Sepiola
Aktives Mitglied
In einem anderen Thread hatten wir folgende Diskussion:
@Scorpio hat ja mehrmals auf eine neuere Arbeit hingewiesen, die sich kritisch mit der Literatur über Tierprozesse auseinandersetzt:
Der Aufsatz von Eva Schumann (ohne h!) ist hier online einsehbar:
Peter Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter - Gottesurteil und Tierprozess (Zweite, wesentlich erweiterte Auflage), Darmstadt 2020 befasst sich eingehend mit der Problematik.
Die Quellenlage ist in der Tat etwas merkwürdig:
Andererseits findet man in der Tat überlieferte Texte, die recht eindeutig formelle gerichtliche Verurteilungen von Haustieren widerspiegeln, z. B.:
Und es gibt Kritik an der Praxis, z. B.:
* Einen Standort mit Archivsignatur weiß freilich auch Dinzelbacher nicht anzugeben, seine Referenz ist eine Quellensammlung aus dem Jahr 1829, hier online zu finden (der zitierte Text steht auf S. 41):
Ich will jetzt nicht auf alles eingehen, aber in Bezug auf Tierprozesse kann man schon sagen: Es hat sie gegeben, denn darüber gibt es in Frankreich Prozessakten.
Dann bitte ich darum, dass du konkrete Prozessakten nennst, in denen tatsächlich belegt wird, dass man ein Tier als Rechtssubjekt betrachtete. Wo und in welcher französischen Stadt findet man Prozessakten, die Tierprozesse eindeutig belegen?
Wo und in welchem Archiv liegen diese Prozessakten?
Hat irgendein Historiker diese Prozessakten bearbeitet?
In welchem Findbuch und unter welcher Signatur sind Akten registriert
Gibt es möglicherweise digitalisierte Archivalien, die man einsehen kann?
In Bezug auf Tierprozesse habe ich auf die Schnelle diese 2 Dokumente gefunden:
Ein Zeitzeichen-Podcast des WDR Todesurteil für einen eierlegenden Hahn, in die mehrere dokumentierten Prozesse gegen Tiere in der Schweiz und Frankreich erwähnt werden.
Und dann ein Interview mit dem Ferdinand Leuxner, Historiker und Kurator der Ausstellung im Kultur- und Stadthistorischen Museum Duisburg, über „Prozesse gegen Tiere im Mittelalter“: Schwein und Hund auf der Anklagebank
Eine WDR-Doku ist kein Dokument, und auch Ferdinand Lauxner glaube ich nicht so recht, dass er Prozessakten persönlich eingesehen hat.
Hier schiebst Du ein von Dir gerne praktiziertes Verfahren anderen Diskussionspartnern in die Schuhe. Zu diesem polemischen Zweck hast Du "vergessen", dass @Scorpio nach Prozessakten gefragt hat. Was Du vorgelegt hast, hat mit "Dokumenten" nichts zu tun, geschweige denn mit Prozessakten. Und der interviewte Professor gibt auch keinen Hinweis darauf, wo man solche Akten einsehen könnte. Wenn es in Deiner Absicht liegt, sinnvolle Diskussionsbeiträge zu liefern, wäre es angebracht, einmal etwas intensiver nachzuforschen und zumindest den bereits geposteten Literaturangaben nachzugehen.Klar, was dir nicht passt, wird als unglaubwürdig abgelehnt.
@Scorpio hat ja mehrmals auf eine neuere Arbeit hingewiesen, die sich kritisch mit der Literatur über Tierprozesse auseinandersetzt:
Eva Schuhmann beklagt, dass eben viele Publikationen vom Hörensagen über Prozesse berichtet haben, ohne es nachzuprüfen, ohne selbst Prozessakten und Archivalien bearbeitet zu haben.
Der Aufsatz von Eva Schumann (ohne h!) ist hier online einsehbar:
"Strafverfahren gegen Tiere, die einen Menschen getötet hatten, mit anschließender öffentlicher Vollstreckung des Todesurteils, sollen sich in zahlreichen Regionen Europas seit dem 13. Jahrhundert zugetragen haben. Der Forschungsstand ist jedoch sehr unbefriedigend, weil sich auch die Verfasser neuerer Arbeiten in der Regel nicht die Mühe machen, die Quellen nochmals zu sichten, sondern auf der Grundlage der älteren Sekundärliteratur neue Erklärungsansätze vortragen.
[...]
Da im deutschsprachigen Raum erstens keine normativen Grundlagen für Strafverfahren gegen Tiere und Tierstrafen existieren und diese auch in der umfangreichen Praktiker- und Kommentarliteratur nicht erwähnt werden, zweitens bei den wenigen aus der Frühen Neuzeit überlieferten Fällen öffentlicher „Tierhinrichtungen“ berechtigte Zweifel bestehen, dass diesen ein Strafverfahren gegen das Tier voranging und sich drittens die überlieferten Tierprozesse gegen Schädlinge gut in das Genre der fiktiven Prozesse einpassen lassen, kann – entgegen dem Forschungsstand – derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass Strafverfahren gegen Tiere mit anschließender Vollstreckung des Todesurteils Bestandteil der deutschen Rechtspraxis waren und damit geeignete Beispiele für die Personifizierung von Tieren im mittelalterlichen Recht darstellen.
[...]
Vor diesem Hintergrund können Tierstrafen und Tierprozesse lohnenswerte Untersuchungsgegenstände der (Rechts-)Geschichte sein, zumal der Nachweis noch aussteht, ob Tierstrafen und -prozesse reale Bestandteile der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtspraxis waren. Erst nach sorgfältiger Prüfung sämtlicher in der Sekundärliteratur angegebenen Quellen wird zu entscheiden sein, ob sich meine Thesen, dass Tierprozesse gegen Schädlinge nur eine besondere Ausprägung des frühneuzeitlichen Genres der fiktiven Prozesse darstellen und Strafverfahren gegen „mordende“ Tiere phantasievolle Schöpfungen des 19. Jahrhunderts waren, vollumfänglich bestätigen lassen."
Peter Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter - Gottesurteil und Tierprozess (Zweite, wesentlich erweiterte Auflage), Darmstadt 2020 befasst sich eingehend mit der Problematik.
Die Quellenlage ist in der Tat etwas merkwürdig:
"Auffallend erscheint, dass das Thema in den normativen Texten (Gesetzen, Verordnungen usw.) fast nie erwähnt wird, die Costumes et stilles de Bourgoigne, Ruprecht von Freising oder die sardinische Carta de logu sind seltene Ausnahmen.
Auch in historiographischen Texten des Mittelalters und der Frühneuzeit kommt der Tierprozess anscheinend nie vor – im Gegensatz zu wohl allen sonstigen öffentlichen Rechtspraktiken. In der schönen Literatur scheint es ebenso praktisch keine Erwähnungen des Themas zu geben, nicht einmal bei den Satirikern – erst im 20. und 21. Jahrhundert finden sich (humoristische) Bearbeitungen. [...] Ebenso auffallend, dass keine einzige zeitgenössische bildliche Darstellung erhalten ist, wogegen sonst alle möglichen Szenen das Rechtsleben und die Strafmethoden betreffend auch aus Buchillustrationen bekannt sind." (Dinzelbacher S. 227)
"Es ist fernerhin festzuhalten, dass meines Wissens sämtliches gesetzte Recht (Landrechte, Stadtrechte, Rechtsbücher usw.) nichts davon weiß, dass ein Tier, falls ein Mensch durch es zu Tode kommt, vor Gericht gestellt werden soll. Üblich war laut den normativen Texten vielmehr durchgehend die sogenannte Sachhaftung des Besitzers." (S. 163)
Andererseits findet man in der Tat überlieferte Texte, die recht eindeutig formelle gerichtliche Verurteilungen von Haustieren widerspiegeln, z. B.:
"Die ganze Terminologie der juristischen Dokumente gleicht völlig der, die sich auf menschliche Verbrecher bezieht, z. B. ist im Urteil des Gerichts von Savigny von 1457 von Gefangenen, von in flagranti Ertappten, von vollbrachtem Mord und Schuld die Rede. Es handelte sich um Schweine:
'Eine Muttersau und sechs säugende Frischlinge, die gegenwärtig Gefangene der genannten Dame sind, alldieweil sie in flagranti ertappt wurden: Sie haben – die genannte Muttersau selbst – Mord und Tötung an der Person des fünfjährigen Jehan Martin begangen und vollbracht ... Wenn man findet, dass sie an dem Verbrechen schuldig sind ...'
[...]
une truye, et six coichons ses suignens, que sont présentement prisionniers de ladite dame [der Gerichtsherrin], comme ce qu’ils été prins en flagrant délit, ont commis et perpetré mesmenent ladicte truye murtre et homicide en la personne de Jehan Martin en aige de cinq ans ... s’il estoit trouvé qu’ils feussions culpables du délict" (Dinzelbacher S. 155f*)
Und es gibt Kritik an der Praxis, z. B.:
"Der berühmte Rechtspraktiker Philipp de Beaumanoir schrieb 1283 in seinen Coutumes de Beauvaisis, jedes Verbrechen setze Absicht voraus, weswegen Tiere, die weder Gut noch Böse unterscheiden könnten, für ihre Taten nicht verantwortlich seien:
'Die stummen Tiere haben kein Verständnis von dem, was gut und böse ist, und daher ist rechtliches Vorgehen vergebens, denn dieses muss zur Vergeltung einer Untat geschehen, und der, der die Untat begangen hat, muss wissen und verstehen, dass er für eine bestimmte Untat eine bestimmte Strafe davonträgt. Aber ein solches Verständnis gibt es nicht unter den stummen Tieren'.
Nur die Habgier der Gerichtsherren, denen ja Gelder aus jedem Verfahren zugingen, sei an der Existenz dieses Usus schuld. Da Beaumanoir offensichtlich von einer bekannten Verfahrensweise ausgeht, dürfte sie im 13. Jahrhundert schon einige Zeit in Gebrauch gewesen sein." (S. 187)
* Einen Standort mit Archivsignatur weiß freilich auch Dinzelbacher nicht anzugeben, seine Referenz ist eine Quellensammlung aus dem Jahr 1829, hier online zu finden (der zitierte Text steht auf S. 41):