Patient Hitler

2. die zweite Ebene ist die Nachkriegs-Verdrängung von Mitläufern, die eventuell leichter fiel, wenn eine Verführung durch einen "Wahnsinnigen" vorliegt.
oder die zumindest ein teilweise quasi entschuldigendes Moment enthält (so ähnlich, als wenn jemand hinterher sagt, dass man dem Rattenfänger von Hameln seine Absichten nicht ansehen konnte)

Das ist ein sehr interessanter Aspekt der Verarbeitung oder besser gesagt des nachträglichen Zurechtrückens... Der Aspekt der Verführbarkeit, und zwar gar nicht mal im religiösen Sinne durch das Böse (ein uralter Motiv), und mit diesem auch das Motiv der Verführung, der Entrückung, der argen Verzauberung, all das war während der 30er Jahre nicht unbekannt: Herrmann Brochs unvollendeter Roman Bergroman (die Verzauberung) war in Intellektuellenkreisen bekannt, davor aber - schon 1930! - lag Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer vor.
=> zumindest motiv- und literaturgeschichtlich kann man zweierlei feststellen: 1. war man gewarnt und 2. lag das Motiv der "Verzauberung/Verführung" schon vor, ehe es so richtig damit losging...

Jetzt aber passiert etwas ganz verblüffendes: nach 1945 werden die zuvor wenig beachteten Romane von Franz Kafka populär. Und nicht nur das, diese Romane mit ihren allmächtigen undurchdringlichen Bürokratien auf der Handlungsebene zusammen mit ihrem gleichsam mystifizierenden Stil finden Nachahmung, z.B. Kassacks Stadt hinterm Strom.
==> mein Verdacht: die Kafkabegeisterung nach 45 ist eine Form der verdrängenden Verarbeitung oder besser gesagt der Verarbeitung durch Verdrängung und Mystifizierung und symbolische Entrückung - von hier ist es dann keine weite Entfernung mehr zu (etwas platteren) Deutungsmodellen wie (überspitzt gesagt) dass man sich von einem Verrückten hätte an der Nase herumführen lassen
 
Das ist ein interessanter Bezug, für die Erklärungs- und "Verdrängungskultur" nach 1945.

Das Muster vom Patienten Hitler findet man auch bei der Generalität in den Memoiren, in denen von Suggestivkräften geredet wird, die die Grenzen eines normalen Menschen überschreiten. Darin kann man eine Art Dämonisierung finden: unnatürlich, extrem ungewöhnlich, in gewisser Weise entmenschlicht. Diesen Suggestivkräften konnte man demnach sich nicht entziehen, wenn in Hitlers Nähe geriet. Man wurde "umgedreht", womit der Erklärungsansatz passt. Eine Ausnahme bildet hier Manstein, mit seinen fein auf die Verteidigungsstrategie angepassten Memoiren. Der äußert sich zwar stellvertretend und exkulpierend für die "Kollegen" (die den Suggestivkräften erlagen), selbst war er davon allerdings als operatives "Genie" unbeeinflusst.
 
Denn wenn Hitler nicht "verrückt" war, erreicht das Grauen ja eine ganz andere und viel realere Qualität.

In der Folge von Vietnam, den Konflikten im Irak und in Afghanistan stieg vor allem in der US-Army das Vorkommen von "PTBS" dramatisch an. Ähnliches können wir für die Bundeswehr in zunehmendem Maße erkennen.

Posttraumatische Belastungsstörung ? Wikipedia

Diesen Aspekt werden wir vermutlich als "Syndrom" auch für einen nicht geringen Teil der Teilnehmer am 1. Weltkrieg annehmen dürfen. Diese Erfahrung konstituiert damit das "Referenzsystem" der Werte für diese Frontgeneration. Und dieses Referenzsystem ist im wesentlichen durch "Gewalt" und ihre Akzeptanz geprägt, wie bei E. Jünger auch literarisch verarbeitet.

Vor diesem Hintergrund wird auch das Weltbild eines Hitlers mit seinem militanten Sozialdarwinismus deutlich, da die Frage nach "Fressen oder gefressen werden" in den Grabenkämpfen eine tägliche existentielle Frage war und die Bedeutung von "Feindbildern" einen anderen Stellenwert erhalten hat.

Das entschuldigt nicht seine politischen Handlungen, aber es wirft die Frage auf, ob die "Pathologie" nicht ein Merkmal dieser Generation war. Und Hitler ein besonders extremer Exponent dieser gewaltorientierten Sichtweise war. Somit einerseits "pathologisch" im Sinne der Erfahrung der Frontgeneration war und andererseits damit eigentlich "normal", da er der Norm dieser Generation entsprach, sofern man "Norm" als "Mittelwert" definieren.

Das zeigt m.E. dass man mit dieser "psychatrischen Diagnostik" bei Hitler nicht weit kommt, sondern auf die politische Programmatik verwiesen wird und die ideologischen Bezüge, die für die Evolution der NS-Programmatik bereits Anfang der zwanziger Jahre fast vollständig ausformuliert und handlungsrelevant sind. Hitler war ein rationaler, intentionaler, ideologisch motivierter politischer Akteur. Und wurde von der Bevölkerung in seiner Programmatik als "normal" wahrgenommen.

Dass es auch alternative Formen des Umgangs mit seinen Kriegserinnerungen gab, zeigt beispielsweise das Beispiel der USA, das kollektiv dieses Kriegssyndrom des WW1 zu verarbeiten suchte, wie Mosse zeigt. Aber es belegt auch, dass es auch in diesem Fall einen politischen oder sozialpolitischen Handlungsbedarf gab, mit den Kriegserinnerungen der US-Soldaten des WW1 umzugehen.

Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars - George L. Mosse - Google Books
 
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