Sprachcodes von den Grimms bis Tarantino

Weil ein Wort - Negerkönig durch Südseekönig - ausgetauscht wird, wird gleich „laufend“ Kinderliteratur umgeschrieben?
...hm... ist das polemisch gemeint oder soll das ein Argument sein?

manchmal hilft die aus der Linguistik bekannte Ersetzungsprobe:
wenn einmal in einer alten Schwarte*) eine kleine Interpolation eingefügt wurde wird gleich die heilig-hehre Historie verfälscht oder geklittert? Da sind tausende von Wörtern in der alten Schwarte, also bitte, wenn da mal eines verbessert oder eingefügt wird, das kann doch nun kein derartiges Verbrechen sein, als dass man sich echauffieren und empören müsste... ;)

Klar, jetzt könnte die gelehrte Replik kommen, dass der Vergleich hinke, dass man nicht Äpfel mit Birnen usw - - aber darum geht es mir nicht. Der hinkende Vergleich macht darauf aufmerksam, dass wir alle (ich auch) ganz problemlos und oftmals ohne es zu merken, ohne es zu absichtlich zu wollen, ganz nach dem eigenen Gutdünken mit verschiedenen Maßen messen. So kann der akkurate strenge Historiker voller Grimm noch den winzigsten Eingriff in ein historisches Dokument scharf verurteilen, hingegen vermeintlich winzige Eingriffe in schöngeistige oder Gebrauchsliteratur nonchalant bagatellisieren.

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*) z.B. bei Flavius Iosephus die Jesus-Interpolation
 
Jede „weltanschauliche Empörung“ über diese Sache, die Investition des Verlegers oder den Kauf des Erwerbers, rutscht wieder (...)
interessanter Aspekt!... nur weil irgendwer Geschäfte machen will (oh heiliger Markt, oh Wunder der Investitionen) mit einem Gegenstand, den er selber gar nicht produziert hat, soll er damit ganz nach Belieben umgehen dürfen und Kritik an dieser Verfahrensweise wird als Moralblabla abgeschmettert? War das so gemeint, oder habe ich das falsch verstanden?
 
Dass ganze Kinderliteratur umgeschrieben würde war nicht meine Behauptung, das war die Behauptung, der ich widersprochen habe.
widersprochen oder gegen diese (von dir etwas übertrieben dargestellte) "Behauptung" polemisiert, indem ihr unterstellter (übertriebener) Inhalt bagatellisiert wurde?

wie dem auch sei: ist bissel redigierender Pfusch in historischen Quellen ebenso eine Bagatelle, die man nonchalant bewitzeln kann? -- oh, was, wenn ein Verlag Investitionen tätigt, um die historische Quelle publik zu machen, kann dann auch bagatellisiert werden? ...so allmählich komme ich hier ganz durcheinander...
 
Hmmm, gar nicht direkt das hier besprochene Problem, da es eher mit Übersetzung denn Umschreibung des Originals zu tun hat, und sich nicht an Kinder wendet. Ich brings trotzdem mal:

Im Film Gods & Generals (Zeit: Sezessionskrieg) gibt es eine Szene, in der zwei Brüder (Offizier und Unteroffizier der US Army) über Bezeichnungen für Schwarze sprechen. Der jüngere Unteroffizier bezeichnet diese im englischen Original als "Darkeys", wird dann aber von seinem älteren Bruder korrigiert, das sei abwertend, er solle doch bitte "Negro" sagen. Die deutsche Übersetzung macht daraus "Neger" (abwertend) und "Schwarzer" (neutral).

Die Übersetzung scheint mir ein Anachronismus zu sein; um die Zeit galt "Neger" im Deutschen mWn als ebenso neutral wie "Negro" im Englischen. Vielleicht haben sich die für die Synchronisation Verantwortlichen am heutigen Sprachgebrauch orientieren wollen, vielleicht auch aus "didaktischen Gründen" (was man jetzt kritisieren kann oder nicht). Vielleicht ist ihnen außer dem deutlich schärferen und daher unpassenden "Nigger" nichts besseres eingefallen, und das war dann ein Notbehelf; ich kannte zB die Bezeichnung "Darkey" vorher gar nicht.

Es verändert jedenfalls den Kontext und die Gewichtung, die diesen Begriffen beigelegt wird. Ist das problematisch?

Naja, ich bin im großen und ganzen bei ElQ, zumindest wenn durch die Bezeichnungen nicht die Bedeutung der Geschichte verändert wird. Ob bei Pippi Langstrumpf jetzt "Neger-" oder "Südseekönig" steht ist für die Story völlig irrelevant. Wenn man Huckleberry Finn umschreibt, dass nun mal Rassismus als ein Hauptthema hat, kann das halt ganz anders aussehen.
 
Im Übrigen hat auch die Interpolation für sich einen historischen Wert, denn i.d.R. ist mit Interpolation ein Motiv verbunden, welches für den Historiker durchaus von Interesse sein kann, ist es doch Teil der Rezeptionsgeschichte.
 
@El Quijote ich nehme zur Kenntnis, dass du ausweichst und ablenkst - ist ok (ich habe auch nicht ernsthaft damit gerechnet, dass meine - durchaus auch nicht polemikfreien - Fragen beantwortet werden) ;)

Davon abgesehen bin ich dafür, dass Textzeugnisse der Antike und des Mittelalters, der Ranissance bis ins frühe 20. Jh. für den nicht wissenschaftlichen Bereich (also Laieninteressen etc) nur in sehr stark redigierter Fassung publiziert sein dürfen, denn sie enthalten in aller Regel katastrophal politisch unkorrekte, frauenfeindliche, homophobe, lgbt-abwertende, rassistische, antisemitische, antijudaische und auch oft genug erbarmungslos inhumane, antiaufklärerische Haltungen und Wertungen, und das in einem Ausmaß, welches man dem Laienpublikum nicht zumuten darf.
Unterm Ladentisch oder in zugangsbegrenzten Fachbibliotheken können die Originale den Fachleuten zugänglich gemacht werden, sofern diese ein berechtigtes Anliegen nachweisen können.
(gez. Amt für politisch korrekte Textverwahrung) :D

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eigentlich sollte es hier ja um Codes gehen (ich hatte zu diesen die lit. Verwendung von hist. nachgewiesenen Soziolekten hinzuaddiert) - einen (gelinde gesagt unangenehmen!) Privatcode verwendete Engels in seinen Briefen.
 
Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass es sich - die Jugendfreigabe natürlich ausgenommen - um gesellschaftlich bedingte Selbstzensur handelt?

(Auch der Markt wird ja in diesem Fall durch die Gesellschaft beeinflusst.)
 
Das begreife ich nicht: wer zensiert sich selbst, indem er z.B. Romane von Twain in heile-Welt-Kinderbücher verschlimmbessert?
Selbstzensur: das hat Heinse gemacht, indem er die besonders vulgären Passagen seines Ardinghello schon vor der Publikation in seinem Giftschrank verwahrte; oder Chopin, der seine Jugendsachen testamentarisch dem Feuer vermachte, woran sich allerdings die Nachlassverwalter aus schnöde merkantilen Gründen nicht hielten.
 
Selbstzensur bezieht sich auf Verlage und ihre Erzeugnisse, nicht auf Autoren und ihre konformistischeren Werkvariationen. Es dürfte auch schwerfallen, einen Zeitungsverlag zu finden, der nicht in irgendeiner Form Selbstzensur betreibt. Insofern erstmal ein normaler Vorgang. Nur gibt es auch hier Grenzen, die nicht übertreten werden sollten.
 
@Riothamus das war meine naive Frage:
Das begreife ich nicht: wer zensiert sich selbst, indem er z.B. Romane von Twain in heile-Welt-Kinderbücher verschlimmbessert?
Deine Antwort darauf:
Selbstzensur bezieht sich auf Verlage und ihre Erzeugnisse, nicht auf Autoren und ihre konformistischeren Werkvariationen.
...begreife ich nicht.
Es sieht in einigen Fällen (Twain, Huck Finn) eher so aus, dass ein paar Verlage das, was sie gewinnbringend verkaufen wollen, konformistisch an die Erwartungen einer anscheinend vorherrschenden oder zahlen- und "zahlungsreichen" Kundengruppen redaktionell anpassen... wenn das mit Selbstzensur gemeint sein sollte, hab ich mal wieder was gelernt ;)
 
Der Grund für die Selbstzensur ist wahrscheinlich nicht einmal so sehr eine Anpassung an die Kundengruppen an sich, sondern die Angst vor negativen Reaktionen in den Medien und einem sog. "Shitstorm" im Netz. Diese sog. "Meinungsmacher" in ihrer Twitterblase etc. sind zwar im Kern zahlenmäßig oft recht überschaubar, können aber große Wirkung entfalten, wenn ihre Empörung im Netz und in den Medien multipliziert wird.
 
Ach so, ich dachte, die Frage wäre anders gedacht. Nun, der Verlag zensiert sich auch dann selbst, wenn er die Texte seiner Autoren zensiert. Ja, das könnte man anders definieren, aber ich folge dem erlernten Sprachgebrauch. Dies Selbstzensur wurde schon Anfang der 90er als ein Problem der deutschen Medien beschrieben. Ich saß damals in einem Seminar zum Thema. Die ARD bestreitet übrigens, dass Selbstzensur möglich sei. Sie behaupten in einem ihnen bequemen Zirkelschluss, dass Zensur nur vom Staat ausgehen kann. Darin vermengen sie die Problematik wohl mit der Ausrichtung eines Mediums, was einen Anschein von Logik erweckt, aber am Problem vorbeigeht.
 
Sogar an uns werden ab und zu Forderungen zum Anbringen von Warnhinweisen oder gar zur Löschung von Büchern herangetragen. Wir sind aber dem Glauben an den mündigen und selbstdenkenden Leser fest verhaftet. Im Projekt Gutenberg werden keine inhaltlichen Änderungen an Büchern vorgenommen und keine Warnschilder aufgestellt. Wir korrigieren lediglich offensichtliche Druckfehler. Sprache, Rechtschreibung und Inhalt des Originals, so, wie das Buch uns vorliegt, werden unverändert beibehalten.
Na Gott sei Dank. Schlimm genug, wenn Verlage meinen, ein Buch umschreiben zu müssen. Aber solche Forderungen haben etwas geradezu Faschistoides. Das ist, als würde man in ein Antiquariat stiefeln und sich über all die alten Bücher dort beschweren.
 
Anke Engelke hat eine neue Version des bekannten Bilderbuches Die Häschenschule gedichtet, weil der Verlag meinte, das Original könne man den Kindern heute nicht mehr zumuten. Das Besondere an dem neuen Hörbuch: Der Fuchs ist jetzt ein Kind und Veganer und sitzt als solcher mit in der Schule. Feinde sind jetzt Bauern, weil sie Schädlingsbekämpfungsgifte versprühen und zur Ernte mit gefährlichen Mähdreschern kommen.

Das ist natürlich voll Mainstream, aber immer noch besser, als z.B. aus dem "bösen" Lehrer einen politisch korrekten zu machen. Oder?
 
Mary Poppins, 60, von Walt Disney auf die Leinwand gebrachtes Kindermädchen, ist nicht mehr ganz jugendfrei, sondern darf nur noch in Begleitung Erwachsener gesehen werden, weil darin zweimal der Begriff Hottentotten verwendet wird, der sich im Film auf von Ruß schwarz gefärbte Schornsteinfeger bezieht.
Und der Sänger Isaak muss beim ESC die Stelle "No one gives a shit about what's on the run" ändern.

Wie gehen stramm auf den 19. Jahrhundert zu, in dem man in der Öffentlichkeit nicht vom Hintern sprechen konnte, sondern nur vom verlängerten Rücken.

Quelle: Die Altersfreigabe für den Film „Mary Poppins“ ist verschärft worden.

PS: Kommando zurück – wir sind schon dort angekommen: Der Begriff "verlängerter Rücken" im Sinn des 19. Jahrhunderts wird jetzt auch in der deutschen Wikipedia verwendet.

Quelle: Kallendresser – Wikipedia
 
in dem man in der Öffentlichkeit nicht vom Hintern sprechen konnte, sondern nur vom verlängerten Rücken.
Nur, weil du an Hintern* den Euphemismus nicht mehr erkennst, ist Verlängerter Rücken als Euphemismus schlimm? Wobei ich letzteren Ausdruck immer als ironisch, nie als Euphemismus verstanden habe.

*hinteren Teil/Hinterteil
 
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