Kolonialismus in der neusten Forschung

Adred

Neues Mitglied
Hallo!

Eine Historikerin behauptet bei YouTube:

"Also, Darstellungen von Geschlechtslosigkeit, Zweigeschlechtlichkeit oder Mehrgeschlechtlichkeit, allem, was wir heute als nicht-binär identifizieren würden, finden wir eigentlich in allen antiken Kulturen bis hin ins alte Mesopotamien und auch in einigen Weltreligionen. Im Judentum gibt es ein ganz anderes Verständnis von Geschlecht, das [wir] in diesem binären System kennen.

Dass wir heute in diesem festgefahrenen, binären Geschlechtersystem leben, das haben wir dem Kolonialismus zu verdanken. Denn als die europäischen Kolonialisten in die Welt gegangen sind, haben sie all diese jahrtausendealten Kulturen ausgelöscht und damit auch das damit einhergehende Geschlechterbild. Plötzlich wurde Mehrgeschlechtlichkeit oder auch gleichgeschlechtliche Liebe kriminalisiert und als Perversion abgestempelt.

Das entspricht aber überhaupt nicht dem, wie Geschichte gewachsen ist, und das haben wir heute auch in der Geschichtsforschung verstanden und gucken uns deshalb ganz viele historischen Funde noch einmal neu an, denn wir wissen heute, dass in der Zeit, in der die Archäologie und die Geschichtsforschung gerade groß und schick wurde, vor allem so im 18. und 19. Jahrhundert, wurde das eben nur von Männern betrieben und haben dann eben das Geschlechterbild und die Rollenverteilung, die Binarität, die sie kannten, auf ihre Funde projiziert. Jetzt gerade ist die Geschichtsforschung tatsächlich in dem Prozess, das alles wieder zu entspinnen und zu dekonstruieren, um mal zu gucken: Okay, aber was haben wir denn da wirklich gefunden, und was haben die Männer, die das damals gefunden haben, vielleicht einfach nur da reinprojiziert?"

Quelle: Mod an: Link gelöscht. Siehe https://www.geschichtsforum.de/thema/hinweise-zu-verlinkungen.37262/ Mod aus

Ich bin leider kein Historiker und wüsste nur zu gern, wie valide das ist.

Hintergründe meiner Frage:

1. Ich interessiere mich für die Wahrheit. Als Experte auf ganz anderem Gebiet weiß ich, dass objektiv falsche Behauptungen zu Geschlechterfragen kursieren und zwar teils plump, teils sehr geschickt platziert. Mit anderen Worten: Ich kann solchen Ausführungen nicht blind vertrauen (früher hätte ich dergleichen vielleicht einfach als neusten Forschungsstand akzeptiert). Aber ernstnehmen muss und möchte ich die Historikerin ja schon, und ich kann mir problemlos vorstellen, dass zumindest einige oder auch viele Kulturen zum Beispiel ein anderes Konzept als das der Binarität der Geschlechter hatten.

2. Wo Leute nicht vom Fach sind, etwa bei der taz, Zeit Online und Spiegel Online, lese ich neuerdings öfter, dass Homophobie ein Produkt der europäischen Kolonialisten sei. Das könnte eine richtige oder falsche Interpretation der neuesten historischen Forschung sein, deren Plausibilität damit umso interessanter wird.

3. Diverse Muslime behaupten, die islamische Theologie habe die Sündhaftigkeit und Strafwürdigkeit der praktizierten Homosexualität schon vor 1.000 Jahren oder schon immer einhellig vertreten. Selbst wenn das "einhellig" nicht stimmen sollte, und wenn nur ein Teil der muslimischen Theologen vor 1.000 Jahren so gedacht hätte, wäre der Behauptung, etwa die Ablehnung der praktizierten Homosexualität sei allein dem Kolonialismus zu verdanken, doch der Boden entzogen; dann aber würde ich mich fragen, wieviel Liebe zur Wahrheit überhaupt in dem ganzen Konzept steckt.

Wer mag mir helfen, das alles richtig einzuordnen?

Vielen Dank im Voraus!
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Dass wir heute in diesem festgefahrenen, binären Geschlechtersystem leben, das haben wir dem Kolonialismus zu verdanken. Denn als die europäischen Kolonialisten in die Welt gegangen sind, haben sie all diese jahrtausendealten Kulturen ausgelöscht und damit auch das damit einhergehende Geschlechterbild. Plötzlich wurde Mehrgeschlechtlichkeit oder auch gleichgeschlechtliche Liebe kriminalisiert und als Perversion abgestempelt.
Das ist in meinen Augen Aktivistensprech. Ich kenne keine ernstzunehmwnden Wissenschaffenden, die sowas in dieser Totalität behaupten würden. Hätten die "Kolonialisten" (was für ein Begriff) die anderen Kulturen "ausgelöscht", wüssten wir nichts über sie. Es gibt genügend Quellen aus nichteuropäischen Kulturkreisen, in denen Du Dir ein mehr oder weniger unfassendes Bild über die sozialen Gegebenheiten und Geschlechterrollen und -identifikation machen kannst. Allein auf dem indischen Subkontinent dürfte es mehr als genug Material geben.

Einigermaßen unstrittig sein dürfte, dass in allen (bekannten) Kulturkreisen die überwiegende Mehrheit der Menschen sich selbst als Frau oder als Mann begriff - mit allen möglichen Ausprägungen. Fraglich - und vermutlich schwer zu ermitteln wären die verbliebenen Anteile non-binärer, genderfluider oder wie auch immer zu bezeichnender Personen. (Hier wäre dann, bei aller Sympathie für die vielen individuellen Schicksale die Frage nach der historischen Relevanz zu stellen.)

Was unstrittig sein dürfte ist, dass es zu allen Zeiten und in allen Regionen Gesellschaften gab, die nicht ein solches Aggewas um sexuelle Vorlieben und Geschlechteridentität machten, wie insbesondere die viktorianisch geprägten Gesellschaften in den imperialistischen europäisch geprägten Staaten des 19. Jahrhunderts. Dass wir uns immer noch mit deren Moralvorstellungen beschäftigen müssen, liegt auf der Hand. (Allerdings würde ich als Hexenküchenpsychologe sagen, wer derart von sexuellen Spielarten besessen ist, wie die Aktivisten aus 19. Jahrhundert und Jetztzeit, ist möglicherweise mit seiner eigenen Lebensweise nicht ganz im Reinen.)

Historisch relevant wäre wiederum, was sich die einzelnen Gesellschaftsgruppen tatsächlich um die (in) der Öffentlichkeit propagierten Moralvorstellungen scher(t)en.

Richtig (und wissenschaftlich relevant) ist, dass Archäologen und Historiker geneigt sind, Funde und Quellen aus ihrer persönlichen Perspektive zu interpretieren. Damit ist für den Schliemann jede Leiche mit Waffen als Grabbeigabe automatisch und ohne weitere Untersuchung Kerl (hilfsweise einer, der halt nen dickeren Hintern hatte), Tupperdosen und Thermomix wurden den Damen des Hauses zugeordet. Mit diesem Wissen über wissenschaftlichen Bias werden heutzutage Funde umfangreicher und ergebnisoffener interpretiert als im 19. Jahrhundert und frühere Interpretationen neu bewertet. Aktuelles Beispiel ist die Kriegerin aus dem Birkagrab. Ganz normale, unaufgeregte Wissenschaft halt.
 
Vorbemerkung:
Gar kein Experte in derartigen Fragen. Nehmen Sie daher das folgende nicht nur mit dem - wie der Englischsprachige sagt - "grain of salt", sondern sogar mir einem Kilo desselbigen.

1. Forscher legen an ihre Funde nur allzuoft die Brille der eigenen Kultur, Sozialisation und Vorstellung an, um sie in ihr Weltbild einzupassen - blöderweise kann man gar nicht anders, man ist halt keine objektive, außenstehende Persönlichkeit. Insofern hat die Zitierte schon recht, wenn sie einer kritischen Überprüfung alter, überlieferter Forschungsergebnisse das Wort redet. Eine Neuinterpretation - auch wenn diese nicht richtiger, sondern nur mit anderen Vorurteilen belegt ist, täte sicher vielen Sachen nicht schlecht.

2. "Homophobe" Sichtweisen sind möglicherweise ein besonderes Spezifikum abrahamitischer Religionen. Ist das so - und da wäre ich mir nicht sicher - dann wäre "Kolonialismus" ein passendes Erklärungsmuster für ihre weltweite Ausbreitung durch Anhänger einer abrahamitischen Religion, die ihre Vorstellungen anderen Kulturen übergestülpt haben. Aber wie gesagt: Ohne Beleg, reine Spekulation...

3. Nichtbinäre Sichtweisen (soweit das nicht die oben unter 2. angerissenen Thematiken betrifft) - und hier bin ich mit der Zitierten eindeutig "über Kreuz" - haben sich wie der Begriff selbst erst - so glaube ich - mit neueren medizinischen Erkenntnissen und Möglichkeiten herausgebildet - wenn man von dem allzu menschlichen Wunsch beides (und damit alles) zu sein absieht, der dann gerne - wegen fehlender privater Umsetzungsmöglichkeiten - den diversesten Göttern umgehängt wurde...
 
...die verlinkte "Quelle" könnte noch in diesem Jahr gen Orkus gelangen... YT Videos sind hier nicht gern gesehen.

Nach Forschung oder einem Resümee derselben klingt das Zitat nicht gerade.
 
Im Kolonialzeitalter wurde die viktorianische Prüderie und Sexualmoral exportiert.
Als die Amerikaner bei den Indianern der Great Plains Transfrauen (oder so was ähnliches) entdeckten nannten sie diese "berdache". Das Wort stammt ursprünglich aus dem Arabischen und bezeichnete einen Lustknaben. Homosexualität, Transgender etc wurden im 19. Jahrhundert von Europäern und Amerikanern klar und eindeutig mit dem Orient assoziiert.

Ein gutes Buch zum Thema ist:
Georg Clauda (2008): Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt, Männerschwarm Verlag.
 
Zuletzt bearbeitet:
Aber ernstnehmen muss und möchte ich die Historikerin ja schon, und ich kann mir problemlos vorstellen, dass zumindest einige oder auch viele Kulturen zum Beispiel ein anderes Konzept als das der Binarität der Geschlechter hatten.

1. Ich interessiere mich für die Wahrheit.
Dann bist du hier an der falschen Adresse, hier geht es um Geschichte.
"Wahrheiten" werden anderswo feilgeboten.

Naja, vorstellen kann man sich vieles.
Ein Problem dabei dürfte sein, dass diverse Gesellschaften, bevor sie mit Europa und den Europäern in Kontakt kamen, keine Schriftlichkeit kannten und bei Darstellungen, die entsprechend interpretierbar wären, dadurch möglicherweise schwer fällt abzugrenzen, was tatsächliche gesellschaftliche Verhältnisse und Konzepte, was legenden oder möglicherweise auch sakrale Vorstellungen sind, die mit solchen Konzepten möglicherweise spielten, sich aber nicht auf die reale Gesellschaft bezogen.

Alleine schon von dem her, dürfte sich da eine Menge Interpretationsspielraum ergeben, bei gleichzeitiger Schwierigkeit so etwas plausibel zu beweisen oder es als definitiv falsch zu verwerfen.

2. Wo Leute nicht vom Fach sind, etwa bei der taz, Zeit Online und Spiegel Online, lese ich neuerdings öfter, dass Homophobie ein Produkt der europäischen Kolonialisten sei. Das könnte eine richtige oder falsche Interpretation der neuesten historischen Forschung sein, deren Plausibilität damit umso interessanter wird.

Es ist durchaus denkbar, dass das zumindest teilweise zutreffend ist.
Was definitiv nicht zutreffend ist, das wäre die Vorstellung, dass Homophobie etwas wäre, dass explizt von Europa, bzw. der europäischen Kolonisation ausgegangen wäre, denn dann dürfte es Homophobie und Repression von Homosexualität in Gesellschaften, die von der europäischen Kolonisation nicht oder kaum betroffen waren nicht geben, offensichtlich ist das aber der Fall.

Allerdings, dass das keine exklusiven europäischen Ideen sind, belegt ja nicht, dass entsprechende europäische Sichtweisen nicht anderswo im Zuge der Kolonisation andere Traditionen und gesellschaftliche Vorstellungen verdrängt haben mögen.

3. Diverse Muslime behaupten, die islamische Theologie habe die Sündhaftigkeit und Strafwürdigkeit der praktizierten Homosexualität schon vor 1.000 Jahren oder schon immer einhellig vertreten. Selbst wenn das "einhellig" nicht stimmen sollte, und wenn nur ein Teil der muslimischen Theologen vor 1.000 Jahren so gedacht hätte, wäre der Behauptung, etwa die Ablehnung der praktizierten Homosexualität sei allein dem Kolonialismus zu verdanken, doch der Boden entzogen

Nicht unbedingt, da das Christliche Europa und die Islamische Theologie ja mitunter Durchaus mindestens Teilmengen des gleichen Mindsets beeinhalten, insofern bereits vorhandene christliche Vorstellungen den Islam bei seiner Herausbildung ja durchaus beeinflusst haben und beide wiederrum auf Elementen aus dem Judentum aufbauen.

Ich bin dafür kein Experte, aber wenn entsprechende Lesarten und Interpretationen aus dem Judentum oder dem Christentum den Islam in dieser Richtung beeinflusst haben sollten, könnte man argumentierten, dass sich das aus der gleichen Quelle speiste.
Die Grundlagen für die europäischen Vorstellungen in dieser Richtung waren ja wesentlich aus dem Christentum abgeleitet und dass hatte neben dem Rassismus ja durchaus massive Auswirkungen auf die koloniale Politik und die kolonialen Praktiken der Europäer.
Es kann ja offensichtlich nicht um den Vorgang der Kolonisation an und für sich geben, sondern um das Mindset, was dabei möglicherweise übertragen wurde.


Man wird hier wahrscheinlich auch zwischen ideologischer Ablehnung auf der einen und tatsächlicher Strafpraxis auf der anderen Seite unterscheiden müssen.
Ist zwar keine Fachliteratur, aber ich rege an einmal die Wiki-Artikel zur Homosexualität in China und in Japan und die Abschnitte zur historischen Entwicklung anzuschauen.

Wenn man dem, was dort beschrieben wird, folgt, gab es bis ins 19. und 20. Jahrhundert keine entsprechende Strafpraxis, in Japan wird die auch explizit mit der (freiwilligen) Übernahme europäischer Gesetze bei der Modernisierung Japans in der Meiji-Ära in Verbindung gebracht.

Im Artikel zu China wird beschrieben, wird beschrieben dass Repression homosexueller Praktiken vor allem unter Mao und der kommunistischen Herrschaft aufgekommen sei, die ideologisch mindestens teilweise ein Westimport ist, gleichzeitig aber auch erwähnt, dass der Konfuzianismus mit seinen relativ strengen Rollenbildern sich grundsätzlich immer daran gestoßen hätte, allerdings wohl ohne, dass es als schlimms strafwürdiges Vergehen galt, sondern eher als ungehöriges schlechtes/falsches Betragen.

Nun wird man beim Konfuzianismus anders als beim Islam nicht behaupten können, dass der mindestens teilweise auf dem gleichen Brunnen schöpfte wie das Christentum, was sein Mindset angeht und dass als orriginäre, nicht von Europa beeinflusste Sichtweise betrachten können.


Nun ist bei Wiki und den entsprechenden Behauptungen vorsicht geboten und bei näherem Interesse empfielt es sich sicherlich, da nochmal bei entsprechender Fachliteratur nachzuhaken.


Auch wäre es glaube ich sinnvoll die etwas durcheinandergehenden Themen

- Geschlechteridentitäten
- Geschlechterrollen
- Homosexualität
- Die juristische Verfolgung entsprechender Praktiken
- Die gesellschaftliche Dikriminierung entsprechender Praktiken

Auseinander zu halten.

Das Bestrafungen von homosexuelle Handlungen vielerorts Westimporte sein können, ist sehr gut denkbar.
Wenn die Behauptung, dass es vor der Meji-Zeit jedenfalls keine Kriminalisierung homosexuellen Verhaltens in Japan gab, wäre das im Übrigen auch der Nachweis dafür, dass solche Gesetzgebungen in Teilen nicht von kolonisatoren erzwungen, sondern möglicherweise freiwillig angeeignet wurden (das wären, ohne mich da auszukennen auch für den Iran oder Saudi-Arbabien, wo es keine Kolonisation gab denkbare Modelle).

Das gesellschaftliche Diskriminierung oder mindestens abschätzige Betrachtung homosexueller Personen eine exklusiv westliche Idee wäre, die es anderswo als im Kulturkries der monotheeistischen Religionen nicht gab, würde ich bezweifeln wollen.

Das Geschlechter und Geschlechterrollen anderenorts auch in nichtbinären Modellen vorkamen, halte ich für denkbar, wüsste aber kein Beispiel, wo es sich tatsächlich beweisen ließe, zumal wir über einee Vielzahl von Gesellschaften in Ermangelung von schriftlicher Überlieferung auch gar nicht so genau fassen können, wie sie es genau damit hielten.
Materielle Hinterlassenschaften in Formen bildlicher Darstellungen etc. sind sehr weit intrpretierbar und können missverstanden werden.


Ganz so einfach scheint das mit der Wahrheit nicht zu sein.:)
 
Eine Historikerin behauptet bei YouTube:

"Also, Darstellungen von Geschlechtslosigkeit, Zweigeschlechtlichkeit oder Mehrgeschlechtlichkeit, allem, was wir heute als nicht-binär identifizieren würden, finden wir eigentlich in allen antiken Kulturen bis hin ins alte Mesopotamien und auch in einigen Weltreligionen.
Das mag so sein, sagt aber noch nichts über den Entstehungskontext aus. Die Frage ist ja, ob
  • die Darstellung von Geschlechtslosigkeit so intendiert ist/war oder
  • Zwei- und Mehrgesclechtlichkeit positiv/negativ/neutral oder als groteske gesehen wurde - man kann Dinge darstellen, weil man sie gut/schlecht findet oder um sich über sie zu belustigen.
Im Judentum gibt es ein ganz anderes Verständnis von Geschlecht, das [wir] in diesem binären System kennen.
Das ist eigentlich die mich am stärksten irritierende Stelle. Die Feindschaft, die im Christentum, im Viktorianismus gegenüber nonbinären, nicht heteronormativen Identitäten vertreten wurde und z.T. bis heute wird, speist sich nicht aus dem NT, sondern in erster Linie aus dem AT. Da hätte ich gern mehr Futter quellenmäßig.

Dass wir heute in diesem festgefahrenen, binären Geschlechtersystem leben, das haben wir dem Kolonialismus zu verdanken. Denn als die europäischen Kolonialisten in die Welt gegangen sind, haben sie all diese jahrtausendealten Kulturen ausgelöscht und damit auch das damit einhergehende Geschlechterbild. Plötzlich wurde Mehrgeschlechtlichkeit oder auch gleichgeschlechtliche Liebe kriminalisiert und als Perversion abgestempelt.
Hier würde ich in Ansätzen, aber nicht in der Absolutheit mitgehen.

wurde das eben nur von Männern betrieben und haben dann eben das Geschlechterbild und die Rollenverteilung, die Binarität, die sie kannten, auf ihre Funde projiziert. Jetzt gerade ist die Geschichtsforschung tatsächlich in dem Prozess, das alles wieder zu entspinnen und zu dekonstruieren, um mal zu gucken: Okay, aber was haben wir denn da wirklich gefunden, und was haben die Männer, die das damals gefunden haben, vielleicht einfach nur da reinprojiziert?"
Hier sehe ich einen Denkfehler. Es gibt natürlich den prototypischen alten weißen Mann. Dieser Prototyp vergisst aber, dass der alte weiße Mann weder alt, noch weiß, noch ein Mann sein muss (siehe Alice Schwarzers Positionen über nonbinäre Personen, die Frau, die Jahrzehnte lang das Gesicht des Feminismus in Dtld, war, hat sich gründlich desavouiert). Es ist korrekt, dass um 1900 es für Frauen sehr schwer war zu studieren (erste deutsche Universitäten ließen 1908 Frauen zum Studium zu, die letzten erst 1919, die Schweiz war etwas früher dran), noch schwieriger war es, nach dem Studium dann auch einen akademischen Beruf zu ergreifen. Nichtsdestotrotz wird hier so getan, als seien nur Männer in diesem Denksystem gefangen gewesen, und Frauen hätten außerhalb gestanden. Aber nur weil Frauen marginalisiert waren, standen sie eben nicht außerhalb des Denksystems. Sicher hätten Frauen eine weiblichere Perspektive eingebracht, aber die wäre eben auch binär und von denselben Moralvorstellungen geprägt gewesen.

3. Diverse Muslime behaupten, die islamische Theologie habe die Sündhaftigkeit und Strafwürdigkeit der praktizierten Homosexualität schon vor 1.000 Jahren oder schon immer einhellig vertreten. Selbst wenn das "einhellig" nicht stimmen sollte, und wenn nur ein Teil der muslimischen Theologen vor 1.000 Jahren so gedacht hätte, wäre der Behauptung, etwa die Ablehnung der praktizierten Homosexualität sei allein dem Kolonialismus zu verdanken, doch der Boden entzogen; dann aber würde ich mich fragen, wieviel Liebe zur Wahrheit überhaupt in dem ganzen Konzept steckt.
2. "Homophobe" Sichtweisen sind möglicherweise ein besonderes Spezifikum abrahamitischer Religionen. Ist das so - und da wäre ich mir nicht sicher - dann wäre "Kolonialismus" ein passendes Erklärungsmuster für ihre weltweite Ausbreitung durch Anhänger einer abrahamitischen Religion, die ihre Vorstellungen anderen Kulturen übergestülpt haben. Aber wie gesagt: Ohne Beleg, reine Spekulation...
Aus dem islamischen Kulturkreis sind einige homoerotische Gedichte überliefert, teilweise von Personen, die als Theologen bis heute verehrt werden. Die Vorstellung, dass der Islam immer schon homophob gewesen sei, ist also falsch.


Dann bist du hier an der falschen Adresse, hier geht es um Geschichte.
"Wahrheiten" werden anderswo feilgeboten.
Nun sei mal nicht so streng mit dem Wahrheitsbegriff, gleich vom ersten Post an.


Das Geschlechter und Geschlechterrollen anderenorts auch in nichtbinären Modellen vorkamen, halte ich für denkbar, wüsste aber kein Beispiel, wo es sich tatsächlich beweisen ließe, zumal wir über einee Vielzahl von Gesellschaften in Ermangelung von schriftlicher Überlieferung auch gar nicht so genau fassen können, wie sie es genau damit hielten.
In Albanien gibt es die Burrnesha, das ist eine als Frau geborene Person, die in Ermangelung eines Bruders die Rolle des Sohnes in der Familie übernimmt. Jeder weiß, dass es Frauen sind, die in eine4 stark patriarchalischen Gesellschaft eine Männerrolle übernehmen müssen. Ohne es genau zu wissen, würde ich allerdings annehmen, dSs die Burrneshas in den nächsten Jahrzehnten wohl verschwinden dürften.


Wenn man sich die Keramik der Moche (Perú, 1. - 8. Jhdt.) ansieht, so sind von den Zehntausenden weltweit bekannten Stücken figürlicher Keramik etwa 500 Stücke bekannt, die Sexszenen zeigen, teilweise mit Kriegsgefangenen, teilweise mit Skeletten, es gibt homo- und heteroerotische Darstellungen von (gegenseitiger) Masturbation, Fellatio (Oral Sex, insbesondere dort mit durch Figurengrößen ausgedrücktem Machtgefälle) und auch Analsex. Obwohl die überwiegende Mehrheit der Szenen zwischen Mann und Frau geschehen, kommt wohl überwiegend Analsex und nur sehr selten Vaginalsex in den Darstellungen vor. So jedenfalls Mary Weismantel in Moche Sex Pots: Reproduction and Temporality in Ancient South America. In: American Anthropologist. Bd. 106, 3, S. 495–505, auch online zu haben. Jetzt habe ich mich natürlich an der Reduktion der Moche-Kultur auf ihre Keramik und dort auf den Teilbereich der Sexualität (die figürliche Moche-Keramik ist weitaus reichhaltiger als dies) beteiligt.
 
Zuletzt bearbeitet:
"Eine Historikerin" behauptete das? Vielleicht eine Dame mit historischer Bildung bzw. Ausbildung, aber der gesamte Schrieb ist direkt aus der Mottenkiste der krudesten Theorien postkolonialistischer Aktivisten entnommen. Ich weise in diesem Zusammenhang nur darauf hin, dass manchen postkolonialistischen Autoren bereits der Grundsatz der Empirie als Mittel kolonialistischer Herrschaftssicherung gilt.

P.S.: Selbstverständlich lässt sich die Behauptung auf ihre Richtigkeit überprüfen, selbstverständlich lassen sich auch Anhaltspunkte finden, sie zu erhärten oder zumindest sie erwägenswert scheinen zu lassen. Doch überschreitet nach meinem Dafürhalten der Wissenschaftler die verhängnisvolle Schwelle zum Aktivismus, wenn er zu Moralisieren und mit Absolutismen um sich zu werfen beginnt, und das tut die nicht genannte Historikern m.E.n.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nun sei mal nicht so streng mit dem Wahrheitsbegriff, gleich vom ersten Post an.

Bei allem Respekt: Wenn wir uns darauf einlassen, über "Die Wahrheit" als Kategorie zu diskutieren, dann lassen wir uns auch gleichzeitig darin ein alles was nicht unbedingt in diese Kategorie einzuordnen wäre, bestenfalls als "Irrlehre" schlimmerenfalls als bewusstes Lügengebäude zu klassifizien.
Wenn man sich aber darin einlässt durch diese Absolutheit zwischen zwischen dem, was man als "wahr", weil irgendwie plausibel betrachtet und Irrlehren und Lügen nichts mehr zu kennen, lässt man sich damit auf denk und Operationsweise von Glaubensgemeinschaften/Sekten/Verschwörungstheorien ein.

Auf der Ebene zu diskutieren, sollte man wirklich nicht anfangen.

Wenn man nicht mehr damit umgehen kann, dass eine These, auch wenn man sie für nicht plausibel hält, auch wenn man sie nicht nachvollziehen kann, sogar, wenn man Gründe hat sie als widerlegt zu betrachten, für sich genommen nicht weiter als eine diskutierbare These ist, die sich weder innerhalb, noch außerhalb der Grenzen irgendeines Wahrheitsbegriffs befindet, braucht man gar weiter zu diskutieren, denn wenn dieser Grundkonsens verlassen wird, diskutiert man offensichtlich nicht mehr ergebnissoffen, sondern dann landet das ganze früher oder Später im Kulturkampf-Modus.

In Albanien gibt es die Burrnesha, das ist eine als Frau geborene Person, die in Ermangelung eines Bruders die Rolle des Sohnes in der Familie übernimmt. Jeder weiß, dass es Frauen sind, die in eine4 stark patriarchalischen Gesellschaft eine Männerrolle übernehmen müssen. Ohne es genau zu wissen, würde ich allerdings annehmen, dSs die Burrneshas in den nächsten Jahrzehnten wohl verschwinden dürften.

Das ist interessant zu wissen!


Bei den keramischen Darstellungen, bzw. deren Deutung bin ich demgegenüber skeptisch, weil ich da mindestens die Möglichkeit sehe, dass das möglicherweise auch als Schmähdarstellungen gedacht gewesen sein könnte und weniger als Ausdruck von Akzeptanz dieser Praktiken.
Gibt es Anhaltspunkte dafür dass diese alternative Deutung als unplausibel zu betrachten wäre?
Sonst wäre man bei genau dem oben bschriebenen Problem, dass es schwierig ist die Aussageintenntionen von künstlerischen Darstellungen in vorschriftlichen Gesellschaften, von denen wir insgesamt nicht besonders viel wissen, einigermaßen sicher auszudeuten.
 
Naja, Mottenkiste ist ja eher ein Ausdruck für veraltete Thesen und Weltbilder. Das ist ja hier nun gerade nicht der Fall.
Ich würde das auch entspannter sehen. Zur Zeit sind wir ihn einer Phase, in der die LGBT+-Community über ihre tatsächliche prozentuale Bedeutung hinaus Aufmerksamkeit verlangt, weil sie eben bis vor Kurzem nie gesehen wurde und wenn, als deviant.
Das wird sich auch wieder normalisieren.
 
Das ist eigentlich die mich am stärksten irritierende Stelle. Die Feindschaft, die im Christentum, im Viktorianismus gegenüber nonbinären, nicht heteronormativen Identitäten vertreten wurde und z.T. bis heute wird, speist sich nicht aus dem NT, sondern in erster Linie aus dem AT. Da hätte ich gern mehr Futter quellenmäßig.
Es gibt auch im Alten Testament ein paar Stellen, in denen Eunuchen ganz beiläufig erwähnt und neutral beschrieben werden, z.B. im Buch Esther. (Das Buch Esther spielt allerdings in Persien.)

Völlig übersehen wird in dem Youtube-Zitat der Einfluss der römischen Sexualmoral. Auch die Römer verachteten die griechische Knabenliebe, die orientalischen Eunuchen usw.
Vor ein paar Wochen geisterte Kaiser Elagabal noch als Transfrau durchs Feuilleton. Diese Einschätzung ist zwar nicht ganz unrichtig, man darf aber nicht übersehen, dass römische Geschichtsschreiber bestimmten Kaiser sexuelle Perversion nachsagten, um sie als Tyrannen verächtlich zu machen. Die Römer alles, was Elagabal so getan und gesagt hat, als eine orientalische Perversion an. Nur eine Cis-Frau auf dem Thron wie etwa Kleopatra wäre für die Römer wahrscheinlich noch schlimmer gewesen.:D

Generell muss ich aber anmerken, dass die ganzen Beispiele aus der Geschichte im krassen Widerspruch zu den modernen Selbstbestimmungs- und Selbstverwirklichungsidealen der heutigen LGBTQ-Community stehen. In den meisten Beispielen geht es um Eunuchen und Lustknaben und deren Freier, d.h. Genitalverstümmelung und Kindesmisshandlung.
Noch verwegener ist es allerdings den Begriff der Heterosexualität naiv allen früheren Epochen und Kulturen überzustülpen. Das passt nämlich oft noch weniger zusammen.

Zur Ausgangsfrage:
Das anschaulichste Beispiel dafür ist die Gesetzgebung in British-Indian. Hijras sind je nach Deutung Eunuchen, Hermaphroditen oder Transfrauen. Im 19. Jahrhundert gingen die britischen Kolonialbehörden gegen die Hijaras vor. Einzelne Gesetze blieben bis in die jüngste Zeit in Indian und Pakistan erhalten.
Ein interessanter Punkt ist noch, dass es ähnliche Effekte auch in Ländern gab, die gar keine Kolonien waren. Im Osmanischen Reiches und Japan wurden einfach ohne Kolonialmacht eine Verwestlichung als Modernisierung vollzogen.
 
Eine Neuinterpretation - auch wenn diese nicht richtiger, sondern nur mit anderen Vorurteilen belegt ist, täte sicher vielen Sachen nicht schlecht.
Das geschieht ja permanent. Aber wie du schon richtig sagst: Vorurteile von einst werden lediglich durch andere ersetzt, denn alle Menschen sind Kinder und gleichzeitig auch Gestalter ihrer Zeit.

Im Kolonialzeitalter wurde die viktorianische Prüderie und Sexualmoral exportiert.
Das war zweifellos der Fall – und in manchen Fällen wurden die einstigen Schüler (z.B. Inder) päpstlicher als der Papst (Engländer), was bis heute andauert.

Die Feindschaft, die im Christentum, im Viktorianismus gegenüber nonbinären, nicht heteronormativen Identitäten vertreten wurde und z.T. bis heute wird, speist sich nicht aus dem NT, sondern in erster Linie aus dem AT.
Auch das ist zutreffend - und deswegen ist alles Reden (nicht von dir, El Quijote), die christlichen und moslemischen Eroberungen hätten nichts oder nur wenig zur Verbreitung dieser Feindschaft beigetragen, weil diese Tendenzen in den eroberten Gesellschaften schon vorhanden waren, nur der Versuch, "Schuld" der Europäer zu minimieren.

Nichtsdestotrotz wird hier so getan, als seien nur Männer in diesem Denksystem gefangen gewesen, und Frauen hätten außerhalb gestanden. Aber nur weil Frauen marginalisiert waren, standen sie eben nicht außerhalb des Denksystems. Sicher hätten Frauen eine weiblichere Perspektive eingebracht, aber die wäre eben auch binär und von denselben Moralvorstellungen geprägt gewesen.
Diesem Postulat schließe ich mich an. Frauen sind die eigentlichen Trägerinnen nicht nur der jeweiligen Sprache, sondern auch der jeweiligen Kultur: Frauen, und nicht Männer, bringen z.B. den Kindern bei, was sich gehört und was nicht; in einer Zeit, als den Kindern die eigenen moralische Maßstäbe noch fehlen, werden ihnen die Werte vermittelt, mitunter auch ohne verbalisiert zu werden.

Jetzt habe ich mich natürlich an der Reduktion der Moche-Kultur auf ihre Keramik und dort auf den Teilbereich der Sexualität (die figürliche Moche-Keramik ist weitaus reichhaltiger als dies) beteiligt.
Das ist keine Reduktion, sondern eine Feststellung des Verhältnisses der sexuellen Darstellungen zu nichtsexuellen Darstellungen – die im Übrigen dem Leben selbst entsprechen durften: Sexualität ist nur ein Teil dessen, was den Menschen ausmacht oder sein Denken und Tun beschäftigt.

Zur Zeit sind wir ihn einer Phase, in der die LGBT+-Community über ihre tatsächliche prozentuale Bedeutung hinaus Aufmerksamkeit verlangt, weil sie eben bis vor Kurzem nie gesehen wurde und wenn, als deviant.
Das wird sich auch wieder normalisieren.
Sehe ich auch so.

Ein interessanter Punkt ist noch, dass es ähnliche Effekte auch in Ländern gab, die gar keine Kolonien waren. Im Osmanischen Reiches und Japan wurden einfach ohne Kolonialmacht eine Verwestlichung als Modernisierung vollzogen.
Ohne Zweifel war/ist Christentum ein "erfolgreiche" Religion, wenn man diesen Erfolg an den militärischen und ökonomischen Erfolgen ihrer Anhänger misst. Und ein Erfolgsmodell einer Gesellschaft wird gern kopiert - und das in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Wer das nicht getan hat - siehe die 250-jährige Edo-Zeit in Japan - holte das in einer gewaltigen Anstrengung nach.
 
Auch das ist zutreffend - und deswegen ist alles Reden (nicht von dir, El Quijote), die christlichen und moslemischen Eroberungen hätten nichts oder nur wenig zur Verbreitung dieser Feindschaft beigetragen, weil diese Tendenzen in den eroberten Gesellschaften schon vorhanden waren, nur der Versuch, "Schuld" der Europäer zu minimieren.
Das ist mir wiederum auf der anderen Seite zu einfach. Es ist ohne Frage so, dass Moralvorstellungen in Kolonialgesellschaften/-gesetzgebungen beeinflusst und ggf. verändert wurden. Aber es ist zu einfach, das auf die Europäer zu schieben. Wenn etwas zu sehr aufoktroyiert wahrgenommen wird, dann wird dem Widerstand/Reaktanz begegnen. Wenn Moralvorstellungen oder Devianzwahrnehmungen übernommen wurde, müssen die Übernehmenden dafür auch empfänglich gewesen sein.
 
@dekumatland

Über uns - Männerschwarm

Der Verlag beschreibt sich als Vehikel dafür, Zitat, eine Repräsentationslücke schwuler Autoren bzw. Sichtweisen zu schließen. Im Programm finden sich nationale und internationale Belletristik homosexueller Autoren, vor allem aber Comics und Sachbücher zum Thema homosexuelle Perspektiven und Erotik. Die Beschreibungstexte weisen unverhohlen eine politische Schlagseite auf. Das ist natürlich absolut legitim, man sollte aber wohl bedenken, dass beim Verlag Männerschwarm eher keine Sichtweisen zu finden sein werden, die von der LGBTQ-Community als unpassend empfunden werden.
 
Wenn Moralvorstellungen oder Devianzwahrnehmungen übernommen wurde, müssen die Übernehmenden dafür auch empfänglich gewesen sein.
Das ist wiederum mir zu einfach, denn was hat ein Indigener für eine Wahl, wenn ihm gesagt wird, entweder du lässt dich taufen oder du wirst ein Kopf kürzer gemacht?

Christianisierung mit Feuer und Schwert ist kein Märchen, es hat sie tatsächlich gegeben – zum Beispiel bei der Christianisierung Lateinamerikas oder auch von Prußen.
 
Du übertreibst, wie üblich, wenn es um dieses Thema geht. Ja, es gab selbstverständlich Zwangstaufen, und zwar eher in Lateinamerika als im Baltikum, aber sie waren nicht die Regel und das Werk ziviler Machthaber, nicht der Kirche. Zwangstaufen sind nach christlicher Vorstellung wertlos.

Das Christentum ist eine Erlösungsreligion, für die Konversion ist eine freiwillige Eigenleistung vonnöten. Nur wer Gott sucht und findet, wird nach katholischem Dogma Christ.

Willerich von Bremen schrieb zur Zeit des großen Karl ebenso gegen Zwangstaufen an wie ein halbes Jahrtausend später Tomas de Torquemada (!), als er das theologische Gutachten für den Ukas der Katholischen Könige an Columbus verfasste, die Indigenen nicht zum Christentum zu zwingen.

Aber das soll jetzt nicht Gegenstand dieser Debatte sein.

Meiner Ansicht nach ist @El Quijote's Einwand sehr berechtigt, und ich würde sogar noch weiter gehen. Mich stört an Formulierungen wie "Heteronormalisierung der islamischen Welt" der Absolutheitsanspruch. Meiner Meinung nach wird die Behauptung einer lückenlosen Aufoktroyierung fremder Vorstellungen schon durch oberflächliche Beobachtungen widerlegt.

Das Christentum scheint mir ein gutes Gegenbeispiel zu sein: Wohin es sich auch ausbreitete, es überlebten stets lokale vorchristliche Traditionen und Vorstellungen, ob nun der nordische Glaube an Elfen oder die animistischen Praktiken der Niger-Kongo-Kulturen. Teils blieb das Vorchristliche sogar dominierend, und in Afrika wurde es nicht selten mit dem Christentum zu Riten verwurstet, die der christlichen Theologie entgegenstehen, ohne dass Kirche und Kolonialbehörden es verhindern konnten.

Die Transplantation europäischer Vorstellungen verlief offenbar nicht sehr erfolgreich, die Kolonialisierten bewahrten sich ihre eigenen Vorstellungen, und warum hätte es ausgerechnet in diesem Punkt anders sein sollen? Zumal wenn das heteronormalisierte Weltbild der Kolonialmächte den Kolonialisierten wirklich völlig fremd und unverständlich gewesen wäre? Ohne Mitwirkung der Bevölkerung kann man ein Verbot homosexueller Praktiken nicht durchsetzen.

Auch wirft die Behauptung aus dem Anfangsbeitrag andere Fragen auf. Wie zum Beispiel gelangte das heteronormalisierte Weltbild der Westler in diejenigen islamischen Staaten, die nur kurz und/oder nur unter unvollständigem westlichem Einfluss standen (etwa Saudi-Arabien und Afghanistan)?
 
Auch wirft die Behauptung aus dem Anfangsbeitrag andere Fragen auf. Wie zum Beispiel gelangte das heteronormalisierte Weltbild der Westler in diejenigen islamischen Staaten, die nur kurz und/oder nur unter unvollständigem westlichem Einfluss standen (etwa Saudi-Arabien und Afghanistan)?
Es gibt jedenfalls gute Gründe anzunehmen, dass jede Gesellschaften, die den wenigsten westlichen Einfluss abgekommen haben, auch am geringsten heteronormalisiert sind. Afghanistan hat die extremsten Beispiele zu bieten.

Besonders anschaulich ist die Praxis Bacha Bazi in Afghanistan. Grob gesagt geht es homoerotische oder homosexuelle Praktiken zwischen erwachsenen Männern und Knaben in Frauenkleidern - also Missbrauch minderjährigen Sexsklaven. Afghanistan scheint jedenfalls das letzte Rückzugsgebiet des Bacha Bazi zu sein. Im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert waren ähnliche Praktiken im osmanischen, persischen und zentralasiatischen Raum weit verbreitet.
Im turksprachigen Raum war der Tänzer in Frauenkleidern als köçek bekannt. Junge Sklaven tanzten zur Unterhaltung der Männer.

Entscheidender Punkt, warum es sich nicht um heteronormative Gesellschaften handelte, ist, dass Homosexualität nicht als Identität verstanden wurde. Homoerotische Schwärmereien waren ähnlich wie bei den alten Griechen praktisch normal und standen nicht im Widerspruch dazu, dass die gleichen Männer sexuelle Beziehungen mit Frauen hatten. Das Tabu lag jedoch auf dem Analverkehr, insbesondere auf dem passiven Part.

Ebenfalls in Afghanistan existiert, dass Phänomen Bacha posh. Mädchen tragen Jungenkleidung übte die soziale Rolle von Männern aus. Bacha posh sind seit über 100 Jahren bekannt.

Gerade die strikte Trennung der Geschlechter in der islamischen scheint paradoxerweise der Motor von dubiosen Gegenentwürfen zu sein, die als eine Art Ventil dienen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist wiederum mir zu einfach, denn was hat ein Indigener für eine Wahl, wenn ihm gesagt wird, entweder du lässt dich taufen oder du wirst ein Kopf kürzer gemacht?

Christianisierung mit Feuer und Schwert ist kein Märchen, es hat sie tatsächlich gegeben – zum Beispiel bei der Christianisierung Lateinamerikas oder auch von Prußen.

Sicher gab es Zwangsmission. Es wurde das Baltikum vor allem durch die Ostkolonisation und die Aktivitäten des Deutschen Ordens christianisiert- und diese Christianisierung war zweifellos durch Zwang und Gewalt durchgesetzt worden. Dennoch aber war das nicht die Regel: Es haben Patrick, Bonifatius oder Kirill das Christentum eben nicht mit Feuer und Schwert in Deutschland, Irland oder Serbien verbreitet.

Fürsten wie Clodwig, Olaf Tryggvason von Norwegen oder Herzog Rollo von der Normandie sind nicht unter der Nötigung von Feuer und Schwert christlich geworden, sondern weil sie vom Bischof etwas geschenkt bekamen, weil es insgesamt lohnender war, dem Club beizutreten.

Europa insgesamt ist wohl mehr durch Missionsarbeit, durch politische Motive, durch Heiratspolitik, durch wirtschaftliche Anreize, als durch nackte Gewalt christianisiert worden.

Zwangsmissionierung wurde häufig auch von der Kirche missbilligt und kritisiert. Kirchliche Ratgeber wie Alkuin haben Zwangsmissionen Karls des Großen heftig missbilligt und kritisiert. Man fand, dass das keine nachhaltigen Erfolge haben konnte.


Auch in Lateinamerika verlief die Christianisierung differenzierter. Es gab in Mexiko und Peru zahlreiche Eheschließungen von Konquistadoren mit Angehörigen der alten Eliten.

Die "Blumenkriege" der Azteken und Menschenopfer-Praktiken waren für die Nachbarn eine Belastung. Jährlich sollen 10-20.000 Menschen geopfert worden sein. Das Christentum als Erlösungsreligion hatte durchaus eine gewisse Attraktivität für die indigene Bevölkerung.
Es gab auch innerhalb der Dominikaner oder Franziskaner Widerstand gegen die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung, und es gab durchaus auch vielversprechende Missionsprojekte, die eben nicht auf Gewalt und Zwang setzten.

Bartolomé de Las Casas hat in seinen Berichten vielleicht manches übertrieben. Er hat aber heftig gegen Zwangsmissionierung sich engagiert und hat damit Karl V. konfrontiert.

https://de.wikipedia.org/wiki/Batolomé_de_Las_Casas
 
Zurück
Oben