Ritterlichkeit: Interpretation und Biographien

[…]

Die Anklage lautete auf:
  • Mord an vier Thanner Bürgern im Jahr 1473, die Hagenbach wegen Aufbegehrens gegen neue Abgaben hatte hinrichten lassen;
  • Meineid, da er durch Rechtsbeugung, Plünderung und verschiedenste Gewalttaten seinen Amtseid als Landvogt gebrochen habe, die Gesetze und Statuten der Stadt Breisach zu achten;
  • Verschwörung zum Mord, da er gestanden hatte, er habe vorgehabt, die Bürger von Breisach aus der Stadt zu jagen und alle, die sich zu gehen weigerten, umzubringen;
  • Vergewaltigung von Nonnen und von verheirateten und ledigen Frauen.
Obwohl Basler Bürger, trat Irmy als fairer und kompetenter Verteidiger auf. Er bestritt energisch die Zuständigkeit des Gerichts, da Breisach zum fraglichen Zeitpunkt an Burgund verpfändet war und Karl, nicht Sigismund, oberster Gerichtsherr sei. Das Gericht wies dieses Argument nach einiger Beratung ab, mit dem das heutige Weltrechtsprinzip vorweg nehmenden Standpunkt, dass Hagenbachs Verbrechen nicht bloß Gesetze, sondern göttliche und menschliche Gerechtigkeit an sich verletzt hätten und jedes ordentliche Gericht über ihn urteilen könne.

Irmy stellte den Antrag, weitere Juristen hinzuziehen zu dürfen, dem auch stattgegeben wurde. Sie erarbeiteten eine Erwiderung:
  • Die Thanner Bürger hätten sich gegen ihren rechtmäßigen Herrn Karl von Burgund erhoben und seien reichsrechtlich korrekt, mit Billigung durch Kaiser Friedrich III., hingerichtet worden.
  • Hagenbach habe keinen Meineid begangen, denn die Breisacher hätten nach seiner Amtsübernahme Karl den Lehnseid geleistet. Er, Hagenbach, habe gemäß burgundischem Recht und den Anweisungen des Landesherrn gehandelt.
  • Auf die Anschuldigung der Verschwörung gegen Breisach scheint Hagenbach nichts erwidert zu haben. Sein Verhalten in Breisach, nachdem er dort Quartier genommen hatte, habe jedoch den Anweisungen des Herzogs entsprochen.
  • Auf den Anklagepunkt der Vergewaltigung erwiderte Hagenbach, wenn er in dieser Sache schuldig sei, seien es seine Ankläger ebenso. Die als Geschädigte genannten Frauen hätten aus freien Stücken oder gegen Entgelt mit ihm verkehrt.
Irmy schloss sein Plädoyer mit den Worten: "Peter von Hagenbach erkennt keinen anderen Richter und Herrn an als den Herzog von Burgund, von dem er ernannt und mit Befehlen ausgestattet worden ist. Er hatte kein Recht, die Anweisungen zu hinterfragen, die ihm gegeben worden waren, und es war seine Pflicht, ihnen zu gehorchen. Weiß man hier nicht, dass der Knecht seinem Herrn absoluten Gehorsam schuldet? Glaubt irgendjemand hier, dass des Herzogs Landvogt dem Herzog Vorhaltungen machen oder des Herzogs Anweisungen verweigern durfte?"

Das Plädoyer war so wirkungsvoll, dass Iselin erwog, die Klage zurückziehen. Es folgte ein juristisches Tauziehen, in dem Irmy die Zulässigkeit von Hagenbachs Geständnis anzweifelte, da es unter Einsatz von Folter erlangt worden sei—worauf die Anklage erwiderte, Hagenbach sei im Moment seines Geständnisses gar nicht gefoltert worden. Das Gericht war offenbar nicht bereit, sich dieser Deutung anzuschließen, sodass die Anklage sogar darauf verfiel, Hagenbach Majestätsbeleidigung vorzuwerfen: Seine Amtsführung sei offenkundig auf Unrecht gestützt gewesen, und wenn er sich darauf berufe, dieses Unrecht sei von Herzog und Kaiser gedeckt gewesen, so unterstelle er ihnen, willentlich Recht gebrochen zu haben.

Irmy beantragte daraufhin eine Vertagung des Gerichts und stellte den bemerkenswerten Antrag, Karl den Kühnen um eine schriftliche Erklärung zu bitten, ob Hagenbach befehlsgemäß gehandelt habe oder nicht. Dieser Antrag wurde lange beraten und abschlägig beschieden, mit einem historischen Argument: Selbst wenn Hagenbach derartige Befehle erhalten haben sollte, hätte er das offenkundige Unrecht erkennen müssen. Als Beweismittel dienten sein Geständnis und Zeugenaussagen von Breisacher Bürgern.

Peter von Hagenbach wurde nach langwieriger Beratung für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Daraufhin wurde ihm symbolisch der Ritterstand aberkannt, indem Sigismunds Herold seinen Schild zerbrechen und ihn mit seinem Panzerhandschuh ohrfeigen ließ. Hagenbach bat um die Gnade, durch das Schwert zu sterben, die ihm auch gewährt wurde. Seine letzten Worte waren ebenso interessant wie vorausschauend:

"Ich sorge mich nicht um mein Leben; oft genug habe ich es auf dem Schlachtfeld riskiert. Aber ich beklage das Blut so manchen ehrlichen Mannes, das noch meinetwegen vergossen werden wird. Denn mein ehrwürdiger Herr, der Herzog von Burgund, wird diese Tat nicht ungerächt lassen. Ich bereue weder das Ende meines Lebens noch meines Leibes; ich bitte euch nur darum, mir zu vergeben, was ich getan habe, weswegen ich verurteilt wurde, und noch so manche schlimme Tat mehr. Jene von euch, deren Landvogt ich vier Jahre lang sein durfte, bitte vergebt mir, was ich durch Uneinsichtigkeit oder Bosheit getan habe. Ich bin nur ein Mensch. Betet für mich."

Tatsächlich war Karl der Kühne außer sich vor Zorn. Drei Monate später fiel Peters Bruder Stephan mit 6.000 Burgundern in den Vorlanden ein und verwüstete systematisch die Ländereien, die sich Hagenbach widersetzt hatten. Diese Ausschreitungen waren einer der Auslöser der Burgunderkriege. Peter von Hagenbach jedoch lebte in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung als Monster und Perverser weiter.

Obwohl die meisten Berichte von seinen Gegnern verfasst wurden und im Kontext der Burgunderkriege die Verurteilung Hagenbachs zweifellos stark politisch beeinflusst war, erhielten diese Berichte dadurch an Gewicht, dass burgundische und französische Chronisten wie Philippe de Commynes sich von Hagenbach distanzierten. Bis ins 19. Jahrhundert blieb seine Rezeption ausgesprochen negativ. Noch Henri Martin schrieb in seiner 1833 begonnenen 'Histoire de France', dass Mord und Vergewaltigung Hagenbachs "liebster Zeitvertreib" gewesen seien. Erst in der jüngeren Vergangenheit wird er differenzierter betrachtet.

Die Historikerin Hildburg Brauer-Gramm stellte ihm 1957 in 'Der Landvogt Peter von Hagenbach: die burgundische Herrschaft am Oberrhein 1469—1474' ein gemischtes Zeugnis aus, kein Monster sei er gewesen, habe aber durchaus tyrannische Züge gehabt. 1972 urteilte ihr englischer Kollege Peter Vaughan in seiner Studie 'Charles the Bold: The Last Valois Duke of Burgundy', dass Hagenbach ein "visionärer Reformer" gewesen sei. Alle Bewertungen, die in meiner Quelle zitiert werden, scheinen sich aber einig, dass, selbst wenn die Vorwürfe gegen Hagenbach unberechtigt oder politisch überzeichnet gewesen sein sollten, er ein brutaler, eventuell sexuell sadistischer Mann ohne diplomatische Fähigkeiten war, der seinen Sturz selbst herbeigeführt hat.

In der Völkerrechtslehre wird sein Prozess meist als der erste Kriegsverbrecherprozess der Geschichte genannt—was nicht zutrifft, da die Anklage gerade darauf abstellte, dass in den Pfandlanden Frieden herrschte, und Burgund (noch) nicht im Kriegszustand war. Dennoch wurden heute anerkannte Rechtsgrundsätze formuliert: Dass sich nicht auf Befehle berufen kann, wer krasses Unrecht begeht; dass Vorgesetzte für die Taten ihrer Untergebenen zur Verantwortung gezogen werden können; dass nationale Souveränität nicht der Verurteilung schwersten Unrechts entgegenstehen darf; und dass sexuelle Gewalt ein Mittel der Machtausübung oder Kriegswaffe sein kann und entsprechend zu bestrafen ist.

Es erscheint merkwürdig, dass dieser revolutionäre Urteilsspruch, trotz des lauten zeitgenössischen Echos, lange keine weitere Wirkung entfaltete.

Erst im Wilhelmstraßen-Prozess 1949 zitierte der amerikanische Ankläger Telford Taylor den Hagenbach-Prozess gegen einen Versuch der Verteidigung, die Zuständigkeit des alliierten Gerichts anzuzweifeln und die unzulässige rückwirkende Anwendung von Gesetzen zu behaupten. Seitdem gilt der Hagenbach-Fall als Geburtsstunde des humanitären Völkerrechts. Interessanterweise widmet sich die Juristerei bis heute kaum dem Aspekt, dass zumindest Ansatzpunkte bestehen, in Peter von Hagenbach ein Opfer eines Fehlurteils zu erblicken.

Verwendete Quellen
  • Gordon, Gregory S., The Trial of Peter Von Hagenbach: Reconciling History, Historiography, and International Criminal Law, doi.org/10.2139/ssrn.2006370
 
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Schlussfolgerung

Der Begriff der Ritterlichkeit, das Konzept klarer Verhaltensregeln für Ritter, taucht in vielen Textgattungen und Primärquellen auf. Ich kann keinen Grund erkennen, es rundheraus zu verwerfen.

Aufgrund von Bachrachs eigener Aussage zur Tauglichkeit fiktiver Werke kann ich mich auch nicht seiner Meinung anschließen, Texte wie Malorys 'Le Morte d'Arthur' würden uns keine Rückschlüsse auf die Zeit des Autors erlauben. Da nicht-fiktive Werke (wie die Chroniken Frossairts) eine ähnliche Erwartungshaltung gegenüber Rittern formulieren, sehe ich mich in dieser Haltung bestätigt.

Auch glaube ich, dass Brooks irrt, wenn er meint, Ritterlichkeit wäre einfach nur gleichbedeutend mit Gehorsam und frei von moralischer Konnotation. Zwar mangelt es nicht an Beispielen für Mistkerle mit Ritterschlag, die durch eine einzelne "ritterliche" Tat in unverdient guter Erinnerung bleiben durften.

Andererseits gab es auch Männer wie Ulrich von Kapellen, der während der Schlacht auf dem Marchfeld 1278 von König Rudolf den Befehl erhielt, Ottokar von Böhmen aus dem Hinterhalt heraus anzugreifen, und sich gleich bei den Anwesenden dafür entschuldigte, dass er sich zu einer solch unritterlichen Tat wie einem Hinterhalt hatte breitschlagen lassen.

Auch wenn diese Entschuldigung erst nachträglich erfunden wurde, wie Schneidmüller anzunehmen scheint, zeigt sie doch, dass Ulrich Kritik befürchten musste. Und das wiederum zeigt wohl, dass seine Zeitgenossen durchaus eine Vorstellung davon hatten, was ein Ritter zu tun und zu lassen hatte.

Wie konkret diese Vorstellung war – ob man aus Ordensstatuten, Chroniken und Ritterromanen wirklich eine Art "Ritter-Knigge" destillieren kann –, steht auf einem anderen Blatt.

Da sich aber auch in den Quellen definierte Begriffe wie Courage und Largesse nicht als Alleinstellungsmerkmale des Ritterstands darstellen – mutig sollte jeder Mann sein, freigebig jeder Christ, etc. pp. –, stellt sich mir nicht so sehr die Frage, ob es den Ritterkodex gab, sondern ob er nicht vielmehr deckungsgleich war mit den Verhaltensregeln, die die ständische Gesellschaft insgesamt kannte.

Es fällt mir z.B. auf, dass die Statuten der weltlichen Ritterorden ihren Mitgliedern im Großen und Ganzen nichts abverlangten, das nicht auch die Trinkgesellschaften der Patrizier oder sogar die Zünfte von ihren Angehörigen erwarteten. Freilich ist es möglich, dass sich jene dabei die Wertvorstellungen der Ritter aneigneten, wie sie auch sonst dem Adel nacheiferten, ich kann das nicht beurteilen.

Aber im Endeffekt bliebe es wohl dabei, dass auch der Kaufmann oder Schmied einen hypothetischen "Ritterkodex" inhaltlich auf sich beziehen konnte. War es mithin noch ein Ritterkodex? Nicht einmal das in diesem Zusammenhang häufig genannte Privileg auf ein Lösegeld war wirklich ein "ritterliches", sondern kam allen Adligen zu, auch solchen ohne Ritterschlag.

In der Praxis war nicht einmal blaues Blut vonnöten, im Gegenteil scheint es alltäglich gewesen zu sein, auch Klerikern, Kaufleuten und Akademikern die Auslöse anzubieten; sogar reiche Freibauern kamen bisweilen in diesen Genuss. Und warum nicht, denn wer verzichtet schon auf leicht verdientes Geld? Zum Sterben liegen ließ man jene, die nichts besaßen oder die man besonders verachtete.

Alles in allem habe ich den Eindruck, dass es keinen "Ritter-Knigge" gab, keinen allgemeingültigen Kodex mit zeitlosen Regeln. Allerdings glaube ich durchaus, dass ein Ritter in den Augen der Gesellschaft – und umso mehr in den Augen seiner Standesgenossen – jene Anforderungen übererfüllen musste, die an "Ehrenmänner" gestellt wurden. Mit anderen Worten: dass der Begriff der "Ritterlichkeit" nicht mehr und nicht weniger als den vollkommenen Ehrenmann charakterisiert.

Dabei scheinen sich zeitweise Trends herausgebildet zu haben, die in den Quellen dann besonders betont werden. Sir Thomas Malory etwa redete der Largesse in einer Zeit das Wort, als die Ritter bereits um ihre Einkünfte bangen mussten und allen Grund hatten, den gesellschaftlichen Wandel durch Zurschaustellung von Macht und Reichtum zu verleugnen.

An seinem Beispiel könnte sich zeigen, dass Bachrach wohl insofern Recht haben mag, dass das viel zitierte Ideal von Ritterlichkeit auch die Funktion hatte, Standesunterschiede zu schärfen. Was aber nicht heißt, dass es nicht tatsächlich angestrebt wurde. Ich würde sogar sagen: Die folgenden Kurzbiographien zeigen uns Männer, die sich tüchtig ins Zeug legten, um als ritterlich zu gelten.

Oder dabei kläglich versagten.

Verwendete Quellen (alphabetisch)
  • Bachrach, Bernard S. und David S.: Warfare in Medieval Europe c.400–c.1453, New York 2022
  • Brooks, Shad M. (20.01.2016): “The Truth about Chivalry and the Knight”, YouTube (Link aus bekannten Gründen nicht)
  • Budin, Stephanie Lynn: Le Morte d'Arthur: King Arthur and the Knights of the Round Table, San Diego 2015
  • Hollegger, Manfred: Maximilian I., Herrscher und Mensch einer Zeitenwende, Stuttgart 2005
  • Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1975
  • Loo, Bart van: Burgund: Das verschwundene Reich, München 2021
  • Pastoureau, Michel und Castelbajac, Jean-Charles de: Das große Wappenbuch der Ritter vom Goldenen Vlies, Darmstadt 2018
  • Phillips, Charles: Die Berühmtesten Ritter, Fränkisch-Crumbach 2011
  • Read, Piers Paul: Die Geschichte der Tempelritter, des geheimnisvollen Ordens der Kreuzzüge, Hamburg 2009
  • Schneidmüller, Bernd (Hrsg.): König Rudolf I. und der Aufstieg des Hauses Habsburg im Mittelalter, Darmstadt 2019
  • Varvaro, Alberto: Jean Frossairt: Chroniques de France et d'Angleterre, Brüssel 2015

Ich habe vor unzähligen Jahren mal an einem Haupt-Seminar zum ritterlichen Turnierwesen teilgenommen, ganz interessant fand ich, dass sich am Beispiel von Turnierverboten fast der ganze Verhaltenskodex des adeligen Agons sich auch (bei Turnierverboten) negativ umdeuten ließ.

Die weltlich ere- Vanitas-die Eitelkeit.
Der huohe mut- Superbitas
Das guot- Avaritas-Gier
Die Milte (Mildtätigkeit, Großzügigkeit) Verschwendung.

Wurde eigentlich William Marshall oder Guilleaume de Marechal schon genannt. Der ist insofern bemerkenswert, weil er seine steile Karriere, er diente 5 verschiedenen Königen aus dem Haus Anjou-Plantagenet und stieg auf zum 1st Earl of Pembroke.

Er stammte aus verhältnismäßig bescheidener Familie, und seinen Aufstieg hatte Guilleaume de Marechal vor allem seiner Geschicklichkeit als Turnierkämpfer. Schon bei seinem ersten Turnier in Le Mans gewann er 41/2 Pferde. Marshal tat sich mit geschickten Turnierkämpfern zusammen und klapperte buchstäblich alle namhaften Turniere ab. In einer Saison gelang es ihm und seiner Mannschaft 103 Ritter gefangen zu nehmen, erbeutete Rüstungen und Pferde und knüpfte bei Turnieren wertvolle Kontakte. In seiner ganzen Laufbahn nahm er über 500 Ritter gefangen und erbeutete eine Unmenge Pferde und gewann 12 Frauen. Er erwies sich als überaus loyal, und dank seines Rufes wurde er damit geehrt, dass man ihm als Erzieher der Königssöhne beauftragte, deren Waffenausbildung er leitete.

 
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