Eine ungewöhnliche Einschätzung, zumal die Literatur, zumindest die mir zugängliche, von einem Sturm (storm) auf die Bastille spricht, bzw. von ihrer Eroberung. Was hat diese allgemeine Einschätzug Deiner Meinung nach übersehen oder fehlinterpretiert?
Ich würde mich nicht aus dem Fenster lehnen, wenn meine Einschätzung sich nicht auf eine glaubhafte Quelle bezöge.
Der prom. Historiker Meidenbauer weist in seinem Buch [1] nach, dass "es sich beim "Sturm" auf die Bastille freilich um eine Legende handelt, die dank handfester Interessen konserviert wurde. Was tatsächlich geschah, war zwar ebenfalls turbolent - ein Drama in fünf Akten -, hatte aber nichts mit dem zu tun, was man sich unter einer Revolution vorstellt." [1]
Ich skizziere einmal den Verlauf:
1. Akt: Das Volk geht auf die Strasse
Der König hatte am 11. Juli Necker entlassen. Gleichzeitig gingen Gerüchte, dass der König Truppen zusammenzieht, um die Bevölkerung in Schach zu halten. "In dieser Situation begannen die Pariser am 12. Juli 1789, sich Waffen zu verschaffen." [1]
"Bereits in der Nacht zum 14. Juli fielen Schüsse auf die Türme der Bastille. Obskure Gestalten waren auf den Straßen unterwegs, freigelassene Verbrecher und andere Ganoven, die das Polizeigebäude geplündert hatten. Sie mischten sich am Morgen unter eine Menge, die sich Kanonen und Munition aus einem Schuppen neben der Bastille verschaffen wollte. Die Versammelten führten weder eine eine Demonstration noch gar eine Erstürmung der Bastille im Schilde. Die Waffen, die sie suchten, waren aber tags zuvor in die Festung selbst geschafft worden." [1]
2.Akt: Verhandlungen
Die Menge stand am Morgen vor der verschlossenen Bastille. (Besatzung: 82 Invaliden + 32 Schweizer vom Regiment Salis-Samade. Die Festung verfügte über kaum Personal und kaum Lebensmittel und Wasser, um eine Belagerung durchzustehen.
Die Aufrührer schickten eine dreiköpfige Delegation zum Kommandaten Nicolas de Launey, "die dessen Absichten erkunden sollte. Launey erklärte sich nicht nur bereit, die Abgesandten zu empfangen, sondern überstellte ihnen darüber hinaus für die Dauer der Verhandlungen vier Unteroffiziere als Geiseln."[1]
In die Verhandlungen traf eine weitere Deputation ein, die vom "Ständigen Ausschuß" der Stadt Paris geschickt worden war. "Ihr Führer, Thuriot de la Rozière sollte erkunden, was Launey in der aufgeheizten Situation zu tun gedachte. Darüber hinaus sollte er ihn zum Abbau der Kanonen und zur Herausgabe der Waffen bewegen.
Launey freilich, ein ausgesprochen zurückhaltender Charakter, war unentschlossen. Weder, so seine Auskunft, könne er Waffen herausgeben, noch wrde er auf die Menge schießen, sofern er nicht angegriffen werde. Zur Bekräftigung seiner friedfertigen Absichten ließ er dies von der Festungsbesatzung beschwören und ermöglichte zudem eine genaue Inspektion der Bastille durch de la Rozière." [1]
Während der Verhandlungen begannen Hitzköpfe, in die Festung einzudringen - "unklar ist, ob sie sich gewaltsam Zutritt verschafft haben oder ob Launy die Zugbrücken herunterließ, um weitere Verhandlungen zu führen. Jedenfalls wurden Schüsse auf die Besatzung abgegeben. Diese erwiderte das Feuer mit Gewehren, ohne die Kononen der Bastille zu benutzen. Dennoch: die Menge fasste den Feuerwechsel als Bruch der Zusage Launeys auf. Es folgte ein wütender Marsch zum Rathaus, um die Stadtregierung zum Sturm auf die Bastille aufzufordern." [1]
Bürgermeister de Flesselles stellte eine weitere Delegation zusammen, "mit dem Ansinnen, Launey solle Truppen der Bürgerwehr Zutritt zur Bastille gewähren, um die Festung gemeinsam zu halten. Auch diese Deputation wurde freundlich aufgenommen: man werde übergeben, sofern die Delegation sich tatsächlich als Gesandtschaft der Stadt ausweisen könne." [1]
Eine weitere Delegation mit weißer Fahne wurde von Launey erkannt und in die Festung gebeten. "Aber die Abgeordneten blieben im Vorhof der Festung, wichen sogar zurück. Warum? Spätere Aussagen legten nahe, man habe auf sie geschossen, was sich indes nicht belegen ließ." [1]
3.Akt: Der Kanonenschuss
Dem Rückzug der Abgeordneten folgte eine Schießerei, "nachdem die Menge trotz wiederholter Warnungen der Besatzung nicht etwa ebenfalls zurückging, sondern weiter vordrang. Ihr Angriff wurde massiver: man schoß die Ecktürme in Brand, sprengte die Ketten der Zugbrücke, schlug das Tor ein. Zudem wurden außerhalb der eigentlichen Bastille gelegene Gebäude, Wachhäuser, Ställe und Schuppen geplündert und in Brand gesetzt." [1]
Der innere Bereich der Bastille war immer noch gut zu halten, dennoch gab die Besatzung nur einen Kanonenschuß ab, um die Menge zu bremsen.
Aber es hatte jetzt Tote und Verletzte gegeben. "Die Menge zog sich Richtung Rathaus zurück. Bürgermeister und Wahlherren wurden beschuldigt, mit Launey zu paktieren. Man drohte, das Stadthaus anzuzünden und die Mitglieder des Ständigen Ausschusses niederzumetzeln." [1]
"Währenddessen stellt sich der der Schweizer Pierre Augustin Hulin an die Spitze einer Garde, die vor dem Rathaus Position gezogen hatte. In einer flammenden Rede fragte er die Soldaten: "Die Bewohner von Paris werden ermordet, und ihr wollt nicht gegen die Bastille marschieren?"" [1]
4.Akt: Kapitulation und Übergabe
"Da machten sich die Soldaten, zwei Regimenter mit 150 Füsilieren und Grenadieren, auf den Weg zur Bastille und nahmen die Kanonen, die auf dem Platz vor dem Rathaus standen, mit. So konnten sie die Festung massiv unter Feuer nehmen. Deren KOmmandant erwog nunmehr verschiedene Gegenmaßnahmen, darunter sogar die Sprenung der Festung. Aber die Besatzung sprach sich für eine Kapitulation aus. Also ließ Launey, lange bevor die Bastille sturmreif war, eine weiße Fahne hissen, um seine Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren. Hulin und der Kommandat der Garde, Elie, sicherten freien Abzug zu, worauf Launey kapitulierte.
Die Tore wurden zur Übergabe geöffnet. Die Festungsbesatzung versammelte sich gegen 17 Uhr ohne Waffen auf dem Hof - die Bastille war kampflos übergeben, auch wenn etwa ein Dutzend Tote zu beklagen war." [1]
5. Akt: Der "Triumph der Freiheit"
"Die Soldaten hatten ihre Rechnung freilich ohne die Menge gemacht: Hulin und Elie wurden bei der Übergabe vom Mob förmlich überrannt. Daraufhin wollte Hulin die Bastille gemeinsam mit Launey verlassen und sich ins Stadthaus begeben. Aber auf dem Weg dahin wurden sie mehrfach angegriffen, Hulin schließlich überwältigt und ihm der Gouveneur entrissen. Launey und mehrere Besatzungsmitglieder - vier weitere Offiziere und drei Invaliden - wurden umgebracht, Launeys Leiche durch die Gosse geschleift. Ein Küchenjunge enthauptete den Toten schließlich mit einem Fleischhackmesser. Stundenlang zog die Menge durch die Stadt, den Kopf Launeys auf einer Stange voran..." [1]
"Das war der "Sturm" des 14. Juli 1789." [1]
In der Tat, mit Revolution hatte das Ganze nichts gemein. Dennoch hat sich diese Legende lange gehalten. Ein Grund dürfte dieser sein:
"Schließlich sorgten materielle Interessen dafür, dass die Legende überlebte: immerhin 863 Bürger durften den Titel "Erstürmer der Bastille" führen, der mit dem Bezug einer Ehrenrente verbunden war - offenbar handelte es sich um ausgesprochen robuste Persönlichkeiten, denn noch nach 85 Jahren, 1874, wurden solche Pensionen ausgezahlt. " [1]
Grüße
excideuil
[1] Meidenbauer, Jörg: Lexikon der Geschichtsirrtümer – Von Alpenüberquerung bis Zonengrenze, Eichborn, Frankfurt am Main, 2004, Seiten 34-39