Der Spiegel der 1950er/60er Jahre war nicht so links, wie man sich das heute denkt; gerade dort schrieben nicht wenige Wendehälse mit Kriegsberichter- und SD-Vergangenheit. Zu nennen wäre etwa Paul Carell.
Gut, dass Du nochmal drauf hinweist! Über die vielfältigen personellen Verknüpfungen zwischen SPIEGEL und Reichssicherheitshauptamt ist ja viel geschrieben worden - siehe z. B.
Unternehmen Aufklärung - Freitag 2002/47
und als Beispiel
Horst Mahnke ? Wikipedia - und auch über praktische Folgen - siehe z. B.
Reichstagsbrandforum (ohne Gewähr für die Richtigkeit der Darstellung).
Ich finde, den direkten Zusammenhang hat man später sehr herbeigeredet. [...] Die Spiegel-Affäre war für mich eher einer der frühen Prüfstände für das Funktionieren der neuen Demokratie...
Wobei man sich bei der Vokabel "frühen" natürlich fragt, was den ersten 13 Jahren der deutschen Demokratie eigentlich (nicht) gelaufen ist...
Von einem eher konservativen Standpunkt aus hat Hans-Peter Schwarze [1] den politischen Stellenwert der Affäre herausgearbeitet. Am Anfang stand "zweifellos ... eine erbitterte Kampagne des Spiegel gegen Strauß", eine "gnadenlose Pressekampagne". Dazu kamen: (a) der Versuch Augsteins, "seine" FDP stärker von der CDU abzulösen, (b) die latente Diskussion über Führungsstil und Gestaltungskraft des greisen Adenauer, (c) dessen latenter Konflikt mit Strauß, (d) die Meinungsverschiedenheiten zwischen Strauß und dem Pentagon (McNamara) über deutsche Verfügungsgewalt über Atomwaffen und deren Einsatz usw. Was die Atomwaffen betrifft, so gab die weltpolitische Lage - Kuba-Krise! - Kritikern allen Anlass, den "Kampf gegen den Atomtod" auf der innenpolitischen Agenda zu halten.
Schwarze meint zusammenfassend, dass die Affäre entscheidende Bedeutung hatte als Sieg eines "liberaleren" Staatsverständnisses gegenüber einem konservativen, das tendenziell "in den Kategorien der Staatsraison dachte und individuelle Bedenklichkeiten oder die Wehleidigkeiten der vom staatlichen Zugriff Betroffenen verachtete". Folgen: (a) "Eine ganze Generation liberaler Studenten und jüngerer Akademiker wandte sich ... [von nun an] den Sozialdemokraten und den Freien Demokraten zu auf drängte auch diese auf ihren Weg, sofern sie nicht immer schon auf liberalen staatspolitischen Positionen gestanden hatten." (b) Wegweisend war der Machtzuwachs, den die freie Presse insgesamt erhielt, und zwar sowohl ihr "seriöser" Teil als auch der andere.
Was den Faktor "Jugend" betrifft bzw. die Auseinandersetzung zwischen älterer und jüngerer Generation, so sieht z. B. Norbert Frei [2] einen Zusammenhang mit dem Ende der in der Adenauer-Ära gepflegten "Kultur des Schweigens" bezüglich weiter Bereiche der deutschen jüngeren Vergangenheit. Auch hier wieder die Parallelen: der Eichmann-Prozess war gerade abgeschlossen, die Vorbereitung des Auschwitz-Prozesses in vollem Gange! "Wer aber als junger Mensch zu Anfang der sechziger Jahre die kritische Perspektive erst einmal eingenommen hatte, wer sich - zumal nach der Affäre um den Spiegel 1962 - keinen Maulkorb mehr umhängen lassen wollte, der fand dafür [fortan] ohne große Mühe immer wieder neue Gründe". Anders gesagt: die Affäre schärfte den Blick für Dinge und Personen, deren "belastete Seiten" bisher weitgehend unter der Decke gehalten wurde. - Auf den Spiegel selbst bezogen - siehe oben! - kann man das je nachdem als "Ironie (oder Dialektik?) der Geschichte" bewerten...
[1] Gescbichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 3: Die Ära Adenauer 1957-1963, Stuttgart 1983, S. 261 ff. - Die Einschätzungen des Autors teile ich nur eingeschränkt!
[2] 1968 - Jugendrevolte und globaler Protest. München 2008, S. 79 ff.