Soziale Kontrolle

...Es wäre interessant, diese Dynamik und ihre Mechanismen besser zu verstehen, denn schließlich wären sie dann ja universell, könnten also auch an anderer Stelle eskalieren...
ist ja auch schon vielfach passiert. Ich denke da an die Hugenotten, die Juden, usw.

Kann man zum Beispiel die Judenverfolgung im 3. Reich mit dem Hexenwahn vergleichen? Gibt es da Paralellen oder spielten da ganz andere Mechanismen?


Gruss Pelzer


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Ich finde es durchaus wichtig, zu erkennen, dass unsere gesellschaftlichen Strukturen in der Lage sind, eine Eigendynamik zu entwickeln, die, obwohl es niemand gewollt oder gesteuert hat, zu einer Katastrophe führen können.

Es wäre interessant, diese Dynamik und ihre Mechanismen besser zu verstehen, denn schließlich wären sie dann ja universell, könnten also auch an anderer Stelle eskalieren.

Wäre das einen eigenen Thread wert ?


Das wäre m. E. durchaus einen Thread wert. :) Welche gesellschaftlichen Strukturen und Mechanismen haben den Hexenwahn möglich gemacht? Kann man den Hexenwahn mit anderen Verfolgungen vergleichen? Oder waren die Hexenverfolungen ein 'Sonderfall'?

Ich wär' in einem eigenen Thread dabei. :winke:
 
Die Judenverfolgung würde ich nicht mit der Hexenverfolgung vergleichen wollen. Die Nazis wollten eine klar definierte Religions-/Bevölkerungsgruppe vernichten. Hexe oder Hexer konnte jeder sein. Es gibt auch Fälle, wo an den Prozessen beteiligte Schöffen unter Verdacht und auf der Folter landeten. Die Hexe ist etwas nicht greifbares, geheimes, weshalb sie den Menschen damals so überaus gefährlich vorkam. Es gab damals aber auch Kräuterweiblein oder Besprecherinnen, die nicht auf dem Scheiterhaufen landeten, sondern an Alterschwäche starben und von jedem geachtet wurden. Wenn allerdings eine Hexenjagd losbrach, gehörten sie oft zu den ersten.
Im Faschismus kann man sich anpassen und so Sicherheit erlangen.
Hexenprozesse waren dagegen oft blindwütig und nahmen auf niemanden Rücksicht, so fromm derjenige auch war. Einmal denunziert, egal ob anonym oder unter der Folter, war man hochgradig gefährdet.
Die Denunziation war der Auslöser und die Folter der Motor im Hexenprozess.
 
@Rurik
nein, vergleichbar sind sie in der Sache sicher nicht, da hast du recht, aber in der Frage der Eigendynamik, die solche Systeme /Strukturen erreichen, sehe ich doch Parallelen.
 
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@Rurik
nein, vergleichbar sind sie in der Sache sicher nicht, da hast du recht, aber in der Frage der Eigendynamik, die solche Systeme /Strukturen erreichen, sehe ich doch Parallelen.
Durch die Denunziation ist das gut vorstellbar.
Allerdings haben sich die Juden nicht gegenseitig angezeigt. Da kam es von draußen, also von den Deutschen oder in den besetzten Ländern von der dortigen Bevölkerung.
In einer Hexenprozesswelle entstand die Dynamik auch aus den durch die Folter erpressten Geständnissen. So kamen ja erst vorher völlig unverdächtige oder sogar allgemein beliebte Personen in die Mühle der Hexenjustiz.
 
@Rurik
nein, vergleichbar sind sie in der Sache sicher nicht, da hast du recht, aber in der Frage der Eigendynamik, die solche Systeme /Strukturen erreichen, sehe ich doch Parallelen.
Ich sehe eine weitere Parallel in der Tatsache, dass sich die Täter ganz sicher sind, zu wissen was gut und schlecht ist. Schuld am Unheil war die "Hexe", der "Jud", der "Islamist". Und man versucht den Übeltäter mit einem beherzten Vorgehen und allen Mitteln ein für alle mal zu besiegen/vernichten...

Der Hexenwahn basierte auf dem gesicherten Wissen, dass die "Hexen"/der "Teufel" Ursache allen Unheils sind. Und sich ein hartes Vorgehen gegen die Übeltäter lohnt, ja gefordert ist. Dafür wird man dann mit einer sorgenfreien Zukunft belohnt. Und nicht viel anders dachten wohl viele im 3. Reich.


Gruss Pelzer

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Durch die Denunziation ist das gut vorstellbar.
Allerdings haben sich die Juden nicht gegenseitig angezeigt. Da kam es von draußen, also von den Deutschen oder in den besetzten Ländern von der dortigen Bevölkerung.
In einer Hexenprozesswelle entstand die Dynamik auch aus den durch die Folter erpressten Geständnissen. So kamen ja erst vorher völlig unverdächtige oder sogar allgemein beliebte Personen in die Mühle der Hexenjustiz.
...aber es gab den Konsens in der Gesellschaft, das die Juden schuld haben. Und dass das "Juden-Problem" gelöst werden muss. Wie im Hexenwahn.

Und dass sich die Juden nicht gegenseitig angzeigt haben, möchte ich nicht unterschreiben. Auch da gab es wohl solche und solche. Vielleicht haben wir da ein etwas idealistische Bild?

Gruss Pelzer
 
Ich sehe eine weitere Parallel in der Tatsache, dass sich die Täter ganz sicher sind, zu wissen was gut und schlecht ist. Schuld am Unheil war die "Hexe", der "Jud", der "Islamist". Und man versucht den Übeltäter mit einem beherzten Vorgehen und allen Mitteln ein für alle mal zu besiegen/vernichten...

Der Hexenwahn basierte auf dem gesicherten Wissen, dass die "Hexen"/der "Teufel" Ursache allen Unheils sind. Und sich ein hartes Vorgehen gegen die Übeltäter lohnt, ja gefordert ist. Dafür wird man dann mit einer sorgenfreien Zukunft belohnt. Und nicht viel anders dachten wohl viele im 3. Reich.


Gruss Pelzer

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Gut, die Verfolgung von Juden und Hexen haben in der jungen Neuzeit, vielleicht auch schon im späten Mittelalter ähnliche Wurzeln.
Allerdings ist da der Unterschied, das Juden eine Realität sind, wenn auch nicht die ihnen vorgeworfenen Vergehen. Die Hexen dagegen sind fiktiv. Man musste sie erst in ihrer ganzen, verkommenen Gräßlichkeit "erfinden". Hexen stellten auch nie eine Gemeinschaft dar, auch wenn man ihnen das in Form von Sekten unterstellte. Deshalb suchte man auch oft fieberhaft nach der Hexenkönigin. Die Folter brachte die Sucher fast immer zum Erfolg.
 
Ich erlaube mir an dieser Stelle kurz die Anmerkung, daß wir bei den Parallelen vorsichtig und differenziert herangehen müssen...

Im Kurzabriß: Die Genozide im 20. Jh. incl. Holocaust waren für eigentlich für jeden klar erkennbare Verbrechen, was bei Hexenprozessen bzw. der Hexenverfolgung so eben nicht gegeben war.
Und da ich nicht einfach andere Beiträge abschreiben will, verweise ich dazu auf Hexenprozesse, Inquisition und die Verantwortung der Kirche - Beitrag #51
 
Gut, die Verfolgung von Juden und Hexen haben in der jungen Neuzeit, vielleicht auch schon im späten Mittelalter ähnliche Wurzeln.
Allerdings ist da der Unterschied, das Juden eine Realität sind, wenn auch nicht die ihnen vorgeworfenen Vergehen. Die Hexen dagegen sind fiktiv. Man musste sie erst in ihrer ganzen, verkommenen Gräßlichkeit "erfinden". Hexen stellten auch nie eine Gemeinschaft dar, auch wenn man ihnen das in Form von Sekten unterstellte. Deshalb suchte man auch oft fieberhaft nach der Hexenkönigin. Die Folter brachte die Sucher fast immer zum Erfolg.
Nein, nein. Damals waren die "Hexen" nicht fiktiv. Die Bevölkerung, die Obrikeit, die Geistlichkeit wusste dass es "Hexen" gibt. Bloss aus unserem heutigen Blickwinkel sieht das anders aus. Damals war das keine Frage, Hexen sind Realität.
Ob Jude, Hexe oder braver Bürger, es gibt keine objektiven Unterscheidungsmerkmale! Bei den "Negern" war das dann etwas anders - die waren schwarz! Die konnte man objektiv unterscheiden. Was aber auch nicht besser war (für die "Negern")...

Gruss Pelzer

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Allerdings haben sich die Juden nicht gegenseitig angezeigt.
Stimmt. Aber der gemeinsame Punkt ist, dass der Denunziant einen Vorteil hatte, sich zum Beispiel das Vermögen des Opfers aneignen konnte.

Wichtig ist auf jeden Fall, dass in beiden Fällen die Obrigkeit auf Seiten der Denunzianten stand, man also seine eigenen niederen Motive sozusagen im Auftrag einer höheren Macht ausleben konnte.

Laut Arno Grün ("Die Normalität des Wahnsinns") ist es das Kennzeichen des Psychopathen, sich einer höheren Macht zu unterwerfen, um im Gegenzug an ihr teilhaben zu dürfen. Der Psychopath fühlt sich nicht für seine Taten verantwortlich, da er ja nur Werkzeug der guten Macht ist, und braucht sich, aus eben diesem Grund, in der Wahl seiner Mittel nicht zu beschränken.
Psychologisch spiegelt das die Strategie eines unterdrückten Kindes wieder, durch Wohlverhalten gegenüber den idealisierten Eltern ihre Anerkennung zu gewinnen hofft.
 
Die Judenverfolgung würde ich nicht mit der Hexenverfolgung vergleichen wollen. Die Nazis wollten eine klar definierte Religions-/Bevölkerungsgruppe vernichten. [..]
Im Faschismus kann man sich anpassen und so Sicherheit erlangen.

Sorry, daß ich mich einmischen; aber Judenverfolgung gab es nicht erst bei den Nazis. Insofern sollte es etwas differenzierter beim Vergleich angesetzt werden. Und ob der hier zuletzt zitierte Satz ein Argument liefert mag ich auch bezweifeln.

Edith: Sorry, die folgenden Beiträge hatten schon Differenzierungen vorgeschlagen. Möchte Beitrag aber trotzdem nicht löschen!
 
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Hexen stellten auch nie eine Gemeinschaft dar, auch wenn man ihnen das in Form von Sekten unterstellte. Deshalb suchte man auch oft fieberhaft nach der Hexenkönigin. Die Folter brachte die Sucher fast immer zum Erfolg.


Dem möchte ich mich anschließen beim Vergleich zwischen der Judenverfolgung und dem Hexenwahn. Auch wenn die Vorstellung einer realen Gemeinschaft von Hexen bestand wurde diese scheinbar erst augenfällig nachdem etwas geschehen war das den Verdacht der Hexerei erregte, wohingegen Juden in Abwesenheit irgendwelcher Geschehnisse als Gruppe identifiziert wurden. Persönlich tue ich mich dadurch mit dem Vergleich Hexenwahn und Judenverfolgungen schwer, da es sich auf der einen Seite um eine Gruppe handelt die sich auch in Abwesenheit von Zwang und Folter als Gemeinschaft verstand, identifizierte und somit präsent war, wohingegen es sich bei der anderen Gruppe um eine willkürlich zusammengesetzte Gruppe handelt, die erstmal aus dem Hexenglauben heraus geschaffen werden muß.

Was ich eigentlich damit sagen will, ist das ich durchaus ähnliche Strukturen und Gedankengänge bei Pogromen und Hexenwahn in der frühen Neuzeit sehen kann, aber meines Erachtens nach die beiden verfolgten Gruppen zwar die Rolle des Sündebocks gemein haben, aber an sich und als 'Gemeinschaften' zu verschieden sind. Die Vorgänge die sich um die Gruppen herum abspielten lassen sich meiner Meinung nach zum Vergleich heranziehen, die beiden Gruppen an sich jedoch nicht.
 
Bei den Juden wurde die Art der Gemeinschaft überhöht, indem man ein weltumspannendes, allgegenwärtiges, alles beherrschendes, im Verborgenen agierendes "Weltjudentum" zusammenphantasierte und damit eine Bedrohung konstruierte. Das Gefühl der Bedrohtheit schafft erst die Bereitschaft, gegen eine Bevölkerungsgruppe gewaltsam vorzugehen.
 
Stimmt, daß das 'Weltjudentum' zusammenphantasiert und eine Bedrohnung konstruiert wurde. Aber bei meiner Unterscheidung ging es mir darum, daß Juden und Hexen an sich, nicht als Gruppen vergleichbar sind, also aufgrund der Selbstidentifizierung. Die Phantasie des 'Weltjudentums' und der Bedrohung wären für mich von Außen kommende Indentifizierungen, die man mit einer Hexen 'Conspiracy Theory' - sorry, mir fehlt da gerade ein Deutscher Begriff- vergleichen könnte, also die Anwendung von außen wäre vergleichbar, aber nicht die Gruppen an sich.
 
Ich muß es wohl doch noch einmal ausformulieren...

Während des 15. bis 17. Jh. stellten vermeintliche Hexen und Ketzer eine Gefahr für die göttliche Weltordnung und damit das eigene Seelenheil dar. Jedem war bewußt, daß es eine stete Bedrohung für die göttliche Weltordnung und das eigene Seelenheil gab; und daran gab es für die Zeitgenossen des 15. bis 17. Jh. auch grundsätzlich keinen Zweifel. Das Weltbild war genauso nach religiösen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Aspekten aufgebaut.

Im 20. Jh. wurden vermeintliche Untermenschen/Fremdvölker/Fremdrassen als Bedrohung der eigenen Existenz und einer Weltordnung angesehen, welche an nationalen und rassischen - nach heutigem Urteil: nationalistischen und rassistischen - Gesichtspunkten ausgerichtet war. Aber eigentlich konnte jeder auf ein Weltbild zurückgreifen, welches durch die Gedanken von Humanisten und Aufklärern geprägt worden war und welchem Dinge wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz u. dgl. längst nicht mehr fremd war. Es war also offensichtlich, daß das Bild von Untermenschen u. dgl. Auswirkungen haben würde, welche man als nichts anderes denn ein Verbrechen ansehen mußte.



... Judenverfolgung gab es nicht erst bei den Nazis. Insofern sollte es etwas differenzierter beim Vergleich angesetzt werden...

... die folgenden Beiträge hatten schon Differenzierungen vorgeschlagen. Möchte Beitrag aber trotzdem nicht löschen!

Der Hinweis war ja auch richtig und wichtig: Selbst bei der Judenverfolgung - ich würde schreiben: Judenfeindlichkeit - muß zeitlich wie auch im jeweiligen Kontext differenziert werden.
Dazu kann man zwei Artikel bei Wikipedia sogar durchaus empfehlen:
Antijudaismus im Mittelalter ? Wikipedia
Antisemitismus (bis 1945) ? Wikipedia
Dem gegenübergestellt noch ein dortiger Artikel, welcher übrigens unkorrekterweise Hexenverfolgung, Judenverfolgung und Inquisition miteinander vermengt und daher weniger ampfehlenswert ist: Antijudaismus in der Neuzeit ? Wikipedia
 
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Nein, nein. Damals waren die "Hexen" nicht fiktiv. Die Bevölkerung, die Obrikeit, die Geistlichkeit wusste dass es "Hexen" gibt. Bloss aus unserem heutigen Blickwinkel sieht das anders aus. Damals war das keine Frage, Hexen sind Realität.
Das die Hexe damals in den Köpfen eine Realität darstellten, hatte ich schon in einer meiner vorherigen Beiträgen geschrieben.
Aber selbst dann gibt es einen Unterschied. Damals mussten sich Juden durch ihr Äußeres, also von den Christen vorgeschriebene Kleidung, unterscheiden. Auch waren die Städte, wenige Ausnahmen eingestanden, klein genug, dass jeder wusste, wer Jude ist. Man konnte die Juden also sehen, zu ihnen hingehen, mit ihnen sprechen und sie anfassen. Zudem wohnten sie in ihrer Judengasse. Die Hexen waren aber heimlich. Bestenfalls gab es nur Gerüchte. Wahrgenommen hat man sie eigentlich nur durch ihre Untaten, also den Schadenzauber. Die Hexe oder der Hexer konnte ein naher Verwandter sein, ohne das man es zuvor ahnte, oder sogar die eigene Frau. Kinder klagten ihre Eltern an und umgekehrt. Es gingen Risse durch Gemeinden und Familien.
 
Es geht es hier um "soziale Kontrolle" in der Zeit der Hexenverfolgungen und damit u. a. um die Art und Weise, inwieweit man (1) einen modernen soziologischen Begriff, (2) moderne Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ethik und (3) modernes Welt-Wissen auf vormoderne Sachverhalte anwenden kann. (Wenn man dann noch Parallelen zieht, etwa von den Hexen zu den Juden, wird's leicht unübersichtlich, weshalb ich hierauf nicht eingehe.)

Die von Muspilli zitierte WP-Definition von "sozialer Kontrolle" lässt sich auf sehr viele Phänomene anwenden. Ich würde eine Definition bevorzugen, welche den Aspekt der - tatsächlichen oder vermuteten - Devianz [Verhaltensabweichung bis hin zur Strafbarkeit] stärker betont: Soziale Kontrolle umfasst die Summe aller Verhaltensweisen, mit denen Menschen das Verhalten anderer als deviant einstufen und entsprechend sanktionieren, und zwar sowohl "vertikal" - von der Obrigkeit ausgehend - als auch "horizontal" - durch gegenseitige Überwachung und Zurechtweisung (vgl. Mit Gott handeln von den Zürcher ... - Google Buchsuche).

Bei dem oben genannten Beispiel würde ich jetzt aber vermuten, dass es nicht bei diesem einen Prozess bleiben wird. Man wird den Mayer und die Mayerin alsbald auf die Folter spannen ... Nun ist es mit der Kontrolle aus. Der Richter wird entsetzt sein, denn er ist, wie er schon vermutet hat, auf ein wahres Hexennest gestoßen. Die Jagd hat begonnen!
... denn wenn allein der Verdacht aufkam, wurde es schon ernst. Zudem erreichten Hexenprozesse nicht selten durch die Folter eine Eigendynamik, die kaum beherrschbar war.
Diese (hier gekürzte) Darstellung beschreibt die Eskalationsdynamik in den Hochzeiten der Hexenverfolgung und nennt einen der beherrschenden Faktoren, nämlich den Verdacht.

Wie schon beim Thema
Inquisitionsprozess
andiskutiert, erwuchs aus der Erwägung, Menschen könnten mittels magischer Kräfte andere schädigen, in kürzester Zeit eine Art von "Generalverdacht": Von den Spitzen der Gesellschaft (Adel, Klerus) abgesehen, konnte im Grund jeder Mitmensch, vorzugsweise weiblichen Geschlechts, ein solcher Schädling sein. Im Vergleich zu anderen ("bürgerlichen") Delikten war nämlich hier die Verdachtsschwelle abgesenkt: Weil Hexerei genau wie Ketzerei zu den besonders schweren Verbrechen gehörte, bedurfte es - in Analogie zum Majestätsverbrechen - "nur der einfachen Anzeige (denuntiatio), die selbst von Infamen oder Meineidigen ausgehen kann" (Normiertes Misstrauen: Der Verdacht ... - Google Buchsuche).

... dass der Denunziant einen Vorteil hatte, sich zum Beispiel das Vermögen des Opfers aneignen konnte.
Am Beispiel der Häresie macht Koch (Denunciatio: Zur Geschichte eines ... - Google Buchsuche) die Konsequenzen deutlich:
"Die Inquisition schuf 'Anreize für Mitteilungen ..., die von der Bevölkerung als Verletzung von Solidarpflichten, als 'Denunziation', empfunden werden mussten. Als Mittel dienten insbesondere Strafandrohungen und Belohnungen, wobei letztere einen bestimmten Anteil am konfiszierten Vermögen des 'Denunzierten' umfassten. Um Häretiker auszuspüren, nahmen Inquisitoren bereitwillig Mitteilungen entgegen, die ihnen aus Haß oder Gewinnsucht zugetragen wurden. Als weitere effektive Methode erwies sich, denjenigen Straflosigkeit zu versprechen, die binnen einer gesetzten Frist die Zugehörigkeit zu einer häretischen Bewegung gestanden und zugleich weitere Häretiker angaben. ... Die Mitteilung an Inquisitoren stellt eine ebenso probate wie risikolose Möglichkeit dar, um sich mißliebiger Personen zu entledigen."
Zunächst galt das nur für die Häresie. Aber "die im Kampf gegen die Albigenser aufgekommene Inquisition zog nun die Zauberprozesse als 'Abfall' vor ihr Forum, nachdem der auch persönlich von Hexenangst erfüllte Johannes XXII. in seiner Bulle 'Super illius specula' (1326) die Zauberer ausdrücklich den förmlichen Ketzern gleichgestellt hatte" (RGG Bd. 3, S. 309).

Über die Chancen der Verdächtigten, sich von dem Verdacht zu befreien, muss hier nur so viel gesagt werden, dass die Einführung des Inquisitionsverfahren zeitgleich einher ging mit einer immer breiteren und hemmungsloseren Anwendung der Folter. Nimmt man hinzu, dass es gegen Urteile keine Rechtsmittelinstanz gab (allenfalls eine Begnadigung, etwa in der Weise, dass Hexen vor dem Verbrennen getötet wurden), so ergibt sich daraus eine Lebenssituation, die man für breiteste Bevölkerungskreise als vollständiges Ausgeliefertsein bezeichnen könnte. Insoweit war die Zeit, über die wir hier diskutieren, um mal den alten Reizbegriff hervorzukramen, eine "totalitäre" Ära, vor deren Irrationalismen und Irrtümern es kein Entrinnen gab.

Die Bevölkerung, die Obrigkeit, die Geistlichkeit wusste dass es "Hexen" gibt ... Hexen sind Realität.
Es hat zu allen (christlichen) Zeiten Stimmen gegeben, die das Hexenwesen bzw. den Tatbestand der Hexerei und die Existenz von Hexen nicht für gravierend hielten oder sogar bestritten. Es ist zwar richtig, daß die "drei Elemente des mittelalterlichen Hexenbegriffs: schädigende Zauberei, Geschlechtsverkehr mit den Dämonen, Ketzerei (= Rückfall in den Götzendienst) ... schon zum Erbe der christlichen Antike" gehörten. Freilich hattte die Kirche "in der Zeit der Germanenbekehrung die alten Volksvorstellungen von den nachtfahrenden Frauen und Tierverwandlungen noch entschieden abgelehnt", jedoch "waren diese doch so zählebig, daß die großen Theologen des Hoch-Mittelalter wie ... Thomas von Aquino sie übernahmen und in ihr theologisches System einbauten" (vgl. RGG Bd. 3, S. 309 ff.).

Will sagen: Es gab eine jahrhundertelange Entwicklung hin vom Hexenwesen über die Hexenverfolgung hin zur Hexenverbrennung, die man nicht als zwangsläufig oder naturgesetzlich oder gar gottgegeben charakterisieren darf. Für die Kirche als die in jener Zeit maßgebliche Inhaberin der Definitionsmacht in solchen Fragen hat es stets auch eine Entwicklungs-Alternative gegeben, und es ist eigener Betrachtung wert, warum diese verworfen wurde. - Wie gesagt: Immer schön differenzieren...
 
Wie gesagt: Immer schön differenzieren...

Dem möchte ich mich nochmals ausdrücklich anschließen und allen Mitdiskutanten die Lektüre von http://fowid.de/fileadmin/textarchiv/Hexenverfolgungen__Rita_Voltmer___TA-2006-12.pdf ans Herz legen - wie bereits in Soziale Kontrolle - Beitrag #6 angegeben.

Als ganz wichtigen Punkt zur Differenzierung gerade auch bzgl. der Rolle von Kirche und Inquisition erlaube ich mir ein Zitat daraus:
Rita Voltmer schrieb:
...
Zweite Fehlsicht: "Die Kirche, besonders die Inquisition hat die Hexenverfolgungen betrieben".

Mit besonderer Hartnäckigkeit hält sich das Vorurteil, Hexenprozesse hätten in ihrer großen Masse vor geistlichen Inquisitionsgerichten stattgefunden.
Diese Behauptung kann nicht einmal für die Frühzeit der Hexenprozesse zwischen 1430 und 1500 als korrekt gelten; denn bereits hier waren neben Inquisitoren auch weltliche Gerichte an der Verfolgung angeblicher Hexen und Hexenmeister beteiligt. Gerade der schärfste kirchliche Propagandist von Hexenverfolgungen, Heinrich Institoris, Autor des berühmt-berüchtigten 'Hexenhammer' (Malleus maleficarum) erkannte, dass mit der geistlichen Gerichtsbarkeit keine Erfolge bei der Ausrottung der vermeintlich so gefährlichen Hexensekte zu erreichen waren, und er verlangte ausdrücklich, dass sich die weltlichen Gerichte der Städte und Territorien viel intensiver als bisher mit diesem Extremverbrechen beschäftigen müssten. In jenen Ländern, in denen die Verfolgung des Hexereidelikts weitgehend oder ganz in den Händen kirchlicher Inquisitionsbehörden lag, kann man sowohl bei der Spanischen (eingerichtet 1478) wie bei der Römischen Inquisition (eingerichtet 1542/1578) einen gemäßigten, ja vorsichtigen Umgang mit dem Hexereidelikt feststellen...
Diese mäßigende Haltung der einzelnen Inquisitionsbehörden gegenüber dem Hexereidelikt darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf der anderen Seite Juden, Ketzer und (angeblich) nur zum Schein bekehrte Mauren beziehungsweise Juden unnachsichtig verfolgten.
Nicht "die Kirche" als gesichtslos gedachter Machtapparat, sondern gelehrte Theologen und Inquisitoren, Beichtväter und Prediger, hohe Geistliche und einfache Dorfpfarrer aus allen konfessionellen Lagern waren in die Verfolgungen involviert, jedoch in unterschiedlichen Rollen. Ganz sicher war das Hexereiverbrechen von Theologen erfunden worden. Die gerichtliche Verfolgung angeblicher Hexen erfuhr durch sie in Predigten und Schriften die höchste Legitimation; denn Gottes Ehre konnten nur gewahrt, sein Zorn besänftigt und die Zerstörung seiner Schöpfung abgewandt werden, wenn die Teufelsdiener - entmenschlicht und als Ungeziefer oder Geschmeiß bezeichnet - ausgerottet wurden. Doch findet man auf der anderen Seiten unter Theologen und Geistlichen auch Retter und Tröster von gefangenen angeblichen Hexen, wie auch entschiedene Gegner der Verfolgungen - genannt seien hier nur Cornelius Loos, Friedrich Spee, Anton Prätorius und Matthias Meyfarth.
Nicht zuletzt fanden die Hexenjagden auch nicht wenige Opfer aus den Reihen der Geistlichen.

Einsicht: Die Hexereiverfahren der Frühen Neuzeit sind in ihrer absoluten Mehrzahl von weltlichen Gerichten nach Maßgabe des zeitgenössischen Strafrechts als legale Prozesse geführt worden.
...
Und ein weiteres Zitat daraus, weil es ebenfalls wichtig ist, sich nicht darauf zu versteifen, daß nahezu ausnahmlos Frauen und Angehörige der unteren gesellschaftlichen Schichten Opfer waren:
Rita Voltmer schrieb:
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Vierte Fehlsicht: "Opfer der Hexenverfolgungen wurden nahezu ausnahmslos Frauen, darunter viele Hebammen und Heilerinnen".

Ohne Zweifel sind den europäischen Hexenverfolgungen mehrheitlich Frauen zum Opfer gefallen, wenngleich es Gegenden gab, wo wesentlich mehr Männer als Frauen hingerichtet wurden. So adaptierte man in Island nicht das klassische westeuropäische Hexenstereotyp; zwischen 1604 und 1720 wurden hier 110 Männer, aber nur zehn Frauen wegen Hexereidelikten angeklagt. In Estland und Finnland bezichtigte man ebenfalls weitaus mehr Männer als Frauen der Hexerei. Während des 16. Jahrhunderts findet sich auch im westschweizerischen Waadtland ein Verfolgungsgebiet mit einem hohen Anteil männlicher Angeklagter. Prinzipiell wurden in katholischen Regionen bis zu 30 Prozent Männer hingerichtet, während in protestantischen Gebieten und Territorien (wie zum Beispiel Schweden, Dänemark, den Niederlanden, England und Schottland) 80 bis 90 Prozent weibliche Hingerichtete nachzuweisen sind (Schulte). Eine Erklärung für diesen signifikanten Unterschied liegt in der uneinheitlichen Übersetzung der fatalen Bibelstelle Exodus 22 Vers 17 (Vers 18 nach älteren Bibelausgaben). Legitimiert durch das Tridentinum benutzte die katholische Vulgata das männliche Genus ("die Zauberer sollst du nicht leben lassen"), während Luther die aus dem hebräischen Original stammende - grammatikalisch richtige - weibliche Form anwandte. Damit ging für Protestanten als getreue Bibelexegeten die Hexerei grundsätzlich von Frauen aus. Wenngleich das von vor allem frühneuzeitlicher Dämonologen ausgebildete und übrigens auch von Gegnern der Verfolgung (Johann Weyer, Friedrich Spee) adaptierte Hexenstereotyp die arme, alte, verwitwete Frau als angebliche Teufelsbuhlerin in den Vordergrund stellte, wurde dieses Opfermuster jedoch schon bei frühen Verfolgungen wie auch den späteren massenhaften Hexenjagden gegen Ende des 16. und im Laufe des 17. Jahrhunderts immer wieder durchbrochen. Junge, verheiratete Frauen, Kinder, Jugendliche, Männer, Amtsträger und Geistliche gerieten zunehmend in den Hexereiverfahren unter Anklage.
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