Im Jahre 1904 veröffentlichte der ehemalige Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements Emil Frey sein Buch „Die Kriegstaten der Schweizer dem Volk erzählt“. In den Bibliotheken dürfte es kaum mehr zu finden sein; im Antiquariat findet man noch einige Exemplare, wo ich denn auch meines her habe.
Ob man bei seinem Buch von einem historischen Werk sprechen darf oder nicht, müssen die Historiker entscheiden.
Als Quellen, welche er allerdings nicht nennt, verwendete Frey wohl die alten Chroniken (Schilling, Schodoler, Tschachtlan, Edlibach) und münzte diese in eine für die Zeitgenossen gut lesbare Prosa um, „nicht damit das Schweizervolk unserer Tage sich sonne in dem Ruhme der Väter“, sondern als „Mahnung für die Lebenden“, d.h. für das Volk, das angesichts der latenten Kriegsgefahren in Europa der damaligen Zeit wehrhaft bleiben möge wie die Vorfahren es waren, aber nicht den gleichen Fehlern verfallen sollte.
Die Volksseele der alten Eidgenossen charakterisiert er als „schlicht und derb, mannhaft, unbeugsam, treu bin in den Tod, gross in ihren Entschiessungen, am grössten in der Gefahr, stolz und kurz angebunden vor dem Hochmut der Grossen, aber schwach gegen ihre Schmeichelreden und Bestechungen, halsstarrig in der Zwietracht, zügellos im Hassen.“
Nachstehend ein Auszug (etwas gekürzt) aus diesem Buch, der sich mit der Eroberung der Waadt 1475 während der Burgunder Kriege (1474 – 1477) befasst. Die Kriegsführung im Spätmittelalter wird m.E. illustrativ beleuchtet; Raub, Brand, Mord, Erpressung und Bestechung sind integrierender Bestandteil derselben, ebenso Terror. Die Mannschaft will Blut sehen und Beute machen, die Disziplin ist latent locker. En passant wird gleich noch Genf - mit dem man sich wegen einer früheren Sache eigentlich geeinigt hat - erpresst.
Ob diese Kampfesweise für die Zeit charakteristisch ist oder singulär auf die Alten Eidgenossen zutrifft, vermag ich nicht zu beurteilen.
Die Eroberung der Waadt 1475
Schon am Tage der Absage (14. Oktober 1475) rückte das Panner von Bern aus; noch an demselben Abend traf es vor Murten ein, wo sich die Freiburger mit ganzer Macht ihm anschlossen. Im Laufe der Nacht ergab sich Murten. Avenches und Payerne folgten ohne Schwertstreich. Payerne, die alte Stadt der Königin Bertha, hatte dem anrückenden Heere eine ansehnliche Gesandtschaft mit den Torschlüsseln entgegengeschickt. Dafür wurde in der Stadt alles Rauben streng verboten und den bei den Bürgern einquartierten Mannschaften anbefohlen, ihre „Uerte“ nach Vorschrift der Kriegsordnung aus dem Reisgeld zu bezahlen. Von Payerne aus zogen kleine Abteilungen westwärts nach Montagny und vor die hochgelegene starke Burg La Molière, die ihrer ausgedehnten Fernsicht wegen „Helvetiens Auge“ genannt wurde. Alles ergab sich auf die erste Aufforderung.
Umso blutiger ging es zu Estavayer her. Hier sollten die Greuel der damaligen Kriegsführung in ihrer ganzen Roheit und Unmenschlichkeit zutage treten. Hinter den starken Mauern des an die Gestade des Neuenburgersees anmutig gelegenen Städtchens wohnte eine wohlhabende Bevölkerung, bekannt durch ihre blühenden Tuchwebereien. Den Kern der Feste bildeten zwei starke Türme und das Schloss, der Stammsitz derer von Estavayer. Die Besatzung bestand aus dreihundert Waadtländern, einer Anzahl geworbener Söldner und den wehrhaften Bürgern des Städtchens. Von dem Befehlshaber des Platzes, dem Kastlan Claudius von Estavayer, wird berichtet, dass er entschlossen war, seinen Posten zu behaupten; umgeben von seinen Söldnern, soll er durch die Gassen geritten sein und einen jeden mit dem Tode bedroht haben, der von Übergabe reden würde.
Am Vormittag des 17. Oktobers erschien die Vorhut der verbündeten Städte vor den Mauern Estavayers. Schon nach zweistündigem Geplänkel erstiegen die kühnen Gesellen die Mauer und warfen sich unter dem Ruf „Stäffis gewonnen“ in die Strassen der Stadt, während andere mit ihren Äxten und Halbarten die Bollwerke niederrissen und die Tore aufbrachen. Nun erst kam der Gewalthaufe mit den fliegenden Pannern heran und vollendete den Sieg. Claudius von Estavayer hatte sich mit 150 Mann in den Hauptturm zurückgezogen; aber auch dieser ward gestürmt. In den Türmen, in den Gassen und Häusern wüteten nun die Sieger; über 1000 wehrhafte Männer wurden erbarmungslos niedergemetzelt. Umsonst bot der Ritter grosses Gut um sein Leben; er musste das Los seiner Gefährten teilen. Zahlreiche Weiber und Kinder, die auf überladenen Schiffen ihre Rettung versuchten, versanken in den Fluten des Sees. Eine beträchtliche Beute an Silber und Gold, seidenen Tüchern und Gewändern ward unter die Hauptleute und Mannschaften verteilt; nach Freiburg allein sollen gegen 100 Wagen geschleppt worden sein, beladen mit den reichen Tuchvorräten der städtischen Warenlager.
Darauf verkündeten die Sieger, dass den Männern, die dem Tode entgangen, Gnade zugesichert sei; allein es sollen ihrer nur noch zwanzig gewesen sein; sie wurden zuhanden der Städte Bern und Freiburg in Huldigung genommen.
Selbst den Zeitgenossen schien es, dass beim Sturme auf Estavayer das Mass des Erlaubten überschritten worden sei. Lange noch blieb „der böse Tag von Stäffis“ im Munde des Volkes. Auch der Rat von Bern sah sich veranlasst, die Hauptleute im Felde zu ermahnen, „unmenschliche Härtigkeiten, die Gott und die Heiligen wider uns zur Rache bewegen möchten, nicht mehr zu gestatten, sondern sie strafen und abweisen.“ Aber als die Hauptleute gegen den Tadel sich auflehnten, beeilte sich der Rat, sie zu besänftigen. „Seine Meinung sei es nicht gewesen, sie, die man als hochweise, mit aller christlichen Gottesfurcht begabte Männer kenne, auf irgend eine Weise zu beladen; deswegen möchten sie die treue Warnung nicht im Gefährden, sondern im Besten vermerken“ (14. Oktober 1475).
Niederschmetternd war die Wirkung, welche das blutige Schicksal der unglücklichen Besatzung von Estavayer im Lande Waadt hervorrief. Die Hauptstadt Moudon beeilte sich, durch eine Abordnung ihre Unterwerfung zu melden, ebenso Rue und etliche Burgen und Schlösser. Romont ergab sich sofort nach dem Falle seines am Fusse der Stadt gelegenen festen Turmes. Mit Yverdon wurde zum lebhaften Missvergnügen der Mannschaft, die stürmen wollte, ein Vertrag mit milden Bestimmungen vereinbart. Die Hauptleute mochten die Wiederholung der Blutszenen von Stäffis befürchten. Ähnliches geschah mit anderen Städten und Burgen, während etliche Schlösser, namentlich die hoch am Passe über den Jura gelegene Fest Ste. Croix, mit Gewalt eingenommen werden mussten und verbrannt wurden.
Von Yverdon wandten sich die Verbündeten nach Orbe, das, wie wir wissen, schon seit dem Frühjahr in ihrem Besitze sich befand und von ihnen zum Waffenplatz bestimmt worden war. Noch stand in der Nähe dieses Ortes die Feste Les Clées, die den Weg über den Jougne Pass beherrschte. Eine auserwählte Schar von 1000 Geharnischten und Bogenschützen wurde dahin entsandt, bei deren Annäherung die Besatzung das Städtchen den Flammen übergab und sich in die Burg zurückzog. Diese erhob sich stolz und kühn auf steiler Anhöhe; den mächtigen, in seinem Innern gewölbten Turm umgaben nicht weniger als vier voreinander liegende Mauern mit stark verrammelten Toren. Mit Recht galt die Burg als eine der festesten weit und breit. Allein keinen Augenblick zauderten die Hauptleute und Mannschaften. Mit hölzernen Schirmen, mit Pickeln und anderen Brechwerkzeugen ausgerüstet, rückten die Stürmenden an den Fuss der Anhöhe; der Befehl war gegeben, dass alle mit vereinter Kraft auf der gleichen Seite anlaufen, und, „ohne hinter sich zu sehen“, den Sturm beharrlich durchführen sollten. Den Büchsenschützen aber wurde eine Stellung angewiesen, aus welcher sie die Zinnen und Schiesscharten wirksam bestreichen konnten.
Jetzt setzte die Mannschaft zum Sturme an. ... nun wird die vierfache Mauer überstiegen; die Besatzung weicht und stürzt sich in den festen Turm; auf der Ferse folgen ihr die Eingedrungenen und erschlagen die Hintersten in wütendem Handgemenge. Noch muss der Turm, der Kern der Feste, erstürmt werden. Aber die geängstigte Besatzung schreit um Gnade. Allein wiederum sind alle bösen Geister entfesselt. Nicht einmal zur Hinrichtung sollen die Verteidiger begnadigt werden; wütend verlangen die Belagerer zu stürmen, um den Gegner mit dem Schwert in der Faust den Garaus zu machen.
Es scheint indessen, dass unter den im Turm ihres Schicksals Harrenden sich zwei gefangene Eidgenossen befanden; diese baten die Rachedürstenden flehentlich, sie nicht zu opfern. Da entschloss man sich, auf den Sturm zu verzichten und die Besatzung zur Hinrichtung zu begnadigen. Ans Schwert wolle man sie annehmen und ihnen Frist zur Ruhe und zur Beichte gestatten. Das Tor öffnet sich; drinnen waren noch an die 70 Mann, die sofort gefesselt nach Orbe geführt und vor ein Kriegsgericht gestellt wurden.
Noch an demselben Abend wurde das Todesurteil gefällt; alle, Herren und Knechte, sollten durchs Schwert zum Tod gebracht werden. Da aber kein Scharfrichter zur Stelle war, rief man in den Ring der Gefangenen, ob gegen Fristung des Lebens sich einer finde, der das Richtschwert übernehmen wolle. Dem Deutschen, der aus der Zahl der sich Meldenden gewählt ward, einem Manne von schöner Gestalt und kräftigem Gliederbau, ist das Zeugnis erteilt worden, dass er bei der Blutarbeit so geschickt sich benahm, als hätte er das Handwerk von jeher betrieben. Nachdem fünf Gefangene den Todesstreich empfangen, erkannten die Richter wegen eingebrochener Dunkelheit, die Hinrichtung der übrigen auf den folgenden Tag zu verschieben. Am anderen Morgen fielen noch fünf Häupter; 19 Gefangene waren über Nacht in dem engen Turme, in dem sie verwahrt wurden, erstickt. Den übrigen wurde Leben und Freiheit geschenkt.
Obgleich der Sturm vom Morgen bis zum Abend gedauert hatte, zählten die Angreifer nicht mehr als vier Tote und von den sechzig Verwundeten genas der grössere Teil. Das Schloss wurde in Brand gesteckt, dessen Trümmer sind heute noch sichtbar; nur das Städtchen ist wieder aufgebaut worden. Über die Plünderung der unglücklichen Einwohner wird Schlimmes berichtet. Als einzige Siegestrophäe fiel den Siegern ein savoyisches Panner mit dem weissen Kreuz im roten Feld in die Hände.
Nach den Instruktionen des Rates von Bern sollten die Hauptleute nicht versäumen, sich der Burg von Lasarraz zu bemächtigen, und über deren Inhaber ob seiner feindseligen Gesinnungen gegen Bern strenges Gericht zu halten. Ein Streifkorps nahm die Burg im Sturm, wobei 23 Mann von der Besatzung ihr Leben verloren; der Herr des Schlosses aber hatte sich, Böses ahnend, bei Zeiten in Sicherheit begeben. ...
Noch eine Reihe anderer Burgen und Schlösser der Gegend wurden genommen, bevor das Heer, zu welchem nunmehr auch das Panner von Luzern gestossen war, von Orbe aufbrach und gegen Morges marschierte. Hier erwartete sie der Graf von Romont in eigener Person mit einem ansehnlichen Haufen von Reisigen; aber ein böser Schrecken fuhr den Reitern in die Glieder, als sie von dem Anmarsch der Eidgenossen hörten; in schmählicher Flucht stoben sie auseinander. Am 27. Oktober zog das verbündete Heer, ohne auf Widerstand zu stossen, in Morges ein und pflanzte seine Panner an den Gestaden des Leman auf.
Während auf diese Weise die Berner und ihre Verbündeten binnen 14 Tagen nicht weniger als 16 Städte und 43 Schlösser in ihre Gewalt gebrach hatten, waren mittlerweile auch die Zuzüger der übrigen eidgenössischen Orte eingetroffen, voran 1500 Zürcher unter Hans Waldmann. Bereits hatte auch Lausanne sich unterworfen und schweres Lösegeld bezahlt. Den bernischen Hauptleuten aber war von ihrer Obrigkeit empfohlen worden, auch Genf „nicht unbesucht zu lassen“; man hatte in Bern die Schmach nicht vergessen, die dem Schultheiss Diesbach in den Strassen der Bischofsstadt widerfahren war, und noch waren von Genf die 12,000 Gulden nicht entrichtet worden, die es als Entschädigung und Genugtuung an Bern zu leisten versprochen hatte. Trotz der lebhaften Einsprache der Freiburger, die auf den nahen Kampf mit Karl von Burgund hinwiesen, wurde im Kriegsrate der Zug nach Genf beschlossen.
Allein schon war eine Gesandtschaft der Genfer, ein „ansehnliches weltliches und geistliches Personal“, unterwegs nach dem eidgenössischen Hauptquartier, um das drohende Gewitter von der Stadt abzuwenden. Ihre Aufgabe war keine leichte; in scharfen Worten erinnerten die Berner Hauptleute sie an den Schimpf, den Genf ihrem Schultheissen angetan, und erklärten, dass das eidgenössische Heer nun gekommen sei, jene Gewalttat blutig zu rächen. Schliesslich kam man überein, dass die Genfer den Eidgenossen, mit Einschluss von Freiburg und Solothurn, die Summe von 26,000 Talern entrichten und als Pfand für gewissenhafte Bezahlung vier Bürger als Geiseln stellen sollten. Vor ihrer Heimkehr versicherten sich die schlauen Gesandten noch des Wohlwollens der Hauptleute, indem sie ihnen eine grosse Summe als Geschenk zurückliessen.