Das ist schon eine "Schande", das Russland immer noch reichlich Material unter strengen Verschluss hält. Man muss ja reichlich viel zu verbergen haben und das Urteil der interessierten Öffentlichkeit fürchten.
Die russischen Archive wurden 1990 geöffnet und zugänglich gemacht. Deshalb steht die Forschung ja noch in den Anfängen.
Hier ein Auszug aus einem Vortrag von Jörg Baberowski:
„Verwandte Feinde? Stalinismus und Nationalsozialismus im Vergleich“
Dienstag, 20. Januar 2009, Bundesstiftung Aufarbeitung, Berlin
Ein Vortrags- und Gesprächsabend mit Prof. Dr. Jörg Baberowski,
Humboldt - Universität zu Berlin
Jörg Baberowski verwies in seinem Vortrag „Verwandte Feinde?“ auf die geteilte Erinnerung im mittlerweile vereinten Europa: Terror, Vernichtung, Krieg und Vertreibung seien Begriffe, die in Westeuropa fast ausschließlich für die Verbrechen des NS-Regimes stünden. Die 80jährige Diktaturspanne des Stalinismus habe sich im kollektiven Gedächtnis Westeuropas nicht niedergeschlagen, wobei derselbe in Osteuropa eine zentrale Bedeutung innerhalb der Erinnerungskultur besäße. Bezugnahme und Vergleiche beider Diktaturformen könnten – so Baberowski - „doktrinäre Besserwisserei“ verhindern helfen und so plädierte er dafür, sich die die exzessive Gewalt in ihren jeweils spezifischen Ausformungen konkret anzuschauen.
Anders als die Totalitarismustheoretiker Hannah Arendt und Carl Friedrich sieht Baberowski die Notwendigkeit, nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede von Diktaturen zu beleuchten und somit die Analyse weiter zu fassen. Nach der Öffnung der Archive der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre sei gesichertes Wissen zugänglich gemacht worden und damit eine produktive Vergleichsbasis entstanden, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus auf eine neue Ebene gehoben hätten. Daran anknüpfend, zielte Baberowski darauf, die gewonnenen Erkenntnishorizonte für ein Verständnis von Diktatur bzw. gewaltsamen Terror zu veranschaulichen. So sei der Bolschewismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus keine Antwort auf den Liberalismus gewesen – das Ziel der Bolschewiken vor dem Zweiten Weltkrieg war es in erster Linie, das post-zaristische riesige, bäuerlich strukturierte Vielvölkerreich Russland zu homogenisieren. Die Sowjetunion sei ein „vormoderner Personenstaat“ gewesen, der eine Erziehungs- und Disziplinierungskultur zu etablieren versucht habe. „Gewaltkampagnen“ hätten eine Gewaltdynamik entstehen lassen, die in Stalin den „Regisseur des Terrors“ hatten. Demgegenüber habe die Bevölkerungsmehrheit das NS-Regime bis Kriegsbeginn als eine vergleichsweise “normgebundene“, berechenbare und moderne Diktatur erlebt. Es waren die verschwindend kleine Minderheit der politisch aktiven Gegner sowie die als rassisch „minderwertig“ oder „schädlich“ diskriminierten Menschen, die die wachsende Härte des diktatorischen Regimes erleben und erleiden mussten, das nach Kriegsbeginn, im vollen Ausmaß ab 1943 seine massen- und völkermordende Dimension erlangte. vollends durchgeschlagen. In der Vorkriegszeit hätte das NS-Regime in Bezug auf die Bevölkerungsmehrheit das Prinzip der „Nicht-Einmischung“ statt Umerziehung verfolgt. Hitler habe dabei als Repräsentant einer Idee fungiert, nicht als der eines Staates. Diametral unterschiedlich sei in dieser Hinsicht das Regime Stalins in der Sowjetunion gewesen. Während die Gewalt im Stalinismus in den großen Säuberungen der 30er Jahre bereits weithin entgrenzt war, wurde der Zweite Weltkrieg schließlich für beide Systeme zum zivilisationsund staatsfernen Raum, der die Möglichkeit gab, uneingeschränkte Gewalt als Mittel der Politik anzuwenden..
Diese Betrachtung bildete schlussendlich den Grundstein für Baberowskis These, nach der es nicht Homogenitätsphantasien oder ‚moderne’ Ideologien waren, die Vernichtungsprozesse realisiert haben, sondern die Herstellung von ‚vormodernen’ Gewalträumen, die das Denkbare zum Machbaren werden ließen.