3. gibt es nun einen Hinweis, dass das Deutsche Reich einen Blankoscheck ausgestellt hat?
In Hamilton & Herwig (Origins...) gibt es im Appendix A eine Chronologie von Megargee (ganz informativ die Abläufe) . Er beschreibt als Quelle für den 16.07. den italinienischen Außenminister. Dieser informiert den italiniensichen Botschafter in St. Peterburg und kuz danach soll Sazonow es ebenfalls gewußt haben. Wohl nicht direkt, sondern es wurde jemand in der "Linie" informiert und hat es nach oben kommuniziert.
Bei Lieven (Russia and the Origins of the First World War, S. 140-141) liegt die endgültige Formulierung des Ultimatums Sazonov am 24.07. um 10.00 morgens. Er ruft, das erste Mal !!!!, Nikolaus per Telefon an und teilt ihm den Text mit. In diesem Gespräch legt sich Sazonow fest, dass die Härte der Formulierung des Ultimatums nicht ohne Zustimmung ("Consent") der Deutschen formuliert worden sein kann. Wie er zu dieser Einschätzung gekommen ist, ist unklar.
In diesem Sinne ging Sazonow, bzw. dann in der Folge auch Nikolaus, wenngleich deutlich vorsichtiger !!, davon aus, dass es eine Art "Blankoscheck" durch das DR gegeben haben muss. Nur durch eine deutsche Rückendeckung konnte Ö-U im Süden gegen Serbien aufmarschieren und seine Grenze zu Russland relativ ungedeckt lassen.
OT: Es ist natürlich in diesem Kontext duchaus "pikant", dass Moltke Hötzendorf nach Ausbruch des allgemeinen Krieges mitteilte, dass man den "kleinen" Krieg gegen die Serben doch sein lassen solle und den Aufmarsch gegen Russland vorantreiben solle, um richtig Krieg zu führen. Serbien spielte nach dem 4. August keine Rolle mehr und den Anlass hatten die meisten auch schon vergessen oder nicht wirklich für relevant erachtet.
4. wenn das so wäre: mit welcher Lagebeurteilung fanden dann die Gespräche mit Poincare in Petersburg statt?
Allgemein wird konstatiert, dass es erschreckend wenig Quellen dazu gibt. Genaues weiss man nicht. Außer, wie oben ja auch beschrieben, dass sich F und R gegenseitig ihrer Bündnistreue versichert haben.
Wobei noch unklar war, was überhaupt GB dazu meinen würde.
Dabei versteigt er sich in abenteuerliche Sphären, so sieht er die Teilmobilmachung als letztlich auf das Schwarze Meer gerichtet, wegen der beiden mitmobilisierten Flottenteile.
Diese Darstellung bei McMeekin schießt deutlich über das Ziel hinaus. Es ist ja gerade kennzeichnend für den Ausbruch des Konflikts, so Herwig (Why did it Happen?) und Hamilton (On the Origins of the Catastrophe in: Hamilton & Herwig: The Origins of the World War...), dass zu Beginn keine territorialen Ambitionen im Vordergrund standen.
Aus der Sicht von Ö-U (Tisza) wurde sogar aktiv das Einbeziehen weiterer Serben abgelehnt und KW II ging in seinen Stellungnahmen (beispielsweise vom 28.07. an Jagow) von "Faustpfändern" aus, ähnlich wie in Frankreich 1870/71.
Die Frage der Rolle der Dardanellen ist ein "altes Thema" (so Bobroff: War accepted but unsought. Russia`s growing militancy and the July Crisis 1914, in: The Outbreak of the First World War). In der Folge der Oktober-Revolution wurde von den Bolschewisten - M.N. Pokrovskii - eine Dokumentation vorgelegt, die die Eroberung als zentrale Motivation des Zarismus deklarierte.
In zwei aktuellen Studien von Luneva und McMeekin wird das Thema erneut aufgegriffen. Dabei stützt sich Clark (Sleepwalker) auf McMeekin, um daraus sein zentrales Argument zu gewinnen, warum Russland in 1914 überhaupt ein substantielles Interesse an einem Krieg gehabt haben könnte.
In Anlehnung an seine eigene Studie (Road to Glory: Late imperial Russia and the Turkish Straits) weist Bobroff diese Thesen zu der zentralen Rolle der Dardanellen als übertrieben zurück und stützt sein Urteil zusätzlich auf die Arbeit von Reynolds (Shattering Empires).
Bei Lieven (s.o.) oder Fuller (Strategy and Power in Russia 1600 1914) spielt die Frage der Dardanellen für die Juli Krise und die Bereitschaft von Russland in den Krieg zu ziehen, ebenfalls keine nennenswerte Rolle.