Wie es sich in den deutschen Kolonien verhielt, weiß ich zugegebenermaßen nicht, aber zumindest im Bezug auf einige britische Kolonien und Französisch-Nordafrika dürfte man durchaus nicht nur nach Eisenbahnkilometern fragen, sondern bspw. auch nach einer gesunkenen Kinder- und Müttersterblichkeit. Ist es "eurozentrischer Fortschrittsglaube", wenn man einen Zugang zu funktionierender medizinischer Versorgung für eine gute Sache hält?
Ein durchaus richtiger Einwand, wie ich finde.
Die Vorstellung, dass Fortschritt und Zivilisation darin zu messen wäre, wie viele Marmortempel, Eisenbahnkilometer etc. eine Zivilisation errichtet oder welches Glaubenssystem sie sich angeeignet hat, ist sicherlich Humbug.
Aber warum können Lebenserwartung, Schriftlichkeit und Alphabetisierung einer Kultur um nützliches Wissen weitergeben zu können oder Lebensqualität im Allgemeinen keine objektiven Gradmesser für Fortschritt sein?
Im Übrigen wäre ich auch etwas vorsichtig damit Eisenbahnkilometer (ohne sie als sinnvolle Messlatte betrachten zu wollen) etc. als rein "eurozentrischen Fortschrittsglauben" abzuqualifizieren und als "Kronzeugen" dafür würde ich Japan und die Meiji-Restauration benennen, denn auch wenn die "Öffnung Japans" im 19. Jahrhundert nicht ohne militärische Drohkulisse und Druck erfolgte, übernahm man die europäischen oder auch amerikanischen Vorstellungen von Fortschritt dort ja recht zügig und ging mit der "Iwakura-Mission" ja sogar so weit von sich aus eine Bestandsaufnahme der Errungenschaften Europas und der Vereinigten Staaten zu machen um ausgewählte Aspekte davon systematisch nachvollziehen und in der eigenen Gesellschaft implementieren zu können.
Entsprechende Bemühungen sich selbst an (West)Europa zu orientieren, hatte es ja auch von Seiten des Osmanischen Reiches mehrfach gegeben, wo man es offenbar ebenso für plausibel hielt die Westeuropäischen Fortschrittsmaßstäbe zu adaptieren und ihnen nachzueifern.
Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Eroberung und Unterdrückung. Auch die von Europäern kolonialisierten Weltgegenden lebten vor deren Ankunft keineswegs nur in Frieden oder Freiheit.
Vor allem könnte man die Frage stellen "wessen Freiheit" und das auch ganz explizit am Beispiel der medizinischen Versorgung festmachen.
Man könnte hier z.B. aus moralischen Erwägungen die Frage stellen: "Hat eine Gesellschaft eigentlich das Recht sich eine Lebensweise zu leisten, die einen Großteil ihrer schwächsten Mitglieder dem sicheren Tod überantwortet (z.b. wenn sie eine nomadische oder halbnomadische Lebensweise betreibt, die den Aufbau einer modernen medizinischen Infrastruktur sehr erschwert) oder die es ihren Mitgliedern verunmöglicht diese Gesellschaft zu verlassen und sich anderswo ein eigenes Leben aufzubauen, weil die Gesellschaft aus der die Person kommt, es unterlassen hat dafür notwendige elementare Bildung zu vermitteln, obwohl dies durch eine andere Lebensweise möglich gewesen wäre?
Ich persönlich frage mich ja immer, wie es einige Leute eigentlich hinbekommen, die archaischen tribalistischen Strukturen in einigen Weltgegenden zu verherrlichen, gleichzeitig aber darauf zu verweisen, dass der europäische Kolonialismus ein Unding gewesen sei, weil er die Menschenrechte der dortigen Bevölkerungen mit Füßen getreten habe.
Mit den problematischen Aspekten des Kolonialismus mögen sie ja durchaus recht haben, allerdings, wenn man Menschenrechte und Menschenwürde als Messlatte an die kolonialen Praktiken anlegt, müsste man sie auch an die präkolonialen Gesellschaften anlegen und ich weiß nicht, ob diese da so gut abschneiden würden.
Das sind sicherlich einige Überspitzungen, die man durchaus hinterfragen kann.
Insgesamt wird man sicherlich bei der Wertung bleiben können, dass der Kolonialismus (so wir vom 19. Jahrhundert reden) mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat. Das würde ich aber abweichend von der Tendenz der neueren Kolonialgeschichte, die sich ja vor allem sehr stark auf Afrika fokussiert vor allem an den europäischen Aktivitäten in Asien und im Norden Afrikas festmachen (nicht so sehr am subsaharischen Afrika) und zwar mit der Begründung dass ein Großteil der asiatischen Gesellschaften vor der Kolonisierung bereits so entwickelt war (Einigermaßen klare Eigentumsverhältnisse, Schriftlichkeit, teils erstaunlich hohe Alphabetisierungsraten der Bevölkerung nach vormodernen Maßsstäben etc.), dass die Implementierung europäischer Errungenschaften, die man objektiv als nützlich wird ansehen können, wie der Erwerb medizinischer Erkenntnisse oder eines modernen Bildungswesens und selbst die Teils etwas verqueren Maßstäbe des 19. Jahrhunderts, wie Eisenbahnkilometer auch auf dem Weg eines einfachen Wissenstransfers zu realisieren gewesen wäre und man dazu sicherlich keine koloniale Besatzung benötigte.
Die Vorstellung so weit entwickelte Gesellschaften, wie die größeren indischen Fürstentümer oder gar China, oder auch Teile des Maghreb wären ohne europäische "Mission Civilisatrice" grundsätzlich nicht im Stande gewesen relativ zügig zum europäischen Niveau in den entsprechenden Dingen aufzuschließen, halte ich für ziemlich absurd.
Der europäische Vorsprung durch die Systematisierung der Wissenschaft und die industrielle Produktiosnweise war zwar nicht unbeträchtlich, aber in diesen Gegenden waren die Grundlagen gelegt um das nachvollziehen zu können und dafür wie schnell das realisierbar war, wenn man die entsprechenden Gesellschaften einigermaßen in Ruhe ließ und wenn diese sich selbst für diesen Weg entschieden, kann abermals Japan herhalten.
Das Land schaffte es innerhalb von 50 Jahren seit den 1860ern bis zum 1. Weltkrieg weite Teile Europas, wie Spanien, Portugal oder die Balkanstaaten auf so ziemlich allen Ebenen abzuhängen und mit Italien in etwa gleich zu ziehen (es in einigen Bereichen zu übertreffen) und dass obwohl die Rohstoffbasis des Landes (relativ wenig Kohle als Energieträger und relativ wenig Erzvorkommen) für den Übergang zu industriellen Produktionsweise nicht günstig waren.
Trotzdem war man da sehr wohl in der Lage sich selbst im Eiltempo zu "zivilisieren" und Teile der kolonisierten Gebiete in Asien und Nordafrika hatten nicht so viel schlechtere indikatoren.
Hier war Gewalt sicherlich weitgehend überflüssig und diente mehr der Befriedigung des eigenen Selbstverständnisses, als das es objektiv irgendwas nutzte und wenn man den Kolonialismus als Gesamtphänomen betrachten möchte, kann man hier sicherlich überwiegend negatives konstatieren.
Das Gleiche natürlich, wenn man sich das subsaharische Afrika ansieht, bei einzelnen besonders herausstechenden Fällen, wie bei den "Siedlungskolonien" in Südafrika und Namibia (sicherlich auch Australien und Neuseeland) wo der Verdrängungsprozess der Indigenen Gruppen durch die Europäichen Siedler aus den ergiebigsten Gebieten mit den größten Ressourcen sicherlich zum nachhaltigen Nachteil der ursprünglichen Bewohner dieser Gebiete ging oder dem Kongo, wo die Menschenverachtung sicherlich auf die Spitze getrieben wurde.
Und sicherlich wird man auch die Aktivitäten einiger Persönlichkeiten (und da denke ich gerade konkret an Herrn Peters) negativ beurteilen müssen.
Aktivitäten der kolonialmächte in anderen Teilen des subsaharischen Afrika kann man zumindest im 19. und 20. Jahrhundert (also nach der Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels) sicherlich etwas zurückhaltender beurteilen, was das Gesamtergebnis (sicherlich nicht die brutalen Methoden angeht).
An und für sich wird man, wenn man das Gesamtphänomen betrachtet, aber denke ich doch zu einem stark überwiegend negativen Urteil kommen können.