellt werden und es geht gegen die westliche Demokratie, welche die Ukrainer haben wollen. Der Unterschied zwischen damals und heute ist, dass der Krieg explizit gegen die Interessen der Ukrainer geht. Zwar hat es schon im 19. Jhdt. eine Russifizierungspolitik gegeben, welche die ukrainische Sprache als ein polnisches verwässertes Russisch diffamierte, welches zu reinigen sei, aber der Krieg an sich richtete sich gegen das Osmanische Reich, das zwar nicht mehr die alte Stärke hatte ("Kranker Mann am Bosporus"), das aber seinerseits natürlich auch eine Kolonialmacht war.
Was nun "den Westen" anbelangt: Den gab es im 19. Jhdt. als politische Kraft nicht.
 
Russland ist bekanntlich ein sehr großes Land. Die Furcht, dass der Zentrale in Moskau etwas entgleiten könnte, ist geradezu eine Grundkonstante der russischen Politik. Aus dem Grund gab es immer bestimmte Grundziele der russischen Politik: Zugang zu den Meeren, Zugang zum Welthandel, Kontrolle über Satellitenstaaten. Man könnte sagen, dass Russland eine territorialstrategisch handelnde Macht ist. Andere Mächte sind kapitalistische Zentren und direkt in den Welthandel involviert. Bei Russland ist das etwas anders. Wie im 19. Jahrhundert ist das Land ökonomisch nicht gerade modern, aber natürlich rohstoffreich, straff regiert und militärisch mächtig. Russland war im 19. Jahrhundert ein agrarisches Land, daher war der Zugang zu den Weltmeeren gerade wegen des Getreideexports extrem wichtig. Im 20. Jahrhundert ist der ökonomische Aspekt ebenfalls nicht zu unterschätzen, da es eine ganze Menge Vasallenstaaten in der Welt gab. Russland benötigte Vasallen, da seine Produkte, Waffen ausgenommen, kaum wettbewerbsfähig waren. Mit anderen Worten: Russland ist autokratisch, weil es rückschrittlich ist, weil es rückschrittlich ist, muss es autokratisch regiert werden. Weil es rückschrittlich und autokratisch ist, braucht es autokratische und schwache Satellitenstaaten, die von ihm abhängig sind. Lässt sich diese Tendenz schon im 19. Jahrhundert beobachten? Spielen diese Faktoren in beiden Kriegen eine Rolle? Die Frage lautet: Brauchen klassische Machtstaaten Macht, um stabil zu bleiben?
 
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Russland ist autokratisch, weil es rückschrittlich ist, weil es rückschrittlich ist, muss es autokratisch regiert werden. Weil es rückschrittlich und autokratisch ist, braucht es autokratische und schwache Satellitenstaaten, die von ihm abhängig sind. Lässt sich diese Tendenz schon im 19. Jahrhundert beobachten? Spielen diese Faktoren in beiden Kriegen eine Rolle? Die Frage lautet: Brauchen klassische Machtstaaten Macht, um stabil zu bleiben?
Ich glaube das dass hier ein klassischer Zirkelschluss ist. Demnach hätte auch das Russische Kaiserreich niemals solche Größe erreichen können, da es dank der Monarchie ja auch Autokratisch regiert wurde.
Wenn ich Russland sehe, sehe ich ein Land, welches immer wieder stark von außen bedroht wurde und die Bedrohung hat sich in einer Art Wagenburgmentalität verfestigt. Und dann der
Versuch durch expansion die Gefahr zu reduzieren.
Im Europäischen Teil als kleiner Auszug: Schweden <-> Russland, Russland <-> Preussen, Napoleon, Krimkrieg, dann die Polnischen Teilungen.
 
Ich glaube das dass hier ein klassischer Zirkelschluss ist. Demnach hätte auch das Russische Kaiserreich niemals solche Größe erreichen können, da es dank der Monarchie ja auch Autokratisch regiert wurde.
Wenn ich Russland sehe, sehe ich ein Land, welches immer wieder stark von außen bedroht wurde und die Bedrohung hat sich in einer Art Wagenburgmentalität verfestigt. Und dann der
Versuch durch expansion die Gefahr zu reduzieren.
Im Europäischen Teil als kleiner Auszug: Schweden <-> Russland, Russland <-> Preussen, Napoleon, Krimkrieg, dann die Polnischen Teilungen.

Ich glaube, dass das russische Machtstreben ein absorbierendes Element ist für die Kompensation fehlender innerer Stärke. Die Bedrohung von außen wurde immer auch als Bedrohung für den inneren Zusammenhalt gesehen. Russische Politiker sehen ihr Land als Anhängsel der Zentrale. Die Zentrale funktioniert nur dann, wenn die Außenglieder kontrolliert werden bzw. ausgebeutet werden können. Machtstreben ist ja nicht zwingend Ausdruck besonderer Fortschrittlichkeit, sondern kann ja auch Ausfluss innenpolitischer Probleme verstanden werden. Russland dürfte rund 200 mal so groß sein wie die Schweiz und hat nur doppelt soviel an Bruttosozialprodukt. Allein Oberbayern kommt auf 268 Milliarden Bruttoinlandsprodukt. Bei Russland sind es ungefähr 2,1 Billionen BNP. Nur mal so als Relation. Im 19. Jahrhundert waren die Relationen nicht zwingend anders. Eine klassische Handelsmacht hätte gar nicht das Interesse, wertloses Land zu unterjochen, sondern würde z.B. nur einzelne Zentren kontrollieren oder über Freihandelsunionen indirekten Einfluss ausüben.
 
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Das BIP ist eine vergleichsweise schlechtes Mass. Warum? Weil alles auf eine Währung umgerechnet wird. Und ist ein schlechter Umtauschkurs vorhanden habe ich per se ein niedriges BIP. Was einmal bezahlt ist und wie Häuser und ich sie selber Nutze erzeugen einen niedrigen BIP. Das selbe bei niedrigen Lohnkosten.
 
Die Bedrohung von außen wurde immer auch als Bedrohung für den inneren Zusammenhalt gesehen.
Schon das Ausgehen von einer konstanten Bedrohung ist mehr oder weniger Unsinn.

Von außen bedroht waren die russischen Fürstentümer im Hochmittelalter mal, im Besonderen von durch die mongolische Präsenz, im Spätmittelalter und über weite Teile der Frühen Neuzeit ist das aber gar nicht der Fall.

Die russische Expansion, wenn man da ungefähr bei Ivan dem Schrecklichen anfangen möchte, begann eigentlich in einer Phase, in der der äußere Druck von Osten zerfiel und von Westen noch kaum welcher vorhanden war.
Die Verwicklungen mit den europäischen Mächten begannen ja mehr oder weniger vor allem mit Ivans gescheitertem Livland-Krieg, aus dem Moskowien/Russland nichts nennenswertes herausholen konnte, dafür aber mit Polen-Litauen und Schweden aneinander geriet.

Auch wurde ja, seit den Stroganows immer fleißig in Richtung Osten expandiert, obeohl gerade in dieser Richtung nach dem sukzessiven Verfall der mongolischen Nachfolgereiche eigentlich keine wirkliche Bedrohung mehr vorlag.

Und auch was spätere Zeiten angeht, haut das mit dieser Litanei vom ewig angegriffenen Russland nicht hin.

Ja, Karl XII. von Schweden und Napoléon hatten versucht in Russland einzumarschieren und das führte zur Erfahrung der Invasion.

Aber was Karl XII. angeht, den "Großen nordischen Krieg" hatte nicht etwa Schweden vom Zaun gebrochen, sondern Peter der Große, weil er an Häfen und Seezugänge im Baltikum und in Ingermanland heranwollte.
Das es zum schwedischen Einmarsch weit nach Russland hinein kam, liegt einfach daran, dass der Plan grandios schiefgegangen ist.

Und was Napoléon betrifft, der hatte natürlich den Feldzug von 1812 gegen Russland angefangen, man darf daber aber auch nicht übersehen, dass Russland zuvor in den Koalitionskriegen 2-4 drei mal an der Seite Englands, Österreichs und Preußens gekämpft und dabei Truppen bis nach Süddeutschland, in die Schweiz und nach Norditalien geschickt hatte, ohne dass es seinerzeit vom revolutionären oder napoléonischen Frankreich angegriffen gewesen wäre.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Russland kurz vorher drei mal aus eigenem Antrieb Krieg gegen Frankreich geführt hatte, dann wirkt Napoléons agieren, nachdem klar war, dass sich Russland nicht mehr an den Tilsiter Frieden hielt und sich wieder Großbritannien annäherte, deutlich weniger überzogen.


Auch was den Krimkrieg angeht: Da ging es nicht darum, dass Russland in irgendeiner Weise bedrängt gewesen wäre, sondern daraum das der Zar versuchte mittels eines Protektorats über die orthodoxen Christen innerhalb des Osmanischen Reiches seinen Einfluss vor allem auf dem Balkan auszudehnen.


Machtstreben ist ja nicht zwingend Ausdruck besonderer Fortschrittlichkeit, sondern kann ja auch Ausfluss innenpolitischer Probleme verstanden werden.
Der Denkfehler bei diesem immer wieder auftauchenden Modell ist, dass durch Eroberungen die inneren Probleme nur größer werden, weil es bedeutet dass immer mehr Gruppen, Teil eines Reiches werden, die damit mitunter wenig anfangen können, was die Zentrifugalkräfte erhöht.

Die Zentrale funktioniert nur dann, wenn die Außenglieder kontrolliert werden bzw. ausgebeutet werden können.
Diese Logik geht aber nur auf, wenn die äußeren Teile eines Reiches der Zentrale an Ressourcen mehr einbringen, als sie beanspruchen. Das geht aber in Russland in diversen Regionen nicht auf und war in diversen Regionen auch nie der Fall.

Sibiren und der Kaukasus z.B. sind interessant, seit dem es moderne Erdölwirtschaft gibt, vorher waren das mehr oder weniger reine Zuschussgebiete in deren Aufbau der Russische Staat mehr reinsteckte, als er rausholte.
Sibirien war vielleicht in der FNZ als Quelle von Pelztieren für den Pelzhandel noch von einer gewissen Bedeutung, aber das dürfte wirtschaftlich kaum schwerwiegend genug gewesen sein um den Aufbau von Städten und Verwaltungsinfrastruktur zu rechtfertigen, zumal Pelzjäger und -Händler da mehr oder weniger auch ohne staatlichen Rahmen hätten agieren können.

Russland dürfte rund 200 mal so groß sein wie die Schweiz und hat nur doppelt soviel an Bruttosozialprodukt. Allein Oberbayern kommt auf 268 Milliarden Bruttoinlandsprodukt. Bei Russland sind es ungefähr 2,1 Billionen BNP. Nur mal so als Relation.
Wenn du mit solchen Zahlen um dich wirfst, dann geht damit bitte auch entsprechend kritisch um.

Das BIP ist erstmal als Größe nur bedingt aussagekräftig, weil es mitunter einen Großteil der erbrachten Arbeitsleistung überhaupt nicht erfasst.
Es erfasst und das ist gerade bei historischen Diskussionen nicht unwichtig, ausschließlich Leistungen, die über Märkte vermittelt werden.
Das wiederrum ist eine größe, die in einem Land von der Größe der realiter erbrachten Leistungen deutlich abweichen kann, weil alles was auf Subsistenzbasis, auf Schwarzmärkten etc. stattfindet im BIP nicht auftaucht, realiter aber vorhanden ist.
Und gerade in einem Land mit vielen abgehängten, ländlichen Regionen und repressiven politischen Regimes spielen solche Faktoren durchaus eine erhebliche Rolle.
Auch kommt hinzu, dass mitunter natürlich aus strategischen gründen wirtschaftliche Potentiale nicht in dem Maße ausgefahren werden, wie es theoretisch möglich wäre.

Ohne jetzt allzu tagespolitisch werden zu wollen, wir wissen alle, dass Russland in den vergangenen 20 Jahren Öl und Gas nach Zentraleuropa zu Vorzugskonditionen verkauft hat, mit der Implikation diese Märkte zu übernehmen und Abhängigkeiten zu schaffen.
Da wurde also zum Teil um strategischer Vorteile willen schlicht und einfach auf ein höhere Preise und damit ein höheres BIP verzichtet, obwohl möglicherweise durchaus größere Profite drinn gewesen wären.

Ein weiterer Punkt, den du nicht berücksichtigst, im Besonderen, wenn es um wirtschaftliche Probleme von Staaten geht, ist der Umstand, dass das BIP vielleicht eine sinnvolle Messgröße dafür sein kann, wie viel in einem Land produziert wird, aber nicht zwingend eine dafür ist, wie viel davon dem Staat zum Verausgaben zur Verfügung steht.
Wenn ein Staat mit einer wunderbar laufenden Industrie, nur geringe Zoll- und Steuersätze erhebt, bedeutet die große Produktionsleistung im Land nicht automatisch auch großen Spielraum für die Regierung mit diesen Mitteln Probleme zu regeln.

Wenn die Schweiz gemessen an Russland ein hohes BIP hat, nutzt das der schweizer Regierung insofern nur bedingt etwas. In Russland sind heute mehr oder weniger alle Wirtschaftszweige, die Gewinne abwerfen, im Besonderen der Rohstoffsektor, in weiten Teilen entweder direkt oder halb verschleiert in staatlicher Hand.
Das heißt, Russlands BIP mag zwar nicht groß sein, die russische Regierung kann aber jederzeit durch Gewinnabschöpfung bei den Staatskonzernen auf erhebliche Mittel zugreifen, ohne dafür an der Steuerschraube drehen zu müssen.
Mit dieser Konstruktion dürfte Russlands Regierung in der Lage sein mehr Mittel und Spielräume zu acquirieren, als so mache Regierung eines Landes, dessen Wirtschaftsleistung auf dem Papier erheblich größer ist.

Deswegen lässt sich eine nach BIP weniger gut laufende Wirtschaft nicht zwangsläufig mit mehr Problemen für die Regierung gleichsetzen.



Im 19. Jahrhundert waren die Relationen nicht zwingend anders.
Kommt ganz drauf an, in Relation zu wem. In Sachen Industrie hing Russland natürlich den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland hinterher, dem Rest der Welt nicht so unbedingt, jedenfalls, wenn man so auf die letzte Dekade des 19. Jahrhunderts schaut.
Und Russland war durchaus in der Lage mit seiner extrem großen Agrarproduktion, auf Europas Lebensmittelmärkten eine ganz erhebliche Rolle zu spielen. Als im 1. Weltkrieg Zufuhren russischer Argrarexporte wegfielen, wurde das in Deutschland schnell zum Problem.


Eine klassische Handelsmacht hätte gar nicht das Interesse, wertloses Land zu unterjochen, sondern würde z.B. nur einzelne Zentren kontrollieren oder über Freihandelsunionen indirekten Einfluss ausüben.
Erzähl das mal den Kolonialmächten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich in Afrika im großen Stil Kolonialreiche unterwarfen, die wirtschaftlich absolut unattraktiv waren und die Kosten für den Aufbau der Infrastruktur und die Kolonialverwaltungen nicht deckten.

Diese ideale Handelsmacht findest du nicht.

Selbst die Niederlande und Portugal, denen man das nachsagen könnte (in der FNZ stimmte es auch, nur später dann eben nicht mehr) haben im Laufe der Jahrhunderte am Ende bei ihren Kolonialprojekten flächenmäßig große abhängige Einflusszonen geschaffen, die wirtschaftlich nicht unbedingt sinnvoll waren (das niederländische Kolonialreich noch mehr als das Portugiesische, weil Indonesien insgfesamt relativ rohstoffreich ist)

Hinzu kommt, dass die Vorstellung einer reinen "Handelsmacht" auch nicht mehr in die Zeit nach der Industrialisierung passt, weil im Industriezeitalter Produktion gegenüber Handel die erheblich größere Rolle spielt.
Die dafür benötigten Ressourcen sind andere.
 
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Von außen bedroht waren die russischen Fürstentümer im Hochmittelalter mal, im Besonderen von durch die mongolische Präsenz, im Spätmittelalter und über weite Teile der Frühen Neuzeit ist das aber gar nicht der Fall.
Man sollte aber nicht die Ostexpansion des Großfürstentums Litauen vergessen, das im Mittelalter so manche ehemals russischen Teilfürstentümer (wie Smolensk) schluckte. Diese Gebiete konnten erst in der Neuzeit wieder von der Herrschaft der nunmehrigen Union aus Polen und Litauen „befreit“ werden. Noch Anfang des 17. Jhdts. war Polen-Litauen in der Zeit der „Smuta“ expansiv unterwegs, als es den falschen Dmitri auf den Zarenthron brachte und sich bei dieser Gelegenheit von ihm Gebiete abtreten ließ.

Auch der Norden, insbesondere die Region um Nowgorod, war im Mittelalter durch Expansionsbestrebungen von Schweden, Dänen und Schwertbrüderorden sowie Deutschem Orden bedroht.
 
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