Ich weiss wirklich nicht, wie man ernsthaft eine Herkunft der Schwyzer von den Wikingern aufgrund von spätmittelalterlichen Sagen herleiten will. Auch der Apfelschuss, die Teufelsbrücke, das Wildmannli etc. sind Sagen spätmittelalterlichen Ursprungs, wobei Tells Apfelschuss seine Herkunft sogar tatsächlich «hohen Norden» hat. Im Übrigen ist festzuhalten, dass sämtliche diesbezüglichen mittelalterlichen Sagen der Thematik «Herkunft» sich vornehmlich auf Schweden und Friesen (wobei sich gewissermassen als Gegenentwurf auch Römer darunter befinden) beziehen – und ich bezweifle, ob die eidgen. Gelehrten, geschweige denn das «gemeine Volk», in welchem die Sagen kursierten, überhaupt wussten, dass Schweden eigentlich Wikinger sind resp. ob sie überhaupt wussten, was Wikinger sind.
Die erste schriftliche Fixierung der «Herkunft der Schwyzer und Oberhasler» ist eine obskure anonyme Schrift aus den 50er oder 60er Jahren des 15. Jahrhunderts, die die im Mittelalter üblichen Analogieschlüsse und Verwurzelungsversuche in die Vergangenheit mit ihren phantastisch anmutenden Behauptungen noch weit übertrifft. Als Verfasser dieser Schrift wird gelegentlich Elogius Kiburg (1439 – 1506) vermutet. Ein weiteres Traktat ähnlichen Inhalts mit Beschränkung auf Schwyz – das «Herkunft der Schwyzer» – konnte als Schrift von Heinrich von Gundelfingen (1440 / 1450 – 1490) nachgewiesen werden, wurde aber eine Zeitlang auch Hans Fründ (nach 1400 – 1468 / 1469) zugeordnet. Dass die Herkunftsmythen gerade in jener Zeit schriftlich in Erscheinung traten ist meiner Meinung kein Zufall sondern im Zusammenhang mit dem Alten Zürichkrieg zu interpretieren, in welchen in der Konfrontation zwischen Zürich/Habsburg und Schwyz/Eidgenossenschaft eben auch Ideologie eingesetzt wurde (im selben Zeitraum erklärte Felix Hemmerli, der auf Seiten Zürichs stand, die Vorfahren der Schwyzer zu von Karl dem Grossen verbannte Sachsen).
Im «Herkommen» heisst es, in Schweden und in Ostfriesland, sei wegen einer grossen Hungersnot jeder zehnte Einwohner durch das Los zur Auswanderung gezwungen worden. Darauf hätten sich 6’000 Schweden und 1’200 Friesen auf den Weg gemacht; sie seien den Rhein hinaufgezogen, hätten unterwegs ein wenig mit den Franzosen gekämpft und sich schliesslich mit Erlaubnis der Grafen von Habsburg in der Gegend des Pilatus niedergelassen. Die schwedischen Häuptlinge Swytherus und Remus (!) seien mit ihren Leuten bis in die Gegend von Schwyz vorgedrungen und der Friese Wadislaus sogar bis ins obere Aaretal, dem er in Anlehnung an den Namen der Friesenstadt Hasnis die Bezeichnung Hasli gegeben habe.
Bei der Beweisführung zu dieser recht sensationellen Herkunftsbezeichnung scheint der Verfasser, gelinde gesagt, etwas unaufmerksam gewesen zu sein. Quellen, die er benützt, unterschlägt er nämlich, und solche, die er zitiert, hat er überhaupt nicht ausgewertet. Was weiter nicht erstaunlich ist, denn beweisen lässt sich eine solche Mixtur aus Volkssage und gelernten Vermutungen natürlich nicht. Immerhin kann zur Entlastung des Chronisten darauf hingewiesen werden, dass er sich zumindest nicht alle Behauptungen aus den Fingern gesogen hat. Denn mit grosser Wahrscheinlichkeit griff er auf eine damals bereits verbreitete Volkssage über die skandinavische Abstammung eines Teiles der Innerschweizer zurück, die verschiedene gelehrte Schriftsteller jener Zeit auch für andere germanische Völker annahmen. Was schliesslich gar nicht so abwegig war – schliesslich stammt bekanntlich ein Teil der Germanen (Goten, Burgunder, Langobarden) tatsächlich aus dem hohen Norden.
Jedenfalls fanden die «Herkommens-Sagen» auch Eingang in die verschiedenen spätmittelalterlichen Chroniken, so beispielsweise im 1470 / 1480 entstandene «Weisse Buch von Sarnen» (wo auch Tell und die Befreiungssage erstmals erwähnt wird) oder 1507 in der ersten gedruckten Chronik der Eidgenossenschaft von Petermann Etterlin. Vor allem die mittelalterlichen Schwyzer waren fest davon überzeugt, dass sie wirklich von den Schweden abstammten. Denn am Ostermontag des Jahres 1531 beschlossen sie an ihrer Landsgemeinde höchst offiziell, dass in Erinnerung an die grosse Hungersnot und die Austreibung aus Schweden alle Einwohner ein Gebet zu verrichten hätten. Der Chronist Johannes Stumpf weiss (1548) überdies zu berichten, dass sich Schwyzer und Schweden überall als Landsleute begrüsst hätten. Und der Schwedenkönig Gustav Adolf berief sich in einem Bündnis von 1631 ebenfalls hochoffiziell auf diese Blutsverwandtschaft mit einem ausgewanderten Teil seines Volkes. Auch Schiller legt in der Rütliszene des „Wilhelm Tell“ dem Stauffacher die Sage von der nordischen Abstammung der Schwyzer in den Mund, die damit sogar zum höchsten literarischem Ruhm gekommen ist.
Leider stammen die Schwyzer trotz Landsgemeindebeschluss und verwandschaftlichem Schulterklopfen mit schwedischen Touristen natürlich ebenso brav von den Alemannen ab wie ihre Nachbarn. Ihre Metamorphose in echte Schweden verdanken sie wie erwähnt tatsächlich nur der im Mittelalter sehr gebräuchlichen etymologischen Erklärung sonst unverständlicher Namen. Dies führte eben dazu, dass ein wahrer Künstler auf dem Gebiet der Worterklärung (ob Gundelfingen auch der der ursprüngliche Erfinder war ist nicht zwingend) die Bewohner von „Suicia“ kurzerhand von den Auswandernden aus „Suecia“ herleitete und damit zu ihren direkten Nachkommen erklärte.
Die Berichte über das Herkommen sind voller Legenden. In verschiedenen Malen ist dabei in die Bildungsschicht der Bevölkerung gesunkenes gelehrtes Wissen in Beziehung zueinander gebracht worden. In der Welt der Geistlichkeit muss auf Grund der Lautähnlichkeit der lateinischen Bezeichnung für Schwyz und Schweden die Herleitung der Schwyzer aus diesem nordischen Land entstanden sein. Es ist zu vermuten, dass als ältester Kern eine historische Überlieferung über eine Einwanderung in die Waldstätte vorhanden gewesen sein dürfte. Schon am Anfang des 15. Jahrhunderts haben sich diese Elemente mit den mittelbar aus Chroniken stammenden Berichten über eine Auswanderung aus Nordeuropa verbunden, die auf eine Überbevölkerung zurückging. Geschichtsschreiber des 15. Jahrhunderts haben dann diese Auswanderung von Schweden nach Schwyz ausgeschmückt, mit einer gleichzeitigen Wanderung von Friesen nach Hasli verbunden oder durch eine Ansiedlung von Hunnen oder Sachsen ersetzt.
Eine weitere Sage, die sich nicht im „Herkommen“ findet, sich jedoch ebenfalls auf die schwedische Herkunft der Schwyzer beruft, möchte ich hier wiederholen:
Gemäss der Sage von Swito und Swen erreichten die schwedischen Auswanderer unter ihren Häuptlingen und Anführer, den Brüdern Swito, auch Swyt, Switerus oder Schwytter genannt, und Swen, auch Schej genannt, das Land an den Mythen, wo sie sich, entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, nach Rom zu gelangen, niederzulassen gedachten. In der Folge kam es zu einem Streit der beiden Anführer, wie die neu eroberte Gegend zu benennen sei. In dem ausbrechendem Zweikampf behielt Swito die Oberhand und Swen wurde getötet, weshalb die Gegend den Namen des siegreichen Swito erhielt und demgemäss als Schwyz bezeichnet wurde. Hätte Swen gewonnen wären heute die Schweizer wohl Swenen – wurden doch, wenn ich mich richtig erinnere, vor einigen Zeit hier im Forum auch die Serben als mögliches Urvolk der Schwyzer ins Spiel gebracht.