War die SPD eine „revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei“?

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celineharding

Gast
Hallo,
ich habe folgende Aufgabenstellung erhalten:

Karl Kautsky, einer der Theoretiker der Sozialdemokratie, hat die SPD einmal als eine „revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei“ bezeichnet. Überprüfen Sie die Aussage dieses Zitats am Verhalten und der Argumentation des Spartakusbundes einerseits und des Rates der Volksbeauftragten andererseits im November 1918 zum Thema Revolution, Demokratie/Volk und zur Wirtschaftsordnung.

Dazu habe ich folgende Lösung erstellt:

Kautskys Aussage, die SPD sei eine „revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei“ muss zweiseitig betrachtet werden. Einerseits müssen Argumente dargelegt werden, die SPD sein eine (nicht) revolutionäre Partei und andererseits müssen Argumente gegeben werden, ob die SPD eine Revolution (nicht) durchgeführt hätte.

Der Spartakusbund, eine Gruppe, die Deutschland nach dem Vorbild der russischen Revolution umgestalten wollte, strebte das sozialistische Rätesystem an. Es sollte durch eine gewaltsame Revolution, ähnlich wie in Russland durch die Bolschewiki, durchgesetzt werden.

Nachdem das Ultimatum hinsichtlich der Abdankung Wilhelms II. wirkungslos verstrichen war, gab Reichskanzler Maximilian von Baden eigenmächtig die Abdankung bekannt. Gleichzeitig übergab er sein Amt verfassungswidrig Friedrich Ebert (MSPD). Während Ebert die Entscheidung über die künftige Staatsform einer gewählten Nationalversammlung überlasen wollte, rief sein Parteifreund Philipp Scheidemann die „Deutsche Republik“ aus. Er kam damit dem Spartakusführer Karl Liebknecht zuvor, der zwei Stunden später die „Sozialistische Republik Deutschland“ verkündete. Um der sich abzeichnenden Bildung einer sozialistischen Räterepublik zu begegnen, bemühte sich Ebert um eine Verständigung mit der USPD. Die beiden Parteien besetzten auf paritätischer Grundlage mit je drei Vertretern den „Rat der Volksbeauftragten“.

Mit Demonstrationen und Straßenkämpfen versuchten vor allem die Spartakisten weiterhin, ein parlamentarisches System zu verhindern und die Bevölkerung für die Räterepublik zu gewinnen. Um die innere Sicherheit zu gewährleisten, entschloss sich Ebert zu einer Vereinbarung mit dem Reichswehrgeneral Wilhelm Groener, der den Rückzug der deutschen Truppen leitetet. Im Namen der OHL bekundete dieser seine Loyalität gegenüber der Regierung und versprach militärische Unterstützung bei Unruhen. Ein weiterer nicht-Revolutions-Schritt der SPD.

Die Regierung Ebert scheute auch davor zurück, die militärischen Kommandostrukturen anzutasten. Die OHL hatte die Aufgabe, nach Abschluss des Waffenstillstands am 11. November 1918 innerhalb von 35 Tagen die deutschen Soldaten zurückzuführen. Dies konnte nur gelingen, wenn die revolutionäre Stimmung nicht die Disziplin in der Armee untergrub. Es wurde also vieles drangesetzt, um eine Revolution zu verhindern.

Anders als die politische Ordnung waren die Wirtschaftsverhältnisse nach dem Sturz der Monarchie von keiner wesentlichen Veränderung betroffen. In dem noch während der Revolution von 1918/19 abgeschlossenen Stinnes-Legien-Abkommen verzichteten die Gewerkschaften auf die sofortige Durchführung der Sozialisierung. Im Gegenzug erkannten die Arbeitgeber die Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeitnehmer und als Tarifpartner an. Schließlich beendete die Weimarer Verfassung die Sozialisierungsbestrebungen, die vor allem von der USPD und der KPD gefordert wurden. In den Artikeln 152 und 153 der Verfassung wurde den Unternehmern die Wirtschafts- und Eigentumsfreiheit garantiert.

Insofern kann behauptet werden, dass die SPD eine „revolutionäre“ Partei ist. Nach dem Ende des Kaiserreichs und der Monarchie setze sie um Friedrich Ebert alle Energien darauf, die parlamentarische Demokratie durchzusetzen. Dagegen ist sie „keine Revolution machende Partei“. Schließlich wurden diejenigen Kräfte innerhalb der SPD, die wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Marx’schen Erbe und der revolutionären Vision festgehalten haben, während des Krieges Schritt für Schritt an den Rand aus der Partei gedrängt. Sie haben deshalb zur Entstehung radikaler Formationen geführt.



Ich würde mich freuen, wenn jemand den Text Korrekturlesen würde und mir dazu eine Rückmeldung bzw. Verbesserungsvorschläge geben könnte.
Vielen Dank!
 
überlasen > überlassen
Ich habe den Eindruck, das Kautsky hier einen argumentativen Spagat versucht hat. Und ich nehme an, dass Dir klar ist, dass du an der Fragestellung vorbei geantwortet hast.
 
Vorausgeschickt: Ich kannte das Kautsky-Zitat bis heute nicht.

Fragen, die sich mir bei dieser Themenstellung aufdrängen würden, sind - mein "Vorschreiber" hat eh schon dezent darauf hingewiesen:

1. Wann, wo und in welchen Zusammenhang hat Kautsky das gesagt. Läßt sich daraus erschlie0en, was er mit seiner kryptischen Äußerung überhaupt gemeint hat. Oder kurz gefragt: Was soll diese Aussage, die sich ja selbst zu widersprechen scheint, überhaupt bedeuten ?

2. In der Themenstellung wird verlangt, die Kautskysche Aussage mit der Argumentation/dem Verhalten des Spartakusbundes und des Rats der Volksbeauftragten abzugleichen. Dazu fehlt mir: Wer ist/war der Rat der Volksbeauftragten, und was hat dieser und auch der Spartakusbund zur Rolle der SPD argumentiert.
 
1. Wann, wo und in welchen Zusammenhang hat Kautsky das gesagt. Läßt sich daraus erschlie0en, was er mit seiner kryptischen Äußerung überhaupt gemeint hat. Oder kurz gefragt: Was soll diese Aussage, die sich ja selbst zu widersprechen scheint, überhaupt bedeuten ?

Das Zitat stammt aus einem Artikel Kautskys über einen "sozialdemokratischen Katechismus" in der Neuen Zeit im Dezember 1893. In seinem Werk "Der Weg zur Macht" von 1909 zitiert er diesen Artikel (oder zumindest umfangreiche Teile):

"„Wir sind Revolutionäre, und zwar nicht bloß in dem Sinne, in dem die Dampfmaschine ein Revolutionär ist. Die soziale Umwälzung, die wir anstreben, kann nur erreicht werden mittels einer politischen Revolution, mittels der Eroberung der politischen Macht durch das kämpfende Proletariat. Und die bestimmte Staatsform, in der allein der Sozialismus verwirklicht werden kann, ist die Republik, und zwar im landläufigsten Sinne des Wortes, nämlich die demokratische Republik.

Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, dass es ebensowenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen. Und da die Revolution nicht von uns willkürlich gemacht werden kann, können wir auch nicht das Mindeste darüber sagen, wann, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sie eintreten wird. Wir wissen, dass der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat nicht enden wird, ehe nicht das letztere in den vollen Besitz der politischen Macht gelangt ist, die es dazu benützen wird, die sozialistische Gesellschaft einzuführen. Wir wissen, dass dieser Klassenkampf immer ausgedehnter und intensiver werden muss; dass das Proletariat an Zahl und moralischer und ökonomischer Kraft immer mehr wächst, dass daher sein Sieg und die Niederlage des Kapitalismus unausbleiblich ist, aber wir können nur höchst vage Vermutungen darüber haben, wann und wie die letzten entscheidenden Schlachten in diesem sozialen Krieg geschlagen werden. Das alles ist nichts Neues…"

Karl Kautsky: Der Weg zur Macht (5. Weder Revolution noch Gesetzlichkeit um jeden Preis)

Der zitierte Artikel geht noch etliche Absätze weiter.

Im Kern geht es also bei dem Zitat darum, dass die SPD zwar die Revolution anstrebt, sie aber selbst nicht durchführen kann (zumindest im Moment nicht).

Er führt im weiteren aus, dass es unter den gegebenen Bedingungen der relativen Pressefreiheit und der Möglichkeit der Teilnahme an Wahlen besser sei, bei gesetzlichen Methoden zu bleiben und Gewalt zu vermeiden, um einen "Tobsuchtsanfall" der herrschenden Klasse zu vermeiden oder zumindest solange hinauszuzögern, bis das Proletariat stark genug ist, in einer solchen Auseinandersetzung siegreich zu sein, da das Proletariat nach der marxistischen Theorie immer größer (und damit potentiell mächtiger) werden muss.

Er führt mehrere Beispiele aus mehreren Ländern an, wo einzelne Gewaltakte zu Rückschlägen für die Arbeiterbewegung geführt haben, u. a. die Attentate von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhem I, die er für die Sozialistengesetze Bismarcks verantwortlich macht.

Er kritisiert dabei insbesondere die Anarchisten, die er für solche Gewaltakte verantwortlich macht, bzw. diese durch anarchistische Denkweisen verursacht sieht.

Ich denke, man muss das Zitat aus dem Spannungsverhältnis der eher orthodox-marxistisch orientierten Teile der Sozialdemokratie zwischen noch radikaleren Kräften wie den Anarchisten (oder dem, was Kautsky darunter versteht) einerseits und der revisionistischen Strömung um Bernstein andererseits verstehen.

Er will also weder wie die Anarchisten die Revolution jetzt, noch will er das Ziel der Revolution wie Bernstein grundsätzlich aufgeben.

Eventuell muss man die Aussage, die Sozialdemokratie sei keine Revolutionen machende Partei z. T. auch als Beschwichtigung an die herrschende Klasse verstehen, um deren von ihm befürchteten "Tobsuchtsanfall" zu vermeiden.

Man muss ja auch bedenken, dass der Artikel nur wenige Jahre nach dem Ende der Sozialistengesetze entstanden ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
Im Kern geht es also bei dem Zitat darum, dass die SPD zwar die Revolution anstrebt, sie aber selbst nicht durchführen kann (zumindest im Moment nicht).

Das würde ich spizfindig etwas anders formulieren.

Als Exponent des "Marxistischen Zentrums" innerhalb der SPD und im Rahmen der Revisionismusdebatte stand Kautsky immer auf einem Standpunkt, der sich weigerte sich vollständig vom orthodoxen Marxismus zu trennen.

Folgt man aber den Theoretischen Einlassungen Marx' und der Vorstellung des historischen Materialismus, bzw. der materialistischen Geschichtsauffassung, vollziehen revolutionäre Umbrüche im politischen Sinne lediglich die vorausgegangenen Umwälzungen der materiellen Grundlagen einer Gesellschaft (Änderung der Besitzverhältnisse durch Industrialisierung etc.) nach.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist es technisch gesehen unmöglich eine Revolution zu machen, sondern die Revolution kommt durch die Änderung der Besitzverhältnisse und die unterminierung der wirtschaftlichen Macht der alten Eliten von ganz allein, während dieser Vorgang an und für sich allenfalls begleitet und gestaltet, aber nicht durch politischen Willen allein verursacht werden kann.

Insofern dürfte sich die Einlassung einer revolutionären, aber nicht "Revolution machenden" Partei gegen zwei politische Strömungen richten.

1. Gegen die revisionistischen Auffassungen Bernsteins und seiner Anhänger, die von Revolution nichts mehr wissen wollten und letztendlich bereit waren sich mit den Verhältnissen zu arrangieren und zu versuchen über den Weg der Reform ans Ziel zu kommen.

2. Gegen Strömungen, die die Auffassung vertraten einen Revolutionären Umsturz anzetteln und eine sozialistische Gesellschaftsordnung pro aktiv gestalten zu können.
Hierbei dürfte Kautsky tagesaktuell um 1909 allerdings weniger Attentate und das Werk von Einzelkämpfern à la Hödel und Nobilingim Auge gehabt haben, als viel mehr Auffassungen im Stil der "permanenten Revolition" wie Lenin und Trotzki das seit etwa 1905/1906 (wenn auch noch getrennt von einander und mit verschiedenen Auffassungen) vertraten und versuchten damit das Modell des orthodoxen Marxismus umzudrehen, die Revolution vorzuziehen und nach Erlangung der politischen Macht die materiellen Strukturen der Gesellschaft den neuen Machtverhältnissen anzupassen, sprich die ökonomische und soziale Revolution im Nachgang der politischen Revolution durch aktivs, zwanghaftes Umgstalten der Gesellschaft zu erzwingen, auch wenn er das nicht expressis verbis aussprach.

Er will also weder wie die Anarchisten die Revolution jetzt, noch will er das Ziel der Revolution wie Bernstein grundsätzlich aufgeben.
Im Bezug auf Bernstein einverstanden, aber Anarchisten dürften für Bernstein das geringere Problem gewesen sein, zumal die in Deutschland, wenn man es mit anderen Ländern wie Frankreich, Russland oder Italien vergleicht ohnehin keine besonders hohe Akzeptanz fanden.
Problematischer für Bernstein dürften tatsächlich diejenigen Strömungen in der Sozialdemokratie gewesen sein, die begannen sich für die seit 1903 (Lenins "Was tun"?) und 1905/1906 (Trotzkis Schrift "Ergebnisse und Perspektiven") herumgeisternden alternativen Konzepte innerhalb des sozialistischen Spektrums zu interessieren begannen und für die Vorstellung in Abkehr vom orthodoxen Marxismus Revolution tatsächlich erzwingen und der Gesellschaft überstülpen zu können.

Anarchisten gab es in der SPD kaum, der Marxismus als Grundlage war keine Strömung, die Anarchisten besonders ansprach.
Anhänger der Vorstellung eine Revolution nicht nur im Stil des orthodoxen Marxismus begleiten und gestalten, sondern sie im Sinne Lenins und Trotzkis herbeiführen und erzwingen zu können, dürfte es demgegenüber zunehmend gegeben haben, die Spaltung der SPD und dann die Abspaltung der Kommunisten von der USPD fiel nicht vom Himmel und sie war kein reines Kriegsphänomen.
Der Krieg dürfte in dieser Hinsicht lediglich beschleunigt haben, was sich um 1910 herum durchaus bereits abzeichnete, nämlich dass die Sozialdemokratie dabei war ihre Fähigkeit zur Integration des sozialen Protests einzubüßen, weil ein Teil ihrer Klientel von Revolution nichts mehr wissen wollte und ein anderer Teil nicht mehr bereit war darauf zu warten.

Was Kautsky tat war mehr oder minder den orthodoxen Marxismus zu beschwören und mit diesem den Bernsteinschen Revisionisten entgegen zu halten, dass Revolution sich ohnehin irgndendwann vollziehen würde, ob man sie wollte oder nicht, womit sich auf den Standpunkt zu stellen sie abzulehnen unsinnig wäre, da nicht zu verhindern.
Und gleichzeitig denjenigen, die begannen sich an das Konzept der "permanenten Revolution" zu hängen entgegen zu halten, dass die Vorstellung durch die politische Revolution die soziale Revolution vorwegnehmen und sie erzwingen zu können falsch sei.
 
Zuletzt bearbeitet:
2. Gegen Strömungen, die die Auffassung vertraten einen Revolutionären Umsturz anzetteln und eine sozialistische Gesellschaftsordnung pro aktiv gestalten zu können.
Hierbei dürfte Kautsky tagesaktuell um 1909 allerdings weniger Attentate und das Werk von Einzelkämpfern à la Hödel und Nobilingim Auge gehabt haben, als viel mehr Auffassungen im Stil der "permanenten Revolition" wie Lenin und Trotzki das seit etwa 1905/1906 (wenn auch noch getrennt von einander und mit verschiedenen Auffassungen) vertraten und versuchten damit das Modell des orthodoxen Marxismus umzudrehen, die Revolution vorzuziehen und nach Erlangung der politischen Macht die materiellen Strukturen der Gesellschaft den neuen Machtverhältnissen anzupassen, sprich die ökonomische und soziale Revolution im Nachgang der politischen Revolution durch aktivs, zwanghaftes Umgstalten der Gesellschaft zu erzwingen, auch wenn er das nicht expressis verbis aussprach.

Das verlinkte Werk ist zwar von 1909, der Artikel, den Kautsky zitiert und der das Zitat mit den Revolutionen enthält, ist allerdings von 1893, jedenfalls schreibt Kautsky das. Entsprechend beleuchtet der Artikel die politische Situation von 1893.

Im Bezug auf Bernstein einverstanden, aber Anarchisten dürften für Bernstein das geringere Problem gewesen sein, zumal die in Deutschland, wenn man es mit anderen Ländern wie Frankreich, Russland oder Italien vergleicht ohnehin keine besonders hohe Akzeptanz fanden.
Problematischer für Bernstein dürften tatsächlich diejenigen Strömungen in der Sozialdemokratie gewesen sein, die begannen sich für die seit 1903 (Lenins "Was tun"?) und 1905/1906 (Trotzkis Schrift "Ergebnisse und Perspektiven") herumgeisternden alternativen Konzepte innerhalb des sozialistischen Spektrums zu interessieren begannen und für die Vorstellung in Abkehr vom orthodoxen Marxismus Revolution tatsächlich erzwingen und der Gesellschaft überstülpen zu können.

Er arbeitet sich in dem Artikel jedenfalls überwiegend an den Anarchisten ab, bzw. an Positionen oder Aktionen, die er für anarchistisch hält. Ob die jeweils Handelnden tatsächlich Anarchisten waren oder sich so verstanden, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Er schreibt an einer Stelle auch davon, dass die Mittel der Handelnden nach aktuellem Sprachgebrauch (aktuell = 1893) als anarchistisch bezeichnet werden könne, was daraufhin deutet, dass die Akteure sich wohl nicht alle selbst als Anarchisten gesehen haben:

"Nur in einigen Fällen seit 1871 hat die proletarische Bewegung größere Rückschläge zu erleiden gehabt, und jedesmal war die Schuld daran das Eingreifen einzelner Personen mit Mitteln, die man nach dem heutigen Sprachgebrauch als anarchistische bezeichnen kann, die der von der weitaus größten Mehrzahl der jetzigen Anarchisten gepredigten Taktik „der Propaganda der Tat“ entsprechen. "

Insgesamt kommt der String "Anarchis" in dem zitierten Artikel von 1893 nicht weniger als 17 mal vor.

In dem Text von 1909, in dem er den Artikel von 1893 kommentiert, bringt er dann noch den Syndikalismus als seiner Ansicht nach jüngste "Spielart der Anarchisterei" ins Spiel.

Anarchisten gab es in der SPD kaum, der Marxismus als Grundlage war keine Strömung, die Anarchisten besonders ansprach.

Man muss seine Warnung vor Anarchisten oder anarchistischen Mitteln denke ich nicht nur aus der Perspektive eines Konkurrenzkampfes unterschiedlicher Positionen innerhalb der SPD sehen. Er befürchtete wohl vielmehr, dass anarchistische Taten die herrschenden Klassen zu erheblichen Repressionen gegenüber der Arbeiterbewegung veranlassen könnten, bevor diese stark genug ist, um erfolgreich Widerstand leisten zu können. Dafür reichten unter Umständen die Taten einzelner aus. Siehe die Attentate auf Kaiser Wilhelm und die Sozialistengesetze.
 
Zu den Vorschreibenden: Generell zustimmend, was das Kautsky-Zitat betrifft (Nuancen erspar ich mir hier).

Aber es bleibt die Frage: War Kautsky mit seinem Zitat prophetisch, oder lag er doch falsch ?

MMn. und nur die M-SPD von 1918 betreffend:
a) Richtig ist, daß die SPD die Novemberrevolution 1918 nicht gemacht hat. Fast egal, was man für den Grund der Revolte hält (Verlorener Krieg und Kriegsmüdigkeit/katastrophale Versorgungslage, Auflösunngserscheinungen des bestehenden Regimes, Streikbewegungen 1916/17/18 schließlich die Meuterei in Kiel selbst), die SPD war an diesen Ereignissen "schuldlos" und bestenfalls rudimentär (oder in Form einzelner Mitglieder) beteiligt. Polemisch formuliert war die Entscheidung der OHL, sich vor der Verantwortung für den verlorenen Krieg zu drücken, wahrscheinlich entscheidender als das Verhalten der SPD mit ihrer "Burgfriedenpolitik". Der SPD ist die Revolution von 1918 also "passiert" und sie ist ihr "in den Schoß gefallen". Diesbezüglich hatte Kautsky recht.
b) War sie aber "revolutionär" in dem Sinne, dass sie die ihr durch die Umstände zugefallene Umgestaltung gefördert, weierentwickelt, unterstützt und vielleicht vorangetrieben hat ? Ich glaube nicht. Ihre Rolle war das Unerwartete ungläubig aber dankbar als Geschenk anzunehmen sowie Weiterentwicklung zu behindern, zu bremsen und abzubiegen; sie hatte die Bereitschaft und den festen Willen, an jedem Punkt des Weges stehenzubleiben, zu zaudern und sich vor den alten Eliten zu fürchten. Wäre - wieder polemisch - der Kaiser nicht "freiwillig" abgereist, er ware heute noch im Amt. Diesbezüglich hatte Kautsky (der - zu seiner Entschuldigung gesagt - 1897 aber die "Gesamt-SPD" im Blickfeld hatte ) also nicht recht.
 
b) War sie aber "revolutionär" in dem Sinne, dass sie die ihr durch die Umstände zugefallene Umgestaltung gefördert, weierentwickelt, unterstützt und vielleicht vorangetrieben hat ? Ich glaube nicht.

Ich würde dir da zustimmen, wobei das daran gelegen haben dürfte, dass sich die SPD bereits während des Kriegs spaltete und somit in der M-SPD die Revisionisten deutlich an Gewicht gewannen, während das "Marxistische Zentrum"als Bindeglied zwischen den Revisionisten und der Parteilinken mehr oder weniger überflüssig geworden war.


Das verlinkte Werk ist zwar von 1909, der Artikel, den Kautsky zitiert und der das Zitat mit den Revolutionen enthält, ist allerdings von 1893, jedenfalls schreibt Kautsky das. Entsprechend beleuchtet der Artikel die politische Situation von 1893.

Da hast du besser aufgepasst als ich. 1893 hatte Kautsky natürlich noch keine Richtungen im Kopf die erst um 1905 auftauchten.
 
Ich finde die Aufgabenstellung spannend. Um den Zeitgeist zu verstehen, sollte aber mit bedacht werden, dass Kautsky diese Zitat nur drei Jahre nach der Aufhebung der Sozialistengesetze getätigt hat. Es wäre sehr gewagt gewesen, vor diesem Hintergrund etwas anderes zu sagen, als das die Revolution jemand anderes machen soll. Man darf die Rolle der Zensur im Kaiserreich nicht unterschätzen und sollte ihren Einfluss auf solche Äußerungen reflektieren. Glück auf!
 
Es wäre sehr gewagt gewesen, vor diesem Hintergrund etwas anderes zu sagen, als das die Revolution jemand anderes machen soll.
Das war vermutlich weniger der Grund. Die SPD war zu keiner Zeit eine Partei, die Revolutionen machte, denn all jene Mitglieder, die das im Sinn hatten, gingen – oder mussten gehen – und gründeten andere Parteien. Mehr noch: Mit der Zustimmung der SPD 1914 zu Kriegsanleihen wurden die Partei so etwas wie staatstragend, was sich in der Weimarer Republik sehr eindrücklich zeigte und in der Bundesrepublik fortsetzte.
 
Die SPD war zu keiner Zeit eine Partei, die Revolutionen machte, denn all jene Mitglieder, die das im Sinn hatten, gingen – oder mussten gehen – und gründeten andere Parteien.

Würde ich nicht unterschreiben wollen.

Der ADAV wurde 1863 gegründet, die SDAP 1869, die Vereinigung beider Organisationen aus der dann die SPD hervorging, fand 1875 statt.
Da waren, sowohl bei den beiden Vorgängerorganisationen, als auch in der ersten Generation der SPD noch eine ganze Menge Personen dabei, die die Revolution von 1848 in irgendeiner Weise mitgemacht hatten.
Ein Wilhelm Liebknecht als einer der bedeutenderen Mitbegründer der SPD, hatte auch dem "Bund der Kommunisten" angehört.

Da waren einige, die in der Frühzeit der SPD nur zu gerne Revolution gemacht hätten oder das vorher schonmal, nämlich 1848 veruscht hatten
Die Zeit lag 1893 noch nicht allzu lange zurück, Teile der Gründergeneration lebten noch und waren noch politisch aktiv.
Die Angriffe Eduard Bernsteins auf diverse marxistische Postulate und damit die Revisionismusdebatte innerhalb der SPD begannen erst 1896 und damit letztendlich auch die Kursänderung der SPD von einer die Revolution mindestens mal herbeisehnenden Bewegung zu einer politischen Organisation, die überhaupt in der Lage sein konnte zu versuchen sich mit dem Kaiserreich in irgendeiner Form zu arrangieren.

Mit der Zustimmung der SPD 1914 zu Kriegsanleihen wurden die Partei so etwas wie staatstragend, was sich in der Weimarer Republik sehr eindrücklich zeigte und in der Bundesrepublik fortsetzte.

Den Begriff "Staatstragend" halte ich im Bezug auf politische Parteien im Kaiserreich generell für wenig sinnvoll, da das System an und für sich nicht von denn politischen Parteien abhängig war.
Regierungen waren dem Kaiser, nicht dem Parlament gegenüber verantwortlich und paktierten mit den Parteien letztendlich nicht dauerhaft nach einem festen Programm, sondern nach Konjunkturen der Interessenslagen und einzelnen Sachthemen.

Das sich das Verhältnis von SPD und Reich zueinander durch die Bewilligung der Kriegskredite grundsätzlich verändert hätte, würde ich getrost ins Reich der populären Mythen verweisen wollen.
Insofern der Krieg bereits 2 Tage vor der Abstimmung erklärt worden war und deutsche Truppen mit der Besetzung Luxemburgs am 2. August 1914, also am Vortag der Abstimmung bereits auch die aktiven Kriegshandlungen aufgenommen waren, war eine Verweigerung schlicht keine Option.
Zumal durch die russische Mobilmachung zuvor durchaus der Eindruck von Kriegsabsichten der Entente gegen Deutschland im Raume stehen konnte und gerade das zaristische Russland als "Motor der Reaktion" für die Sozialdemokraten natürlich ein Schreckgespenst sui generis war.

Eine Zustimmung zu Anleien für einen Verteidigungskrieg gegen den russischen Zarismus (denn so konnte das den Sozialdemokraten damals erscheinen), war aber kein Manifest zur Unnterstützung des eigenen politischen Systems, sondern nur Anerkennung, dessen, dass es wahrscheinlich nicht so schlimm sei, wie das, was da eventuell käme, siegte die andere Seite.

Darüber inwiefern sich die SPD in der Weimarer Zeit tatsächlich "staatstragend" verhielt kann man insofern steiten, als dass in der Weimarer Zeit auch die SPD für das Scheitern der einen oder anderen Regierung durchaus mitverantwortlich war, was sicherlich nicht zur Stabilität des politischen Systems beigetragen hat.
Jedenfalls verhielt sie sich allerdings verfassungstreuer, als die anderen Parteien.
 
Seit den 1870ziger sprach die deutsche Sozialdemokratie zwar dauernd von der Revolution, meinte damit aber nur die von den steigenden Wähler- und Mitgliederziffern indizierte und von der ökonomischen Entwicklung garantierte naturgesetzliche oder naturnotwendige Entwicklung zum Sozialismus.
 
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