Um die Sanders-Mission bzw. die daraus resultierende Krise noch etwas differenzierter betrachten zu können, macht ein kurzer Blick auf die Reaktionen der britischen Administration zur Sanders-Mission bzw. zu Sasonows (AA-Chef in Petersburg) vehementer Abwehr Sinn. Ebenso ein kurzer Sprung in die türkische Situation/Reaktion.
Direkt auf die Liman-Sanders-Krise bezieht sich:
Stephen Schröder, Die englisch-russische Marine-Konvention, 2006:
- II. Abschnitt: Die Genese der anglo-russischen Marinegespräche des Jahres 1914, 1. Kapitel: Der „entscheidende Augenblick": Die Liman von Sanders-Krise als Auslöser der russischen Bündnisinitiative. S. 94 – 117.
British Documents on the Origins of the War (BD), Band X, Part 1, Chapter LXXXVII — Liman von Sanders' Mission, 1913-14 (S. 338 – 423).
Ein kurzer Durchgang lohnt sich hier allemal, besonders am Anfang der Krise, wenn russ. Regierungsvertreter nachhaltig bis vehement oder fast verzweifelt versuchen, britische Regierungsvertreter als die Entente-Partner Russlands von der vorgeblich dramatischen Lage/Bedeutung der Situation zu überzeugen bzw. auf "Linie zu bringen", diese aber nicht so wollen und ausweichen. Das wirkt gelegentlich tragikomisch, wenn sich z.B. ausgerechnet der dem Dt. Reich deutlich abgeneigte AA-Unterstaatssektretärs-Assistent Eyre Crowe Ende Dezember 1913 den nachhaltigen russ. Wünschen /Ansichten des Gegenübers so nicht anschließen kann/will (BD, X, 1, S. 400f.) .
Meine Formulierungen hier haben keine Anspruch auf Vollständigkeit, Fehlerfreiheit und Irrtumsfreiheit.
Der britische AA-Unterstaatssekretär und frühere Botschafter in Petersburg, Nicolson, spricht in British Documents on the Origins of the War (BD), Band X, Part 1, S. 352, am 2.12.1913 einerseits von der sehr ersten Angelegenheit, sofern die Informationen zur Aufgabe der Sanders-Mission zuträfen [zu diesem Zeitpunkt lagen der britischen Seite noch keine exakten, offiziellen Angaben zur Sanders-Mission vor, Anm. von mir].
Andererseits von
"still we should look rather foolish if we took the question up warmly and then found that Sazonof more or less deserted us." […] It is clear that as the question is one in which the German Emperor is personally interested, and as we understand it was really settled on his own initiative without consultation either with the Chancellor or the German Minister for Foreign Affairs, it makes it all the more difficult for Germany to recede."
Der GB-Außenminister Grey schreibt am 11.12.1913, BD, X,1, S. 370f. (Nr. 417) an den GB-Botschafter in Istanbul u.a., dass er die Bedeutung der Sanders-Mission für übertrieben hält. Diese Sichtweise Greys lag zudem nahe, weil er inzwischen darüber informiert worden war, dass die osmanische Flotte unter dem Kommando einen britischen Admirals stand…..
"I am also hampered by discovering that Admiral Limpus has actual command of Turkish fleet in peace time as his two predecessors before him an arrangement that has existed now for several years though I was not aware of it."
Der britische Außenminister war vorher nicht darüber informiert worden, dass der britische Admiral Limpus die türkische Flotte kommandierte. Das ist eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Umstand, dass auch die dt. Regierung bzw. das AA in Berlin nicht von den Militärbehörden bzw. Wilhelm II. als Oberbefehlshaber über den Einsatz von General Liman von Sanders informiert worden war.
Der GB-Außenminister Grey meint weiterhin am 7.1.1904 (BD, X, 1, S. 411) u.a.:
"I told German Ambassador to-day that question of German command at Constantinople was causing me more anxiety than all other questions together. I believed that German Gov[ernmen]t really wished to find some way out of the difficulty and as long as this was so I had urged that there should be no ostentatious demonstration that would make it difficult for German Gov[ernmen]t to come to an arrangement with Russia. German Ambassador confirmed impression that German Gov[ernmen]t want to find a way of satisfying Russia, but said it would take time and meanwhile any demonstration such as a demarche by the Triple Entente at Constantinople would make everything impossible. He indicated some anxiety as to whether a step of this kind was in contemplation."
Genau diese Zeit und Diskretion, um zu einer für Berlin Prestige und Gesicht wahrenden Lösung zu kommen - Prestige, Ehre, Ansehen oder Gesichtswahrung waren politische Größen, die ebenso für kleine, nichtimperialistische Staaten von großer Bedeutung waren, daran kann man also nicht echte oder vorgebliche imperialistische Qualitäten eines Staates festmachen-, gab es von Seiten Sasonows viele Tage keinen Augenblick. Sasonow, der Moskauer AA-Chef, überspitzt und salopp formuliert bzw. betrachtet, setzte viele Wochen unbeirrbar auf eine "Skandalisierung" der Sanders-Mission gegenüber GB. Im AA GB hatte man bereits ab ca. Mitte Dezember 1913 deutlich den Eindruck, dass die Berliner Führung zu einem Kompromiss bereit war, dessen geräuschlose Einfädelung der Moskauer AA-Chef Sasanow mitsamt seinen Spitzendiplomaten viele Wochen verhindert bzw. erschwert hat durch eine Art Krisen-Aktivierung. Zumindest kann man das ausschnittsweise so sehen.
Schröder, Die englisch-russische Marinekonvention, 2006, S. 105, notiert, es wäre für die britischen Außenpolitiker in der Liman-Sanders-Krise schwer erkennbar gewesen, was der sehr erregbare russ. AA-Chef Sasonow eigentlich wirklich wollte.
Zur Türkei:
Soweit ich sehe, wurde im Faden hier im Zusammenhang mit der Sanders-Krise nirgends die Haltung, Position oder Rolle der jungtürkisch geprägten Regierung in Istanbul einbezogen bzw. ihre vorhandene Eigenständigkeit wahrgenommen oder reflektiert.
Der Großwesir in Istanbul wies jedenfalls die Auskunftswünsche der Triple-Entente-Staaten zur Sanders-Mission im Dezember 1913 als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurück.
Die Sanders-Mission gehört m.E. in die Bemühungen der Istanbuler Regierung, nach den erneuten militärischen Niederlagen und Verlusten des Osmanischen Reiches im Krieg mit Italien 1911 – 1912 sowie im 1. Balkankrieg 1912 mit Reorganisationen und Reformen die Funktionsfähigkeit, Militärkraft und Infrastruktur des Osmanischen Restreiches zu verbessern, zu erhalten.
In Nutzung der Rivalität der Großmächte durch die jungtürkisch geprägte Regierung in Istanbul lies diese durch GB die Flotte und z.B. die Justiz sowie eben das Heer mit Hilfe des Deutschen Reiches reorganisieren/reformieren.
Der GB-Botschafter in Wien schreibt etwa sinngemäß dazu am 5.12.1913, BD X, 1, S. 359, Nr. 404, an AA-Chef Grey in London, der Grund für die Sanders-Mission hätte darin gelegen, die beste europäische Methode der Herstellung von Disziplin wie Effizienz für die Osmanische Armee anzuwenden.
- Für die osmanische Marine/Flotte hat Istanbul deswegen die britische Regierung bemüht.
Wobei sowohl die Regierungen in Paris und London am Erhalt des Status Quo des Osmanischen Restreiches interessiert waren, soweit ich sehe. Das Dt. Reich ebenso mit der Tendenz, Istanbul nach dem völligen Zusammenbruch der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan ab 1912 zu stützen. Vielleicht auch, um die ebenfalls geschwundene Vormacht von Ö-U auf dem Balkan damit zu kompensieren und zugleich mit dem osmanischen Rest-Reich einen Gegenpart zum Russ. Reich und dessen scheinbar ausgreifenden Einfluss auf dem Balkan im Fahrwasser des Pan-Slawismus zu erhalten.
Das Argument des möglichen Einflusses von Liman von Sanders auf eine mögliche Sperrung der türkischen Meeresenge für russische Schiffe übersieht ohnehin, dass während der Balkan-Kriege 1912/1913 wohl auch ohne Einfluss von dt. Seite der Schiffsverkehr durch den Bosporus gesperrt gewesen war.
Und mir fehlt bisher bei der Erörterung dieses Punktes, dass das Osmanische Reich bzw. die Türkei schon zuvor seit vielen Jahren in Spannung zum russ. Reich gestanden und diverse militärische Konflikte ausgetragen hatte. Die Schiffsdurchfahrt für russ. Schiffe war ein alter und bedeutsamer Konflikt zwischen russ. Reich und der Istanbuler Regierung, so dass das Argument, die Sanders-Mission hätte im Konfliktfall die Schließung der Durchfahrt beabsichtigt, zu kurz greift und so nicht stimmt. Vor allem die alten und bestehenden Gegensätze, ausgetragen in einer langen Reihe von Kriegen zwischen dem Osmanischen und dem russ. Reich waren es, die die Durchfahrtsmöglichkeit zu einem Streitpunkt gemacht hatten bzw. diese war mit ein Konflikt-Punkt gewesen.
Die Sperrung der Durchfahrt im 1. Weltkrieg ist nicht Ergebnis der Sanders-Mission, die ja schließlich stark entschärft worden war, sondern mehr die Folge des Krieges sowie des alten Gegensatzes mit Russland und der Verbindungen der Jungtürken ins DR, der die Istanbuler Regierung schließlich auf die Seite des "Zweibundes" führte. Immerhin konnten Russ. Reich und Osmanisches Reich auf anscheinend 11 Kriege gegeneinander zurück schauen.