wie sind die 10 Gebote Moses' im historischen Kontext einzuordnen?

Es sind zunächst wohl nur diejenigen von den Geboten geschützt, die sich aufgrund der Präambel auch selber an diese halten. Also Glaubensgemeinschaft.

Fragen:

1.) Gibt es Zeilen / Beispiele, die dies belegen? (dass Leute der gleichen Glaubensgemeinschaft geschützt sind)

2.) Gibt es auch Zeilen / Beispiele, die belegen, dass Leute ausserhalb der gleichen Glaubensgemeinschaft nicht geschützt sind?

3.) Gibt es auch dokumentierte Fälle, wo Leute innerhalb der Glaubensgemeinschaft nicht geschützt wurden (ich meine damit nicht "Trivial"-Fälle (denn z.B. Morde gibt es leider in jeder Glaubensgemeinschaft)), sondern so etwas wie Fehlentscheide / Fehlurteile oder so?
 
Um dieses interessante Thema weiterzuführen:

1. Zum historischen Rahmen

Der "ethische Dekalog", über den wir hier reden [1], wird nach der Tradition gegeben, kurz bevor das Volk, welches jahrzehntelang gewandert ist bzw. gewartet hat, ins gelobte Land einzieht, in geschichtlicher Zeit also im 12./11. Jh. v.Chr. Aus diesem Anlaß schließt JHWH einen Bund mit seinem Volk (vgl. http://www.geschichtsforum.de/f78/der-bund-im-alten-testament-4330/) und nennt bestimmte Grundsätze fürs soziale Miteinander der Stammesangehörigen, "die du [Mose] sie lehren sollst, daß sie darnach tun im Lande, daß ich ihnen geben werde einzunehmen" (Dtn. 5,28).

Was in der Bibel steht und damit kanonisiert wurde, ist ein 500-600 Jahre später entstandenes literarisches Produkt. Vermutlich ist
der Gründungsmythos "Bund Israels mit JHW" am Berg Sinai eine in die Vergangenheit verlegte Autonomieerklärung gegenüber Assur"
verbunden mit den erwähnten (bewährten?) Regeln. Davon sind die 10 Gebote nur eine Teilmenge; Ex. 21 ff. nennt viele weitere Normen bis hin zum Schadenersatz bei unerlaubten Handlungen, wie wir das heute nennen.

2. Zur "Doppelmoral" ("Kontrastbetonung"]
]...Leute der gleichen Glaubensgemeinschaft geschützt? ... Leute ausserhalb ... nicht geschützt?
Die zehn Gebote sind exklusiv. Sie sollen die Gruppe der Gläubigen gegen "die anderen" abgrenzen und damit identitätsstiftend wirken. Also nix mit all-inclusive, "alle Menschen werden Brüder", eher Kontrastbetonung.
Ja, es gibt einen scharfen Kontrast zwischen "Binnenmoral" und "Außenmoral", deren Wirkung man etwa so beschreiben kann: (a) Die für ein gedeihliches Zusammenleben notwendige Empathie unter den Mitglieder der "Ingroup" wird verstärkt, was den Zusammenhalt der Gruppe stärkt. (b) Das Empathievermögen gegenüber "Outgroups" wird herabgesetzt, und die Hemmungen, diesen Menschen "Böses" anzutun, werden vermindert.

Im Extremfall, so hat ein amerikanischer Zoologe formuliert, heiße die "Präferenz einer Gruppenmoral gegenüber der Unbarmherzigkeit des individuellen Kampfes" nichts weiter als "den Völkermord dem einfachen Mord vorzuziehen." [2]

3. Zur Rechts- und Wirtschaftsordnung

Insoweit müsste die Aussage
Meines Erachtens sind die Zehn Gebote die elementaren Gebote jedes menschlichen Zusammenlebens
um eine Bedingung ergänzt werden, welche die Abgrenzung innen/außen aufhebt bzw. wenigstens "lebbar" macht.
Es sind zunächst wohl nur diejenigen von den Geboten geschützt, die sich aufgrund der Präambel auch selber an diese halten. Also Glaubensgemeinschaft.
Der erste Satz verkörpert ja eine durchaus "moderne" Auffassung: Wer sich an allgemeine Gesetze hält, ist Mitglied der Rechtsgemeinschaft bzw. in diese "integriert". Aber nun kommt der Glaube, d. h. der "alte Bund", hinzu und verändert die Situation grundlegend.

Die nachfolgenden Gebote regeln die wirtschaftliche und juristische Ordnung (du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren deines nächsten Haus) Ordnung. Mit "du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten" wird ein wichtige Grundlage einer komlexen Wirtschaft gelegt, nämlich das Vertrauen.
Diesen Hinweis finde ich wichtig; er passt zu dem eingangs erwähnten Übergang eines wandernden Volkes zur Seßhaftigkeit. Dazu gibt es sicher noch mehr Material. [3]

Dass es eigens in §10 hervrgehoben wird, nicht seines Nächten Haus zu begehren, zeigt nur dass dies vorher üblich gewesen sein muss, dies zu tun. Die Isaeliten fanden es noch okay, sich Jericho einfach anzueignen. Das hatte aber keine Zukunft, das Eigentum musste geschützt werden, sonst wäre es mit der neuen Ordnung der Wirtschaftens auf Grund von anonymen Warenaustausches bald vorbei gewesen.
Meinst Du hier den Übergang vom "Kriegszustand", der sog. Landnahme in Kanaan, zur "Nachkriegsordnung"?


[1] Ex. 20, Dtn. 5; es gibt noch die beiden Dodekaloge Ex. 34 und Dtn. 27 sowie viele weitere "Kataloge".
[2] Zitiert nach Ridley: Die Biologie der Tugend. Berlin 1997, S. 268
[3] Ich habe Max Weber konsultiert (Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III, Stuttgart 8/1988, S. 1-280), jedoch keine konzise Aussage dazu gefunden.
 
Meinst Du hier den Übergang vom "Kriegszustand", der sog. Landnahme in Kanaan, zur "Nachkriegsordnung"?
Das ist die Frage.

Wenn die Israeliten einen Pakt mit Gott schließen, dessen Grundage 10 Gebote sind - davon eines, das besagt "Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Haus" - sich andererseits aber, sozusagen als Ergebnis eben dieses Paktes, Jericho aneignen - wie ist das zu verstehen ?

Eine Möglichkeit ist die Unterscheiden zwischen Innen und Außen : Die Landnahme gegenüber anderen ist legitim. Schließlich brauchen wir ja einen Ort zum Leben. Wir verdienen dieses Land mehr als die anderen, weil wir Gottes auserwähltes Volk sind. Untereinander respektieren wir aber das Eigentum, damit unser Zusammenleben funktioniert.

Eine andere Sichtweise wäre der Unterschied zwischen Vorher und Nachher. Erst eine grenzwertige Tat begehen, weil's nicht anders geht, sorry, aber danach werden wir aber ehrsam.

An die zweite Möglichkeit glaube ich eher nicht, weil die Eroberung schließlich unter den Augen und mit Unterstützung des Vertragspartners (Gott) geschieht und somit integraler Bestandteil des Paktes ist ["To fight for peace is the same as to f*** for virginity", Patty Smith]

Man kann also schlussfolgernd diese Frage als Beleg für die Exklusivität der Kooperation für die Angehörigen der eigenen Gesellschaft sehen und somit gegen eine intendierte Gültigkeit der Moral für den Umgang mit allen Menschen.
 
Eine andere Sichtweise wäre der Unterschied zwischen Vorher und Nachher. Erst eine grenzwertige Tat begehen, weil's nicht anders geht, sorry, aber danach werden wir aber ehrsam.
An die(se) zweite Möglichkeit glaube ich eher nicht, weil die Eroberung schließlich unter den Augen und mit Unterstützung des Vertragspartners (Gott) geschieht und somit integraler Bestandteil des Paktes ist...

Zur unterstrichenen Stelle: JHWH ist mehr als das! Er ist Auftraggeber (in Erfüllung eines alten Versprechens, Dtn. 6, 18 usw.) und zugleich Hauptkämpfer: "Er [Gott] gehet vor dir [Volk] her, ein verzehrend Feuer. Er wird sie [die fremden Völker] vertilgen, und wird sie unterwerfen vor dir her, und wirst sie vertreiben und umbringen bald, wie der HErr geredet hat" (Dtn. 9, 3 usw.).

"Landnahme", von mir selbst benutzt, ist ein Euphemismus ebenso wie "grenzwertige Tat": Es geht nicht darum, die Völker, die z. Z. noch im Lande Kanaan wohnen, zu beherrschen, sondern sie sollen vertrieben oder gleich ganz vernichtet (ausgerottet) werden. Wie dieser ausdrückliche Auftrag erledigt wird, zeigt das Buch Josua.

An der Richtigkeit Deines Schlußsatzes ändert das natürlich nichts.
 
Die Familie mt der Einehe im Mittelpunkt (nicht mehr die erweiterte Sippe) wird als Basiseinheit dieser Gesellschaft bestimmt und ihr Wert (Vater und Mutter ehren, nicht ehebrechen) beschworen.
Ich möchte gern auf meine These zurückkommen, dass das Leitmotiv der menschlichen Geschichte das ständige Wachstum der Bevölkerungszahl ist, was - sowohl als Ursache als auch als Wirkung - mit der ständigen Anpassung der gesellschaftlichen Organisationsformen einhergehen muss, die ihrerseits neuer Religionen bedürfen.

Die traditionelle Organisationsform ist der Sippenverband. Ein solcher besteht aus Personen, die sich alle persönlich kennen und alle miteinander verwandt sind. Der Verwandschaftsgrad ist für die soziale Struktur sehr wichtig, er regelt den Umgang im Allgemeinen und die Eheschließung im Besonderen der Personen untereinander. Letzere ist nicht unbedingt als lebenslange Einehe zu verstehen - es gibt da flexiblere Modelle (die aber weit entfernt sind von Promiskuität). Das Verhältnis zwischen verschiedenen Sippen ist Gegenstand komplizierter Interaktionen, die in der Regel eine friedliche Koexistenz zum Ziel haben, wozu auch Austausch von Gütern, Hilfeleistungen und HeiratskandiatInnen gehört.

Ein solcher Sippenverband erreicht eine Grenze bei etwa 150 Mitgliedern, dann wird sie instabil und funktioniert nicht mehr richtig. Der Grund ist wahrscheinlich der, dass es bei einer höheren Zahl einfach nicht mehr möglich ist, dass sich jeder um jeden in angemessener Weise kümmert. An diesem Punkt spaltet sich die Sippe und ein Teil zieht woanders hin, und das Spiel beginnt von Neuem.

Es ist evident, dass dies bei kontinuierlich wachsender Bevölkerungsdichte irgendwann mal nicht mehr richtig funktioniert. Es gibt dann zuviele Sippen, das Nahrungsangebot wird knapp, die Ressourcen sind heftig umkmpft, die Konflikte zwischen den Sippen nehmen zu, für eine sich spaltende Sippe wird das "Woanders" knapp, jede Wanderung ist mit Auseinandesetzungen mit den Eingesessenen verbunden.

Gerade das ständig herumirrende Volk Israel wird hier Handlungsbedarf verspürt haben. Eine neue Organisationsform musste her, eine, die es mögich machte, eine größere Gesellschaftseinheit funktionsfähig zu machen. Das ist aber nur möglich, wenn die Individuen sich an entsprechende Verhaltensweisen halten. Dieser individuelle Verhaltenkodex ist in den Zehn Geboten zusammengefasst.

Die Frage, die ich oben stellte ist, ist die, ob die Errichtung von Organisationseinheiten von > 150 Leuten die Zerschlagung der alten Sippenstruktur notwenig macht. Musste man also die Loyalität zu Onkels und Vettern zweiten Grades aufkündigen und durch das Gebot zur Kooperation mit den anonymen "Nächsten" zu ersetzen ? Wird deshalb der besondere Respekt nur auf Vater und Mutter sowie auf die Ehe beschränkt ? War die Einführung der lebenslangen Einehe ein notwendiges Element der neuen Verhaltenslogik ? Musste zur Realisierung des neuen Organigramms eine hierarchische Ebene, nämlich die Sippenloyalität (und das Sippentotem), entfernt werden ?
 
Meines Erachtens liegt der Kern in der Gleichstellung der Liebe Gottes und der Nächstenliebe. Nur wenn der Nächste (auch der nicht der engen Sippe angehörige) geliebt wird, zeige ich, dass ich Gott auch liebe, und umgekehrt: Liebe ich Gott, liebe ich auch meinen Nächsten, sonst liebe ich Gott nicht.
Es ist die unglaubliche Aufwertung des einzelnen Menschen, die die enge Sippengrenze sprengen lässt.

Das von mir schon erwähnte Sabbatgebot ist ein weiteres Beispiel für die Aufwertung des Individuums:
Auch Sklaven sollen die Sabbatruhe halten.
Zumindest am Sabbat hat der Sklave die gleiche Stellung.

Ich denke, die persönliche Gottesbeziehung ermöglicht durch die Stärkung des Individuums den Blick über den "Sippentellerrand" hinaus.
 
- Das Gebot "Du sollst Vater und Mutter ehren" war vermutlich im Sinne des Achtens, Respektierens gemeint. Nichtsdestotrotz haben die Leute die Eltern jahrhundertelang gesiezt, weil das Gebot vermutlich falsch interpretiert wurde.
Als ich aufwuchs, war es noch ganz normal, daß Kindern ihre Eltern siezten. Heute ist eher duzen üblich. Das geht aber jetzt soweit, daß ein Halbwüchsiger, der hinter einer Kasse in einem Laden sitzt, mich duzt.

Ich sage noch immer zu meiner 92-jährige Mutter «SIE». Für mich steht sie damit höher auf einer Leiter.
 
Als ich aufwuchs, war es noch ganz normal, daß Kindern ihre Eltern siezten. Heute ist eher duzen üblich. Das geht aber jetzt soweit, daß ein Halbwüchsiger, der hinter einer Kasse in einem Laden sitzt, mich duzt.

Ich sage noch immer zu meiner 92-jährige Mutter «SIE». Für mich steht sie damit höher auf einer Leiter.
Andere Länder, andere Sitten. In Holland, pardon den Niederlanden, ist das Siezen der Eltern noch verbreitet, besonders hier:
Bibelgürtel (Niederlande) ? Wikipedia

In Dänemark siezt man dagegen, wenn überhaupt, allenfalls die Royals.
 
Die Frage, die ich oben stellte ist, ist die, ob die Errichtung von Organisationseinheiten von >150 Leuten die Zerschlagung der alten Sippenstruktur notwenig macht. Musste man also die Loyalität zu Onkels und Vettern zweiten Grades aufkündigen und durch das Gebot zur Kooperation mit den anonymen "Nächsten" zu ersetzen ?
Hinzufügen möchte ich die Frage, ob der nächst folgende Religionswechsel (das Neue Testament) an den 10 Geboten etwas änderte oder ob Jesus sie "nur" verschärfte ("Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst").

Stellt das Christentum hinsichtlich der 10 Gebote und der damit verbundenen Vergrößerung der Gesellschaftseinheiten überhaupt eine Innovation dar ?
 
Erstmal Dank für den Beitrag! Es geht im Grunde auch um eine rechtsanthropologische Fragestellung: Woher kommt das Recht überhaupt, und in welchem "politischen" Rahmen entsteht es? Was den konkreten Fall betrifft, d.h. die vorstaatliche Organisation des Volkes Israel, so gibt es eine sehr umfangreiche Literatur dazu (u.a. Rainer Albertz, Frank Crüsemann, der soeben verstorbene Erich Zenger), auf die Du Dich wahrscheinlich beziehst.

Erstmal ein paar Rückfragen:
...dass das Leitmotiv der menschlichen Geschichte das ständige Wachstum der Bevölkerungszahl ist...
... das ständig herumirrende Volk Israel...
Grundsätzlich ist das sicher ein Leitmotiv. Freilich habe ich im konkreten Fall doch Einwände: Warum sollte ausgerechnet ein Volk, dass 40 Jahre "herumgeirrt" ist, mit einem ständigen Wachstum der Bevölkerungszahl zu kämpfen haben? Hast Du Belege dafür?

Die traditionelle Organisationsform ist der Sippenverband... Verhältnis zwischen verschiedenen Sippen...
Die ökonomischen Grundlagen eines Volkes, das 40 Jahre herumirrt, sind vermutlich nicht leicht zu bestimmen. Jäger und Sammler waren es sicher nicht mehr, d.h. die Organisationsform der "Horde" war längst überwunden.

Die biblische Erzählung erwähnt Stämme, Geschlechter, Sippen, Rotten, (Groß-)Familien und das "Haus". Sippenverband passt m.E. am ehesten auf Geschlecht (gens). Wir haben es, um Durkheims Begriff aufzunehmen, mit einer sog. segmentären Gesellschaft zu tun, bei der die Verwandtschaft das Produktions- und Reproduktionsverhältnis regelt. Typisch für die Struktur einer solchen Gruppe (lineage) ist die agnatische Verwandtschaft, d.h. ein Kind ist entweder nur mit der Verwandtschaft seines Vaters verwandt (patrilineare lineage) oder seiner Mutter (matrilineare lineage); innerhalb dieser so definierten Verwandtschaft darf man nicht heiraten bzw. gilt das Inzesttabu.

Ein solcher Sippenverband erreicht eine Grenze von etwa 150 Mitgliedern, dann wird sie instabil und funktioniert nicht mehr richtig. Der Grund ist wahrscheinlich der, dass es bei einer höheren Zahl einfach nicht mehr möglich ist, dass sich jeder um jeden in angemessener Weise kümmert.
Die Zahlenangabe "150" ist nicht unplausibel, aber woher kommt sie? Und welche Beziehung kann hergestellt werden zu den in Numeri 1 und anderswo genannten Zahlen?

Ich bin auch nicht sicher, dass es in diesem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung noch darauf ankommt, "dass sich jeder um jeden kümmert". "Verwandtschaft" erlischt ja nicht dadurch, dass Onkel und Tanten weiter weg wohnen. Umgekehrt gibt es sicher viele Fälle, in denen verschiedene lineages miteinander an ein und demselben Ort wohnten und sich unter ihnen eine Art von "Gemeinschaftsbewusstsein" entwickelte.

...ob die Errichtung von Organisationseinheiten von > 150 Leuten die Zerschlagung der alten Sippenstruktur notwenig macht... Musste zur Realisierung des neuen Organigramms eine hierarchische Ebene, nämlich die Sippenloyalität (und das Sippentotem), entfernt werden?
Ab irgendeinem Punkt jedenfalls, da sind wir uns einig, beginnt die segmentäre Gesellschaft überzugehen von einer akephalen Form, in der das Element Herrschaft bzw. Zentralgewalt keine Rolle spielt oder nur eine untergeordnete, in eine kephale.

Die Besonderheit beim Volk Israel könnte man nun darin sehen, dass das Kephale (der Kopf) in dem "neuen Organigramm" zunächst nicht, wie üblich, in einem König besteht, sondern in einem Gott! Nicht ein Mensch wie Hammurabi formuliert die ersten und grundlegenden Gesetze des Zusammenlebens, sondern dieser Gott selbst (mit Hilfe eines Mittelmanns bzw. "Übersetzers"). Erst zu einem späteren Zeitpunkt kommt es zur Ausbildung eines Königtums.

Meines Erachtens liegt der Kern in der Gleichstellung der Liebe Gottes und der Nächstenliebe. Nur wenn der Nächste (auch der nicht der engen Sippe angehörige) geliebt wird, zeige ich, dass ich Gott auch liebe, und umgekehrt: Liebe ich Gott, liebe ich auch meinen Nächsten, sonst liebe ich Gott nicht.
Das klingt sympathisch, aber ich habe Mühe, Begriffe wie "Gottesliebe" und "Nächstenliebe" in das skizzierte Ablaufschema einzufügen. (Vielleicht ist das Schema zu schematisch...:winke:)

Etwas pauschal gesagt: Für eine segmentäre Gesellschaft ist es nicht existenznotwendig, dass die Menschen einander lieben; es reicht aus, wenn sie den Grundsatz der Reziprozität - Klaus: "Austausch von Gütern, Hilfeleistungen und HeiratskandiatInnen" - beherzigen. Und für eine (proto)staatliche Gesellschaft kommt es darauf an, dass sie die "von oben" gesetzte Ordnung respektieren. Wie in der Familie halt: "Ein jeglicher fürchte seine Mutter und seinen Vater" (3.Mo.19,3).
 
..., auf die Du Dich wahrscheinlich beziehst.
Leider kann ich mich mangels literarischer Bildung hauptsächlich nur auf mich selbst beziehen.

Warum sollte ausgerechnet ein Volk, dass 40 Jahre "herumgeirrt" ist, mit einem ständigen Wachstum der Bevölkerungszahl zu kämpfen haben?
Genau weil das Herumirren eine Folge der Überbevölkerung ist. Wenn nicht schon alles nutzbare Land besetzt gewesen wäre, hätten sie sich schon viel früher niederlassen können.

Wobei, wie ich schon früher ausgeführt habe, "Überbevölkerung" relativ zum jeweiligen Stand der Ernährungslage und der sozialen Organisation zu sehen ist. Ändert sich diese, wird also "effektiver", dann stellt die Bevölkerungszahl keine Überbevölkerung mehr dar.

Die biblische Erzählung erwähnt Stämme, Geschlechter, Sippen, Rotten, (Groß-)Familien und das "Haus".
Hier kommt das Henne-Ei-Prinzip zur Geltung. Sicherlich bildet sich nicht erst eine Religion und dann eine Gesellschaft - oder umgekehrt - sondern die Bildung (und das Scheitern) von "dichter gepackten" Gesellschaftsformen geht einher mit der Suche nach einer passenden Ordnung.

Die Zahlenangabe "150" ist nicht unplausibel, aber woher kommt sie?
Diese Zahl gibt der Humanethologe I. Eibl-Eibesfeldt für heute existierende indigene Völker in Afrika, Neuguinea und Südamerika an.
 
Genau weil das Herumirren eine Folge der Überbevölkerung ist. Wenn nicht chon alles nutzbare Land besetzt gewesen wäre, hätten sie sich schon viel früher niederlassen können.

Wobei, wie ich schon früher ausgeführt habe, "Überbevölkerung" relativ zum jeweiligen Stand der Ernährungslage und der sozialen Organisation zu sehen ist. Ändert sich diese, wird also "effektiver", dann stellt die Bevölkerungszahl keine Überbevölkerung mehr dar.

hmm... also ehrlich gesagt, ich kann mir das Nomadentum aufgrund bereits vorhandener indigener Bevölkerung nicht erklären. Eher könnte ich mir vorstellen, dass Nomadentum ursprünglich eine real vorhandene Lebensform war, die später aufgrund zusätzlicher Erkenntnisse wie z.B. Felderbestellung zur Lebensmittelernte (und nicht in erster Linie Tierernährung wie weiden) vollzogen wurde.

Ein weiterer Punkt ist, dass sich Völker wie Römer, Kelten, Skythen etc. darauf spezialisiert haben, sich indigene Bevölkerung zu unteran zu machen. Dies führt letztlich auch zur Sesshaftigkeit.

Es wäre noch interessant, die Geschichte der Rodungen zu analysieren:
- wie hat die das Roden entwickelt?
Es dürften sich Steigerungen in der Rodungseffizienz ergeben haben:
1. (ursprünglich) Brandrodung (mit Risiken verbunden)
2. Aexte, Beile etc. aus Bronze
3. Aexte, Beile etc. aus Eisen
 
Genau weil das Herumirren eine Folge der Überbevölkerung ist. Wenn nicht schon alles nutzbare Land besetzt gewesen wäre, hätten sie sich schon viel früher niederlassen können.
Wobei, wie ich schon früher ausgeführt habe, "Überbevölkerung" relativ zum jeweiligen Stand der Ernährungslage und der sozialen Organisation zu sehen ist. Ändert sich diese, wird also "effektiver", dann stellt die Bevölkerungszahl keine Überbevölkerung mehr dar.
Die These vom "demographischen Druck", so Wesels [1] allgemeine Sichtweise, "stützt sich auf die Beobachtung, dass segmentäre Gesellschaften meist kleiner sind als kephale." Es spreche jedoch einiges dafür, dass "Kephalität mit ihren Steuerungsmöglichkeiten auch die ökonomische Struktur stark verbessern und eine verbesserte Ökonomie auch zu demographischem Wachstum führen, daß, mit anderen Worten, das Verhältnis von Ursache und Wirkung gerade umgekehrt sein kann."

Es gibt keine Hinweise irgendwelcher Art auf eine Überbevölkerung beim Volk Israel in der Zeit vor der Landnahme. Den Gegenbeweis kann ich aber auch nicht führen.

...die Bildung (und das Scheitern) von "dichter gepackten" Gesellschaftsformen geht einher mit der Suche nach einer passenden Ordnung.
So wird es sein!

Lass mich noch mal "biblisch" argumentieren: Die große "Musterung" aller wehrfähigen Männer, die Moses auf Befehl Gottes "in der Wüste Sinai" vornahm, ergab die riesige Zahl von 603.550 (Numeri 1,46 - ohne die Leviten!). Im Deborahlied andererseits (Richter 5,8) ist von 40.000 Kriegern die Rede, was auf eine Gesamtbevölkerung von vielleicht 160.000 schließen lässt und insoweit realistischer ausschaut.

Müsste nicht eine Gesellschaft in dieser Größenordnung ihre ursprüngliche "Organisationsform", nämlich die für eine segmentäre Gesellschaft charakteristische Sippenstruktur, bereits sehr viel früher überwunden haben? Die im Dekalog zusammengefassten Grundnormen, die für die neue Organisationsform stehen, würden demnach ebenfalls sehr viel älter sein; sie hätten im fraglichen Zeitpunkt - kurz vor der Landnahme - kein neues Gesellschaftsrecht begründet, sondern allenfalls vorhandenes bekräftigt.


[1] Geschichte des Rechts. München 1997, S. 59
 
Nur einmal so eine Zwischenfrage (und zumindest für historischen Kontext nicht unerheblich!): An welche Entstehungszeit des Dekalogs wird hier so gedacht?
 
Lass mich noch mal "biblisch" argumentieren: Die große "Musterung" aller wehrfähigen Männer, die Moses auf Befehl Gottes "in der Wüste Sinai" vornahm, ergab die riesige Zahl von 603.550 (Numeri 1,46 - ohne die Leviten!). Im Deborahlied andererseits (Richter 5,8) ist von 40.000 Kriegern die Rede, was auf eine Gesamtbevölkerung von vielleicht 160.000 schließen lässt und insoweit realistischer ausschaut.
Mit Zahlen in der Bibel wäre ich ganz vorsichtig, haben sie doch in der Regel einen symbolischen Wert.
 
Ich habe dieses Thema die letzten Tage durchaus interessiert verfolgt, finde aber leider erst jetzt die Zeit, in der Form zu antworten die ich dem Thema gegenüber als angemessen empfinde. Zunächst einige grundsätzliche Anmerkungen, die ich im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte der Zehn Gebote für essentiell erachte.

Es gibt in mehrerer Hinsicht nicht "Die Zehn Gebote". Bereits die Bibel kennt zwei Textfassungen der Zehn Gebote, nämlich Exodus 20, 2ff und Deuteronomium 5, 6ff. Nachdem sich beide Textfassungen durchaus unterscheiden, wäre bereits hier mE eine entsprechende Synopse erforderlich um die Zehn Gebote im Hinblick auf die unterschiedlichen Lesarten in den zurückliegenden Jahrhunderten analysieren und verstehen zu können.

Was die Bibel hingegen in keiner der beiden Textfassungen kennt, ist eine Nummerierung. Die "Zehn" bei den Zehn Geboten ist willkürlich festgelegt und wurde auch in der Vergangenheit willkürlich festgelegt, genauso wie die Zählweise an sich willkürlich ist. So ist beispielsweise in den reformierten Kirchen das 2. Gebot das Bilderverbot, um dann wieder auf zehn Gebote zu kommen, werden dort das 9. und 10. Gebot zusammengefasst. In der katholischen Tradition, der auch Luther folgte und die damit die in Deutschland verbreitetste Zählart der Zehn Gebote darstellt, gibt es hingegen das Bilderverbot gar nicht. Durchaus auch etwas, was man berücksichtigen sollte, wenn man versucht eine Rezeptionsgeschichte zu erarbeiten.

Zusätzlich gibt es auch unterschiedliche Aussagen zu den Zehn Geboten im AT und im NT. Die christliche Auslegung der Zehn Gebote ist überwiegend durch die Gottdarstellung des NT geprägt, die jüdische Tradition logischerweise nicht. Last but not least ändern sich die theologischen Auslegungen und damit auch die Lehrmeinung im Laufe der Zeit. Und genau hier sehe ich auch einen Ansatz zur Rezeptionsgeschichte, nämlich in einer Interpretation der jeweiligen historischen Lehrmeinung und deren Rezeption bei den Gläubigen.

Grundsätzlich fände ich es auch geschickter, wenn man nicht versuchen würde alles auf einmal abzudiskutieren, sondern sich insbesondere bei den einzelnen Geboten auch wirklich eins nach dem anderen vornehmen würde (zumindest für meinen Geschmack geht’s hier gerade etwas wild durcheinander). Soweit erstmal an grundsätzlichem, jetzt gibts noch etwas direkten Diskussionsbeitrag…

Kommt hinzu, dass man das Gebot Du sollst nicht töten auch mit Du sollst nicht morden übersetzen/interpretieren kann. Das alte Testament ist aber noch voll von Krieg und Mord.
Ja, das AT ist voll von Krieg und Mord, da steht aber auch nur "du sollst nicht…" und nicht "du darfst nicht…" ;) Nein, keine Sorge, ich verliere mich jetzt nicht in juristischen Spitzfindigkeiten. Die Zehn Gebote sind wie der Name schon sagt, Gebote und keine Verbote und selbst wenn sie Verbote wären, wer hat noch nie was Verbotenes getan? Zudem reicht es mE nicht ein Gebot in seinem heutigen (!) Wortlaut rauszupicken und die entsprechende Interpretation dabei zu unterschlagen. Ja es kann auch "morden" gemeint sein (die jüdische Tradition nennt auch morden), aber was bedeutete genau dieses Gebot in der Vergangenheit? Wann hat man es gebrochen und wann nicht? Genau das ist doch hier die Frage, oder? Mit einer Aufzählung von mehr oder weniger passenden Synonymen dürfte es also nicht getan sein.

Dem Sabbatgebot kommt nach meinem Dafürhalten ein besonderer Status zu…
Nicht nur dem Sabbatgebot auch das Bilderverbot werden sowohl in Ex als auch in Dt besonders ausführlich erläutert. Ein besonderes Gewicht könnte zur Entstehungszeit der Gebote also auf beiden gelegen haben (allerdings ist bei uns das Bilderverbot aufgrund der Nichtaufnahme des Bilderverbots in "unsere" Zehn Gebote eben nicht so präsent). Es könnte aber auch sein, dass gerade die beiden Gebote besonders erklärungsbedürftig waren, weil sie eben neben dem Althergebrachten die tatsächliche Innovation zur Zeit der Entstehung der Gebote darstellten. Bemerkenswert beim Sabbatgebot finde ich auch die unterschiedlichen Begründungen. Ex begründet mit der Schöpfung, Dt mit dem Auszug aus Ägypten. Warum diese unterschiedlichen Begründungen?

Jede neue Gesellschafts-/Organisationsform braucht aber neue Spielregeln, sonst funktioniert sie nicht. Wenn jedes Individuum diese aus einem inneren Glauben an spätere Belohnung/Bestrafung heraus befolgt, ist das effektiver (und überhaupt erst durchführbar), als wenn an jeder Ecke ein Polizist steht.
Welche der Zehn Gebote würdest du denn als "neu" bezeichnen? Ist nicht der Großteil der Zehn Gebote überhaupt essentiell für ein menschliches Zusammenleben?

Mit dem 5. Gebot wird ein altes Ärgernis angegangen. Die eigentliche Bedeutung von "Du sollst nicht töten" ist nämlich "Du sollst keine Blutrache üben".
Wo hast du das denn her? Die jüdische Tradition und damit die Thora sagt (wortwörtlich): "Morde nicht!" Von Blutrache steht da gar nichts, ganz im Gegenteil, Blutrache gibt es auch danach im AT noch und wird dabei auch geduldet. Nachdem das 5. Gebot aber doch sehr allgemein gehalten ist, war es mit Sicherheit der ursprünglichen Zielgruppe klar, was mit diesem Allgemeinplatz alles gemeint und was damit eben nicht gemeint ist. Den nachfolgenden Generationen wohl schon weniger. Bereits im NT gibt es zum 5. Gebot Handlungsanweisungen in der Bergpredigt (Mt 5,22 und Mt 5, 44). Der Koran wird noch mal eine Spur genauer: "Und tötet niemand, den Gott verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt seid."

Man hätte keine Blutrache und andere Strafen bei Mord gebraucht, wenn das 6. Gebot nicht die Niederschrift eines bewährten Rechts gewesen wäre.
Versteh ich nicht, bitte noch mal…
 
Bemerkenswert beim Sabbatgebot finde ich auch die unterschiedlichen Begründungen. Ex begründet mit der Schöpfung, Dt mit dem Auszug aus Ägypten. Warum diese unterschiedlichen Begründungen?
Es handelt sich schlicht und einfach um unterschiedliche Verfasser. Wer für welche Stelle verantwortlich ist, kann ich aus dem Stehgreif nicht sagen.

Ich denke, Dt ist innovativer, da der Mensch- egal ob frei oder Sklave- einen Tag in der Woche ohne Arbeit hat. Der Sabbat ist ein Geschenk. Auch um das "Manna" muss sich niemand kümmern.

Das Sabbatgebot ist nach meinem Dafürhalten ohnehin das "revolutionärste" der Gebote. Warum ich das so sehe, habe ich in diesem Thread bereits dargelegt.
 
Mit dem 5. Gebot wird ein altes Ärgernis angegangen. Die eigentliche Bedeutung von "Du sollst nicht töten" ist nämlich "Du sollst keine Blutrache üben". Diese ist für vereinzelt und unabhängig lebende nomadische Sippen durchaus ein probates Mittel, um sich gegen andere Sippen zu schützen. Bei engerem Zusammenleben eskaliert diese jedoch zu ständigen gegenseitigen Zweikämpfen & Meuchelmorden mit Verlust der Leistungsträger. Der daraus erwachsende Teufelskreis konnte nur durch Einrichtung einer übergeordnete Ordnungsmacht durchbrochen werden.
Man hätte keine Blutrache und andere Strafen bei Mord gebraucht, wenn das 6. Gebot nicht die Niederschrift eines bewährten Rechts gewesen wäre.

Versteh ich nicht, bitte noch mal…

Ich musste auch erst den Kontext nachlesen, um mich zu erinnern, was ich damit sagen wollte. :winke:
Es war als Erwiderung auf den Blutrachebezug des 6. Gebots gemeint. Es ging mir um die Trennung von bewährtem Recht und neuem Bezug.
Beim Nachlesen ist mir aufgefallen, dass wir gar nicht so weit auseinanderliegen.
 
Es war als Erwiderung auf den Blutrachebezug des 6. Gebots gemeint.
Nicht vielleicht des 5. ?:haue:
Es ging mir um die Trennung von bewährtem Recht und neuem Bezug.
Welches ist der neue Bezug ?

Ich verstehe den Titel dieses Threads genau so : dass es um den Einfluss der 10. Gebote auf die gesellschaftliche Entwicklung der (beteiligten) Menschheit in eben der historischen Phase geht, in der sie für diese eine erhöhte Wichtigkeit erlangten.
 
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