Science Fiction und Zukunftsvisionen vor 100+ Jahren

Kurd Laßwitz wurde ja bereits erwähnt. In seinem Roman 'Auf zwei Planeten' beschrieb er schon 1897, ein Jahr vor H.G. Wells' 'Krieg der Welten', eine Invasion vom Mars. Der Roman liest sich heute übrigens als ein interessanter Kommentar zum damaligen Kolonialismus, denn die 'Martier', wie sie bei Laßwitz heißen, sind nicht nur einfache Eroberer, sondern errichten auf der Erde eine Art Erziehungsdiktatur, um die Menschheit zu ihrer vermeintlich höheren Zivilisationsstufe emporzuheben, ganz im Sinne der 'White Man's Burden'-Ideologie der zeitgenössischen Kolonialherren.

1911/12 erschien der Roman 'Ralph 124C 41+' von Hugo Gernsback. Darin werden allerhand technische Erfindungen beschrieben, die später tatsächlich realisiert wurden. Der Roman erschien bezeichnenderweise in Fortsetzungen in einer Technikzeitschrift.

1908 hatte der russische Autor Alexander Bogdanow den Roman 'Der rote Stern' veröffentlicht. Bogdanow war Arzt, Philosoph und Revolutionär, nach der Revolution 1917 war einer der Begründer der Proletkult-Bewegung in Rußland. Ein russischer Revolutionär gelangt auf den Mars, auf dem sich eine kommunistische Gesellschaft entwickelt hat. Hier stehen nicht technische Entwicklungen, sondern eine soziale Utopie im Mittelpunkt.

Vor dem Hintergrund der konkreten Erfahrung der russischen Revolution schrieb Jewgenij Samjatin 1920 den Roman 'Wir', der als Vorläufer von 'Brave New World' und '1984' gilt. Samjatin war auch Revolutionär gewesen, aber von der politischen Entwicklung nach 1917 tief enttäuscht. In 'Wir' schildert er die Dystopie einer total durchrationalisierten Gesellschaft, in der die Menschen nur noch Nummern tragen, in gläsernen Behausungen leben und sogar ihr Sexualleben nach Analyse des Hormonhaushalts durch Ausgabe von 'rosa Billets' reglementiert wird. Abweichungen von der Norm werden von den 'Beschützern' aufgespürt und eliminiert. Bogdanows sozialistische Utopie kippt hier um in einen Alptraum.

Ungebrochen ist der Zukunftsoptimismus dagegen noch in Edward Bellamys 1887 erschienem Roman 'Looking Backward' , dt. 'Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf das Jahr 1887'. Die Hauptfigur fällt 1887 in einen hypnotischen Schlaf und erwacht im Jahr 2000, wo ihm die technischen und sozialen Errungenschaften vorgeführt werden. Das Buch hatte nach seinem Erscheinen eine ungeheure Wirkung, es entstanden Gesellschaften zu seinem Studium und diverse Parodien, auch in Deutschland, wo mehrere Übersetzungen erschienen, darunter auch von Clara Zetkin.

1907 erschien der Roman 'The Iron Heel' von Jack London. Darin entwickelt sich in den USA die Tyrannei einer kapitalistischen Oligarchie. Europa wird hier schon früh sozialistisch, in den USA dagegen erst nach Jarhunderten der Unterdrückung die 'Brotherhood of Man' errichtet.

Eine politische Kampfschrift in utopischem Gewand war das Buch 'Sozialdemokratische Zukunftsbilder – frei nach Bebel', das der liberale Politiker Eugen Richter 1891 veröffentlichte. Darin wird ein sozialistisches Deutschland geschildert, das bisweilen erstaunliche Ähnlichkeit mit der realen DDR hat, inklusive Mangelwirtschaft und Schießbefehl an die Grenzsoldaten, um Republikflüchtige zu stoppen.
 
Da muss ich doch gleich noch einmal Erich Kästner zitieren. In seinem Buch "Der 35. Mai" schrieb er:

... Ein Herr, der vor ihnen auf dem Trottoir langfuhr, trat plötzlich aufs Pflaster, zog einen Telefonhörer aus der Manteltasche, sprach eine Nummer hinein und rief: “Gertrud, hör mal, ich komme heute eine Stunde später zum Mittagessen. Ich will vorher noch ins Laboratorium. Wiedersehen, Schatz!” Dann steckte er sein Taschentelefon wieder weg...

Das war 1932. Ein früher Hinweis auf das Handy.
 
michaell hat ja schon eine beeindruckende Literaturliste aufgestellt - da bleiben mir nur noch Ergänzungen übrig:
Karel Capek (R.U.R.; Krakatit; der Krieg mit den Molchen) und seine Werke aus den 20er Jahren, mit Robotern (der Begriff soll auf seinen Bruder zurückgehen), Atomkraft u.v.a.
Alfred Döblin [sic] "Berge, Meere, Giganten", utopischer Roman

in der russ. Literatur hatte sich der Begriff "technische Fantastik" eingebürgert, bezeichnet Science Fiction mit speziellem Interesse an technischem Fortschritt.
 
Bisher ganz vergessen von mir:
ein Beispiel für ganz frühe "Science Fiction" von Edgar Allan Poe ist die Geschichte "Das unglaubliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall" aus dem Jahr 1835, in der ebenfalls die Mondreise thematisiert wird.
Hier eine Interpretation:
epilog.de - Edgar Allan Poes »Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall«

Natürlich kann man darüber streiten, inwieweit das "Science Fiction" ist, denn in der Pointe entlarvt Poe die Erzählung seiner Figur Pfaall augenzwinkernd als Schwindelei. Der "Science"-Teil ist dafür sehr umfangreich, denn Poe "errechnet" in der Geschichte unter anderem die Entfernung zum Mond.
 
Ein noch viel früheres Beispiel einer Geschichte über eine Reise zum Mond gibt es sogar schon aus der Antike: Lukian von Samosata schrieb den satirischen Dialog "Ikaromenippos e Hypernephelos", in dem er u. a. die antiken Reiseberichte sowie diverse wissenschaftliche Spekulationen über das Universum parodiert. Auch in seinem zweiteiligen satirischen Roman "Wahre Geschichte" ("Alethon Diegematon"), ebenfalls eine Parodie auf unglaubwürdige Reiseromane, ging es u. a. um eine Reise ins Weltall mitsamt einem dort stattfindenden Krieg.
Im "Ikaromenippos" gab er die Entfernung Erde-Mond mit gerade einmal 3.000 Stadien (also ca. 540 km) an, die Entfernung Mond-Sonne mit 500 Parasangen (ca. 2.700 km). Aber natürlich meinte er diese Angaben nicht wissenschaftlich-ernst.
 
kurios auch:
Wilhelm von Meyern Dya Na Sore
Karl May Ardistan und Dschinnistan
beides utopische Romane (allerdings keine Science Fiction)
 
Was für Zukunftsvisionen hatten unsere Vorfahren noch? Ab wann gab es Science Fiction Literatur und wie sah die aus?
Mercier hat 1769 - also zwanzig Jahre vor der Frz. Revolution - einen Roman verfasst, wie er sich das nachrevolutionäre Paris vorstellte. Dieses allerdings verlegte er weit in die Zukunft, in das Jahr 2440. Die erste deutsche Übersetzung davon erschien bereits 1772.
 
Vorläufer des Science-Fiction sind Utopien und Robinsonaden. Die Handlung beginnt meistens mit einem Schiffsbrüchigen, den aus auf eine ferne Insel der Glückseligen verschlägt, auf der alles besser oder wenigstens ist. Frühste Vertreter sind die Humanisten Thomas Morus mit "Utopia" und Francis Bacon mit "Neu-Atlantis" im 16. Jahrhundert.

Eine interessante Variante findet sich in Jules Vernes "20.000 Meilen unter dem Meer". Hier beginnt die Handlung auch mit einem Schiffbruch, aber der Schiffsbrüchige landet hier auf einem phantastischen U-Boot, die zum Ort der Utopie oder Dystopie wird.

Wenn die Flecken auf der Landkarte immer kleiner wurden, funktionieren diese Varianten des Reiseromans oder der Robinsonade nicht mehr und es muss den Protagonisten auf ferne Planeten oder in ferne Zeiten verschlagen.
 
Vorläufer des Science-Fiction sind Utopien und Robinsonaden. Die Handlung beginnt meistens mit einem Schiffsbrüchigen, den aus auf eine ferne Insel der Glückseligen verschlägt, auf der alles besser oder wenigstens ist. Frühste Vertreter sind die Humanisten Thomas Morus mit "Utopia" und Francis Bacon mit "Neu-Atlantis" im 16. Jahrhundert.
Das gab es schon in der Antike: Ein gewisser Iambulos (der oder dessen Werk sich nicht näher datieren lassen, außer dass sie aus der Zeit vor Diodor, der es wiedergibt, stammen müssen; möglicherweise war Iambulos auch nur der Protagonist eines von einem anderen Autor stammenden Textes) schrieb über seine Reise zu einer Insel, die eine Art Utopia war, im Indischen Ozean.

Auch Platons Atlantis-Beschreibung hat etwas von einer Art Utopia.
 
1910 erschien das Buch "Die Welt in 100 Jahren".
Daran haben sich viele Autoren beteiligt. Von der Bertha von Suttner bis zum Carl Peters (der Sadist "Hängepeters" der einen entsprechend blödsinnigen Beitrag verfasst).
Es gibt da m.E. zwei Autoren die unsere gegenwärtige Welt gut treffen.

Der eine ist Robert Sloss, von dem keiner recht weiß wer er eigentlich war. Ein amerikanischer Journalist? Jedenfalls beschreibt er die Welt der Handys. Egal wo du bist, Bus, Bahn oder Flugmaschine, immer kannst du dich mit einem beliebigen Teilnehmer eines beliebigen Ortes der Welt mit einem kleinen Handgerät verbinden.

Der andere ist der Sozialdemokrat Eduard Goldstein der das soziale Miteinander unserer Gegenwart erstaunlich genau beschreibt.

Die Welt in hundert Jahren : Lübbert, Ernst, 1879-1915 : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive
 
Letztens sah ich Die Zeitmaschine (die Verfilmung von 1960). Da ich das Buch (1895) nie gelesen habe, kann ich mir die Veränderungen des Films gegenüber seiner Vorlage nur zusammenreimen (WKI und II kommen vor). Auf jeden Fall geht unsere Welt in dem Film in einem Atomkrieg unter, der irgendwann bald nach 1960 passiert* und eine vulkanische Kettenreaktion auslöst. Im Jahr 8xxxx erlebt der Protagonist dann zunächst eine Utopie mit den Eloi, die sich dann aber allmählich als Dystopie herausstellt, denn die scheinbar im Paradies/Schlaraffenland lebenden Eloi sind gegenüber dem Tod gleichgültig und letztlich nur noch das Vieh der Morlocks, welche sich von ihnen ernähren. Sie sind die Nachfahren der Jetztmenschen, wobei die Eloi uns (zumindest im Film) äußerlich sehr ähnlich sind, die lichtempfindlichen Morlocks aber gedrungen und häßlich.

*Das ist gewissermaßen der Kommentar von Drehbuchautoren und Regisseuren zu ihrer Zeit, und das zwei Jahre vor der Kubakrise, später erfahren wir, dass der Krieg zwischen Ost und West dreihundertpiependeckel Jahre währte.
 
Kernkraft-SciFi vor hundert Jahren

Anfang 1914
wird „A World Set Free“ von H.G. Wells veröffentlicht.
Wells beschreibt die Entwicklung der Menschheit von deren kargen Beginn zu immer höherer Erkenntnis und Fähigkeit im Stil einer populärwissenschaftlichen Geschichtsschreibung.
Fließend geht er davon über die Gegenwart in die Fiktion der Zukunft über.
Der radioaktive Zerfall war bereits bekannt, und Wells fantasiert, dass es technologisch möglich sein werde diesen nahezu nach Belieben zu beschleunigen. 1943 gelingt der Durchbruch und alsbald revolutioniert diese Methode die Energiegewinnung.
Selbst Automobile und Flugzeuge werden von der Atomkraft vorangetrieben.
1956 bricht ein Krieg aus und auch das Militär hat nun Atomwaffen („atomic bomb“ das nennt er wirklich so). 1959 sind die Hauptstädte der Welt im Atomfeuer verglüht und mit ihnen hundert andere Metropolen.
Die gesamte Infrastruktur ist international zusammengebrochen und eine neue Weltordnung muss geschaffen werden.
Das ist schon eine geile Story, geschrieben 1913. (Deutscher Titel: „Befreite Welt“)
Doch leicht liest sich das nicht.
Denn aus jeder Seite, ja manchmal fast aus jedem Satz, fließt der schwere Pathos des Bedeutsamen.
Aber wie gesagt eine echt geile Story (nur Scheiße geschrieben, wenn ich mir diese subjektive Bemerkung erlauben darf).

1922 (lassen wir es gelten im Sinne der Hundert Jahre, denn geschrieben wurde der Roman ja schon vorher) erscheint von Carel Capek „Das Absolutum oder die Gottesfabrik“
Und das ist nun wirklich skurril hintergründig und lustig. Der Ansatz ist pantheistisch:
Wenn Gott in allem gebunden ist, dann doch insbesondere auch in der Materie.
Wandelt man diese Materie gänzlich in Energie um (E = mc^2, Einstein 1915) dann entsteht Gott, das Absolutum.
https://deutsch.radio.cz/das-absolu...k-karel-capeks-albtraum-vom-befreiten-8574120
Solche Maschinen für die Energiegewinnung werden nun erfunden und zahlreich gebaut.
In deren Umgebung bricht eine Heiligkeit unter den Menschen aus, die alles in Frage stellt.

Vergleiche ich Capek mit Wells, so finde ich Capek weit vergnüglicher und gewiss nicht weniger tiefgründig.
Tolle SciFis haben beide geschrieben zum Thema Kernkraft vor 100+ Jahren.
 
Letztens sah ich Die Zeitmaschine (die Verfilmung von 1960). Da ich das Buch (1895) nie gelesen habe, kann ich mir die Veränderungen des Films gegenüber seiner Vorlage nur zusammenreimen (WKI und II kommen vor). Auf jeden Fall geht unsere Welt in dem Film in einem Atomkrieg unter, der irgendwann bald nach 1960 passiert* und eine vulkanische Kettenreaktion auslöst. Im Jahr 8xxxx erlebt der Protagonist dann zunächst eine Utopie mit den Eloi, die sich dann aber allmählich als Dystopie herausstellt, denn die scheinbar im Paradies/Schlaraffenland lebenden Eloi sind gegenüber dem Tod gleichgültig und letztlich nur noch das Vieh der Morlocks, welche sich von ihnen ernähren. Sie sind die Nachfahren der Jetztmenschen, wobei die Eloi uns (zumindest im Film) äußerlich sehr ähnlich sind, die lichtempfindlichen Morlocks aber gedrungen und häßlich.
Den Film habe ich als Kind gesehen, ich war total beeindruckt. Der Zeitreisende fragt nach Büchern, ihm wird ein verstaubtes Regal gezeigt, die Bücher zerfallen, als er mit der Hand durchs Regal streift.
Am Filmende kommt der Held noch mal in seine Gegenwart, zieht drei Bücher aus seinem Regal, und verschwindet wieder zu den Eloi. Die Zurückgeblieben fragen sich, welche drei er wohl mitgenommen hat. Darüber habe ich vor kurzem noch mal nachgedacht.
 
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