Elsass-Lothringen war aber zumindest eine deutschsprachige Provinz
Ich darf nochmal daran erinnern, es gab vor 1871 keine "Provinz" Elsass-Lothringen. Es gab die zwei mehrheitlich deutschsprachigen Rhein-Départements und das Mosel-Département um Metz in dem Sprecher des Deutschen in ähnlichem Maße eine Minderheit waren, wie die italienischsprachigen Communities in Istrien und Dalmatien.
Mal davon abgesehen, was macht denn der Umstand welche Sprache die Bevölkerung spricht für einen Unterschied, was das Faktum angeht, dass es sich um eine agressive Annexion handelte, für die es, wenn man nicht in schrägen, sehr verdreht nationalistischen Mustern oder eben in Kategorien machiavellistischer Funktionalität (die durchaus zynisch sein kann) denkt, keine wirklich gute Rechtfertigung gab?
Territoriale oder wirtschaftliche Ansprüche, von denen das Wohl und Wehe Italiens abhing, Konflikte, die den Bestand des Landes gefährdeten , die eine gewaltsame Lösung, einen Krieg alternativlos gemacht hätte- die gab es schlichtweg nicht.
Die gab es bei keiner der involvierten Großmächte.
Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung wie des Parlaments wünschte die Neutralität Italiens und war keineswegs bereit, wegen Istrien und Dalmatien das Risiko eines großen europäischen Krieges in Kauf zu nehmen.
War sie offensichtlich doch, immerhin hat der Versuch der Regierung das Land in den Krieg zu steuern funktioniert. Wäre die Bevölkerung tatsächlich nicht bereit gewesen, das
hinzunehmen (bitte sorgsam von "beführworten" unterscheiden), hätte dieser Versuch der Regierung zu Generalstreik und Revolution führen müssen. Tat er aber nicht.
Die Bevölkerung zog am Ende in den Krieg. In weiten Teilen zwar mürrisch, aber sie tat es.
Alles, was Italien an noch einigermaßen gerechtfertigten Forderungen und Kompensationen erheben konnte, das hätte Italien auch ohne Krieg und ohne dieses furchtbare Gemetzel haben können.
Wie?
Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Wien das Trentino zwar in Aussicht stellte, aber nicht bereit war, es vor Ende des Krieges zu übergeben.
Damit stand die italienische Regierung de facto mit nichts anderem da, als mit einem Versprechen.
Ein Versprechen, bei dem es keine Garantien gab, dass wenn die Zentralmächte den Krieg gewinnen sollten und Österreich-Ungarn seine Kräfte erst wieder frei haben würde, auch nur daran denken würde, es einzuhalten.
Immerhin, das Verhältnis zwischen Wien und Rom war nach wie vor nicht besonders vertrauensvoll, woran beide Seiten mit ihrem Verhalten ihren Anteil hatten und auch, dass sich Östrreich-Ungarn nach wie vor mit Conrad v. Hötzendorff einen ausgemachten Italienhasser und Präventivkriegsbeführworter als Generalstabschef (man bedenke den kriegsbedingt wachsenden Einfluss der Militärs gegenüber der zivilen Regierung) leistete, dürfte das Vertrauen nicht gerade gestärkt haben.
Eine italienische Regierung, die sich ohne Sicherheiten darauf eingelassen hätte, bis zum Ende des Krieges auf die Übergabe des Trentino zu warten und dann zu hoffen, dass Wien ehrlich genug sein würde, sich an das Zugesagte zu halten, wäre Gefahr gelaufen für ihre Neutralität am Ende bestraft zu werden, falls Wien nicht willens war sich daran auch zu halten.
Wenn Erpressung und Vertragsbruch als legitime Grundzüge der Politik akzeptiert werden [...]
Wie sonst meinst du, funktioniert Imperialismus? Wenn sich alle darin verwickelten Akteure an die Verträge in denen territoriale Grenzen etc. mal anerkannt worden sind (auch von eigener Seite her) gehalten hätten, wie hätten sie sich ausdehnen und ihre jweiligen Imperien schaffen sollen?
Das hätte nicht funktioniert.
Im Übrigen, dass dann Diplomatie ihren Sinn verloren hätte, das stimmt gerade nicht.
Sie war
gerade wegen des anarchischen Charakters der internationalen Politik von Bedeutung, um Koalitionen für die Durcchsetzung von Interessen oder die Einhegung von Gegnern durchzusetzen, wo diese von keinen anderen Spielregeln eingehegt wurden.
Genau so hatte Diplomatie funktional nach wie vor eine Rolle bei der Vorbereitug des Bruchs mit bisher bestehenden Verhältnissen, siehe die Verhandlungen zwischen der Entente und Italien über Preis für den italienischen Kriegseintritt.
Aber auch Machiavelli ging nicht davon aus, dass ein Fürst oder Politiker machen kann was er will. Bündnis- oder Vertragsbruch, Präventivkrieg das sich Hinwegsetzen über moralische Schranken- das sind Mittel der Politik, die der Notwehr vergleichbar sind. Machiavellis Ideen sind aber durchaus von einem hohen Verantwortungsbewusstsein geprägt. Ein sich Hinwegsetzen über moralische Schranken, das ist für Machiavelli ein Notbehelf in Ausnahmesituationen.
Machiavelli ist erstmal ein Denker aus einer ganz anderen Zeit.
Aus einer Zeit in der die Macht der Herrschenden noch prekär war, weil es keinen institutionellen Unterbau gab und das, was man vielleicht als "Proto-Staat" bezeichnen kann relativ wenig zugriff auf die Ressourcen des Landes hatte und dem als Auskunftsmittel bei Auseinandersetzungen oft nur die Gewalt blieb.
Das hat aber relativ wenig mit den Verhältnissen des beginnenden 20. Jahrhunderts zu tun.
Wenn Machiavelli darüber nachdachte, was ein Herrscher tun konnte oder nicht, dann spielt dort die weitgehend christliche Prägung der Bevölkerung eine und der persönliche Ruf des "Fürsten" eine Rolle.
Machiavelli war zar kein besonderer Freund von Moral als entscheidendem Referenzmodell zur Gestaltung von Politik, aber Realist genug die aus Moralvorstellungen hergeleiteten Ansprüche der Bevölkerung an die Legitimität des Herrschers sehr wohl zu berücksichtigen.
Nur war aber das legitimitätsspendende Modell des frühen 20. Jahrhunderts ganz anders geartet, als im Ausgehenden Mittelalter, insofern die Ideologie in den Köpfen der Menschen, die hauptsächlich vorherrschte keine christliche mehr war, sondern eine partikularistisch-nationalistische (jedenfalls bei allen Nicht-Sozialisten), mit explizit rassistischen und sozialdarwinistischen Zügen.
Und das bedeutet auch einen völligen Paradigmenwechsel dahingehend, welche Handlungsweisen der politischen Führung, wie immer sie aussieht, als legitiimitätsspendend angsehen werden.
Eine primär christlich-katholisch ausgerichtete Gesellschaft, wie Machiavelli sie zu seinen Lebzeiten kannte, in der Weisheit und Milde Idealtugenden des Herrschers waren und die Vorstellung, des unterschiedlichen Wertes von Menschen (so lange sie alle Christen waren und keine ständischen Rangunterschiede vorlagen) so eher nicht vorkam, hätte das Handeln der italienischen Regierung 1915 sicherlich als zutiefst irritierend und verstörend empfunden.
(Wenngleich Machivelli wegen seinem Aufruf zur Befreiung Italiens im letzten Kapitel des "principe" grundsätzlich auch als Kronzeuge für die Irredentisti bis zu einem gewissen Grad Anschlussfähig war)
Aber eine Gesellschaft, die dem Rassismus und dem Nationalismus, dem Sozialdarwinismus huldigte, und für die die Unterwerfung und Unterjochung Anderer und das Wachstum der eigenen Macht um mit anderen, deren Macht auch wuchs weiterhin konkurrieren zu können, als notwendigkeit betrachtete, tickte vollkommen anders.
In dieser Denkungsart, musste konsequenter Weise rücksichtsloses Machtstreben und erfolgreiche Expansion als lgitimitätsspendende Herrschertugend andere Vorstellungen ablösen.
Denn wenn die Welt nicht mehr als natürliche göttliche Ordnung wahrgenommen wurde, wie noch von den meisten Menschen im ausgehenden Mittelalter, sondern in der falsch verstandenen Version des "Survival of the fittest" als täglicher Kampf ums Überleben, in der am Ende nur derjenige übrig bleibt, der kontinuierlich Beute macht und wächst und sich daher der anderen erwehren kann, dann verliert derjnige Herrscher, der nicht andere unterwirft an Legitimität und schwächt seine Stellung.
Und deswegen wäre das Handeln der italienischen Regierung 1915 durchaus als eine (wenn auch vielleicht nicht die einzige) logische Konsequenz auch von Machivellis Gedankengängen zu betrachten (jedenfalls nach meine Dafürhalten) ohne Machiavelli selbst im besonderen Maße zu pervertieren.
Zugegeben, so wirklich hatte ja auch bei den Mittelmächten keiner ernsthaft geglaubt oder erwartet, dass auf Italien Verlass war. Die viel beschwülstete "Nibelungentreue" hat kein Mensch von Italien erwartet oder erwarten können. Conrad hat lange vor 1914 oder 1915 einen Präventivkrieg gegen Italien gefordert. So arg überraschend war daher der "Treuebruch" Italiens nicht und die heftige Empörung über den "Treuebruch" der "Abruzzen-Schufte" war ein wenig verlogen.
Mann muss sich vergegenwärtigen, dass ja 1914 alle mit einem kurzen Krieg rechneten.
D.h. wenn die militärischen Planer recht behalten hätten und das Ding einigermaßen schnell gelaufen wäre, wäre Italien möglicherweise tatsächlich den Krieg über neutral geblieben.
Nachdem es aber länger dauerte und der (auch wirtschaftliche, siehe Energieproblem) Druck auf Italien zunahm, während Wien sich erst weigerte Italien irgendeine Form von Kompensation zuzusagen und sich dann weigerte, dass unfreiwillig gegebene Versprechen, mit Sicherheiten zu unterlegen, was es für Rom unaufrichtig erscheinen lassen musste, wurde die Aufrechterhaltung der Neutralität natürlich für jede Regierung zunehmend schwierig, die innenpolitisch mittelfristig nicht in den Ruf geraten wollte, unter allen Optionen die Schlechteste gewählt zu haben.
Im Sommer und Herbst 1914 war die Zustimung zum Neutralitätskurs Giolittis noch relativ einhellig, aber das schwand zunehmend seit dem Winter 1914/1915.