Nun, derart befragt, nehmen wir die Zitate doch mal unter die Lupe:
"Sex galt als Geschenk der Götter, eine Gabe von Venus, der Schirmherrin der Liebe, des Verlangens, der Schönheit. Es war wichtig und richtig, viel Sex zu haben, und lustvoll musste er sein, weil man nur so gesunde und kräftige Kinder zeugen könne. Außereheliche Ausschweifungen waren gang und gäbe, aber nur mit Sklaven, Freigelassenen, Ausländern. Sich daheim mit einer Prostituierten vergnügen, während nebenan die Gattin stickt? Kein Problem. Ein Tête-à-Tête mit der noblen Nachbarin? Niemals! Schließlich hätten dabei erbberechtigte Nachkommen gezeugt werden können."
Den ersten Satz fassen wir mal als Allgemeinplatz auf. In einer stark religiösen Gesellschaft ist jede Lebensäußerung von göttlichen Kräften durchdrungen.
Schon beim zweiten Satz fragt man sich, was hier die Aussage sein soll? Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis, weit über den biologischen Auftrag zur Erhaltung der Art hinaus. Nahezu jeder Mensch (wenn er nicht gerade Nonne oder Mönch ist, und selbst dann ...) wird versuchen, soviel Sex wie möglich zu haben. Nähe, Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit usw. treten uns in den meisten Kulturen, soweit sie sich schriftlich äußern, als erstrebenswerte Ideale entgegen.
Insofern sind die Worte "wichtig und richtig" irreführend und kennzeichnen auch nicht die römische Kultur, da es ja auch in anderen Kulturen nicht falsch oder unwichtig ist und war.
Der Sex mußte also lustvoll sein? Abgesehen davon, daß hier ein merkwürdiger Befehlston gebraucht wird, ist doch die Frage, für wen? Erstmal vorrangig für den Mann, oder? Wenn dem der Sex nämlich keine Lust bereitet, was für den Sex eigentlich eine Grundbedingung ist (wenn wir einige Spielarten mal außer acht lassen), dann ist es mit der Erektion schnell vorbei, und zum Orgasmus kommt es auch nicht mehr (wenn wir jetzt mal den Koitus als zentrale Aktion der Sexualität ansehen). Gilt das Lustprinzip aber generell? Für die Vierzehnjährige, die mit jemanden verheiratet wird, den sie in der Regel gar nicht kennt und der auch nie ihre Einwilligung erfragte? Für einen Sklaven oder eine Sklavin, die generell ihrer Herrschaft ausgeliefert waren? Für jemanden, der seinen Körper auf der Straße verkauft, um sich so seinen Lebensunterhalt zu sichern? Das Lustprinzip ist also eine sehr einseitige Forderung.
"Außereheliche Ausschweifungen waren gang und gäbe, aber nur mit Sklaven, Freigelassenen, Ausländern."
Schon das Wort Ausschweifungen ist sehr suggestiv, denn hier wird nicht nur ein einfacher außerehelicher Verkehr angedeutet, dem Leser soll ein ungleich opulenteres Bild vor Augen entstehen. Nun ist es aber so, daß die Mehrzahl der Menschen in kleinen Siedlungen und Städten lebten, wo die soziale Kontrolle sehr hoch gewesen sein muß, da ja jeder jeden kannte. Städte wie Rom, Antiochia oder Alexandria waren die Ausnahme. "Gang und gäbe"? Was heißt denn das? Jeden Tag? Jeder mit jedem? Auch hier wird wieder dramatisiert.
"Nur mit Sklaven, Freigelassenen und Ausländern" Eine hohle Phrase. Das Sklaven den Wünschen ihrer Herren ausgeliefert waren, ist bekannt. Allerdings hat sich das Bild der antiken Sklaverei doch sehr modifiziert in den letzten Jahrzehnten, und gerade die Sklaven, die im Hause der Herren lebten, stellten eine sehr differenzierte und durchaus nicht immer nur willenlos-unselbständige Gruppe dar. Aber Freigelassene? Wenn ein Sklave Freigelassener wird, bekommt er in der Regel das römische Bürgerrecht, symbolisiert durch die Übernahme des Namens seines alten Herren, dem er durch das Patronagesystem gewöhnlich auch verbunden bleibt. Wir kennen viele Freigelassene, die sich danach hocharbeiten, die also einen wichtigen Aspekt der römischen "Mittelschicht" ausmachen, wenn wir mal von den horrenden Vermögen mancher kaiserlicher Freigelassener absehen. Die intergrieren sich voll in das römische Wertesystem, auf jeden Fall sind sie kein Freiwild, an dem sich nun der sexuelle Appetit eines anderen Römers gütlich tun konnte.
Und wer sind denn nun die Ausländer? Touristen etwa? Wer im römischen Reich nicht das Bürgerrecht besaß, galt, wenn er ein Freier war, als sogenannter Peregriner, doch auch damit war er keineswegs rechtlos, er war aber auch kein Ausländer. Nach solchen Kategorien differenzierte man gar nicht. Das Bürgerrecht war ausschlaggebend, nicht, wo jemand herkam. Wurden entsprechende Differenzierungen vielleicht in der Republik noch restriktiv gehandhabt, so löste sich da in der Kaiserzeit viel auf.
Sich daheim mit einer Prostituierten vergnügen, während nebenan die Gattin stickt? Kein Problem. Ein Tête-à-Tête mit der noblen Nachbarin? Niemals! Schließlich hätten dabei erbberechtigte Nachkommen gezeugt werden können."
Nun, auch da wird ein modernes Bild übergestülpt. Holt sich der Römer eine Prostituierte nach Hause, oder geht er in ein Bordell oder vergnügt sich in einer Taverne mit einem Schankmädchen, welches oft, entweder als Sklavin oder aus Armut, auch solche Dienste anbieten muß.
Und wer ist die noble Nachbarin? Hier ist wohl nicht unbedingt eine Frau aus der Nobilität gemeint, aber was bedeutet "Niemals!"? Gab es so etwas denn nicht? Ehebruch war strafbar und gerade deswegen, weil es so oft thematisiert wurde, recht häufig. Sex mit einem Sklaven war aber kein Ehebruch.
Insgesamt also bleibe ich bei meiner Einschätzung. Der Geo-Autor hat sich einen Text geschustert, der durch gesteigerte Dramatik Aufmerksamkeit erregen soll. Der Leser liest ganz aufgeregt mit roten Ohren und denkt sich: Toll trieben es die alten Römer, obwohl in vielen Bereichen nur ein ganz normales Verhalten nachgewiesen werden, welches die römische Kultur nun nicht einzigartig macht und auch nicht als "ständig nur den Orgien und Ausschweifungen hingegeben" charakterisiert.
Wenn man so etwas schreibt, um zu unterhalten: Gern. Wenn man aber historisch-realistisch die römische Kultur charakterisieren will: Daneben.
Und wenn wir schonmal dabei sind, schauen wir uns auch den anderen Teil mal kurz an:
"In den ersten, kriegerischen Jahrhunderten nach der Reichsgründung waren auch im alten Rom die Sitten streng: Kinder wurden von ihren Eltern verheiratet, ein Mann durfte seine untreue Frau und ihren Liebhaber töten. Doch im zweiten Jahrhundert vor Christus eroberte Rom das griechische Reich, die Sitten lockerten sich. Homosexualität und Knabenliebe kamen in Mode, genau wie die Liebesheirat. Scheidungen wurden erleichtert. Auch Frauen durften verführen, "erlangten eine solche Autonomie und Freiheit, wie sie erst wieder ab den siebziger Jahren herrschte", schreibt der italienische Autor Alberto Angela."
Welche Reichsgründung? Was sind die ersten, kriegerischen Jahrhunderte? Wenn der Autor nun ins 2. Jh. v. Chr. kommt, meint er zuvor die Stadtgründung? Da sind die Sitten also streng? Toll, was wissen wir denn so über das siebente, sechste, fünfte Jh. über das Sozialleben in Rom? Und warum sind die ersten Jahrhunderte kriegerisch? Danach herrscht Frieden? Krieg gegen Karthago, Bundesgenossenkrieg, Krieg gegen Mithridates, Bürgerkriege? Und da lockerten sich nun die Sitten?
Was denn das "Griechische Reich" sein soll, das wage ich gar nicht zu fragen. Da hat der Autor einfach mal grob alles zusammengepackt.
Homosexualität kommt genausowenig in Mode wie die Knabenliebe, Homosexualität ist auch keine Mode, sondern Ausrichtung, die man entweder hat oder nicht. Die Frage ist, ob man sie ausleben darf oder nicht, und auch da ist sie im römischen stets verpönt, wird mit Spott bedacht, ob sie rechtlich verfolgt wird, ist umstritten. Seine sexuelle Gier an jugendlichen Sklaven auszulassen scheint verbreitet gewesen zu sein, ist aber auch keine Übernahme aus dem Griechischen, sondern auch der römischen Kultur immanent, wie gesagt, Sex ist ein Bedürfnis, das ausgelebt werden will. Wer sich aber mit erwachsenen Männern einließ, überschritt eine gewisse Grenze.
Die Liebesheirat kam auch nicht "in Mode", sie blieb ein Idealbild in der Literatur wie eine Randerscheinung in der Realität, auch später entscheidet der Vater, wen sein Kind heiratete.
"Auch Frauen durften verführen", ja, war das denn nun gesetzlich erlaubt, oder was heißt das? Frauen haben auch schon vorher verführt, und wenn die Folgen der Verführung regelwidrig waren, Ehebruch also, dann wurde das zuvor genauso geahndet wie später auch.
Auch hier gilt: Plakative Überspitzung, die mit den Gelüsten des Lesepublikums spielt, welches sich eine lustvolle antike Gesellschaft wünscht, ohne daß der Einzelfall einer Prüfung standhält. Daneben.
Übrigens, der Verweis auf Wikipediaartikel ist immer ganz nett, stellt aber keine Beweisführung dar, die Wikipedia ist ja nicht die definierte Wahrheit. Insofern erlaube ich mir mal, die von Megatrend verlinkten Artikel nicht als Gegenbeweise zu sehen und entsprechend zu thematisieren (Das wird sonst zu viel)