Ich habe dieses Thema die letzten Tage durchaus interessiert verfolgt, finde aber leider erst jetzt die Zeit, in der Form zu antworten die ich dem Thema gegenüber als angemessen empfinde. Zunächst einige grundsätzliche Anmerkungen, die ich im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte der Zehn Gebote für essentiell erachte.
Es gibt in mehrerer Hinsicht nicht "Die Zehn Gebote". Bereits die Bibel kennt zwei Textfassungen der Zehn Gebote, nämlich Exodus 20, 2ff und Deuteronomium 5, 6ff. Nachdem sich beide Textfassungen durchaus unterscheiden, wäre bereits hier mE eine entsprechende Synopse erforderlich um die Zehn Gebote im Hinblick auf die unterschiedlichen Lesarten in den zurückliegenden Jahrhunderten analysieren und verstehen zu können.
Was die Bibel hingegen in keiner der beiden Textfassungen kennt, ist eine Nummerierung. Die "Zehn" bei den Zehn Geboten ist willkürlich festgelegt und wurde auch in der Vergangenheit willkürlich festgelegt, genauso wie die Zählweise an sich willkürlich ist. So ist beispielsweise in den reformierten Kirchen das 2. Gebot das Bilderverbot, um dann wieder auf zehn Gebote zu kommen, werden dort das 9. und 10. Gebot zusammengefasst. In der katholischen Tradition, der auch Luther folgte und die damit die in Deutschland verbreitetste Zählart der Zehn Gebote darstellt, gibt es hingegen das Bilderverbot gar nicht. Durchaus auch etwas, was man berücksichtigen sollte, wenn man versucht eine Rezeptionsgeschichte zu erarbeiten.
Zusätzlich gibt es auch unterschiedliche Aussagen zu den Zehn Geboten im AT und im NT. Die christliche Auslegung der Zehn Gebote ist überwiegend durch die Gottdarstellung des NT geprägt, die jüdische Tradition logischerweise nicht. Last but not least ändern sich die theologischen Auslegungen und damit auch die Lehrmeinung im Laufe der Zeit. Und genau hier sehe ich auch einen Ansatz zur Rezeptionsgeschichte, nämlich in einer Interpretation der jeweiligen historischen Lehrmeinung und deren Rezeption bei den Gläubigen.
Grundsätzlich fände ich es auch geschickter, wenn man nicht versuchen würde alles auf einmal abzudiskutieren, sondern sich insbesondere bei den einzelnen Geboten auch wirklich eins nach dem anderen vornehmen würde (zumindest für meinen Geschmack geht’s hier gerade etwas wild durcheinander). Soweit erstmal an grundsätzlichem, jetzt gibts noch etwas direkten Diskussionsbeitrag…
Kommt hinzu, dass man das Gebot Du sollst nicht töten auch mit Du sollst nicht morden übersetzen/interpretieren kann. Das alte Testament ist aber noch voll von Krieg und Mord.
Ja, das AT ist voll von Krieg und Mord, da steht aber auch nur "du sollst nicht…" und nicht "du darfst nicht…"
Nein, keine Sorge, ich verliere mich jetzt nicht in juristischen Spitzfindigkeiten. Die Zehn Gebote sind wie der Name schon sagt, Gebote und keine Verbote und selbst wenn sie Verbote wären, wer hat noch nie was Verbotenes getan? Zudem reicht es mE nicht ein Gebot in seinem heutigen (!) Wortlaut rauszupicken und die entsprechende Interpretation dabei zu unterschlagen. Ja es kann auch "morden" gemeint sein (die jüdische Tradition nennt auch morden), aber was bedeutete genau dieses Gebot in der Vergangenheit? Wann hat man es gebrochen und wann nicht? Genau das ist doch hier die Frage, oder? Mit einer Aufzählung von mehr oder weniger passenden Synonymen dürfte es also nicht getan sein.
Dem Sabbatgebot kommt nach meinem Dafürhalten ein besonderer Status zu…
Nicht nur dem Sabbatgebot auch das Bilderverbot werden sowohl in Ex als auch in Dt besonders ausführlich erläutert. Ein besonderes Gewicht könnte zur Entstehungszeit der Gebote also auf beiden gelegen haben (allerdings ist bei uns das Bilderverbot aufgrund der Nichtaufnahme des Bilderverbots in "unsere" Zehn Gebote eben nicht so präsent). Es könnte aber auch sein, dass gerade die beiden Gebote besonders erklärungsbedürftig waren, weil sie eben neben dem Althergebrachten die tatsächliche Innovation zur Zeit der Entstehung der Gebote darstellten. Bemerkenswert beim Sabbatgebot finde ich auch die unterschiedlichen Begründungen. Ex begründet mit der Schöpfung, Dt mit dem Auszug aus Ägypten. Warum diese unterschiedlichen Begründungen?
Jede neue Gesellschafts-/Organisationsform braucht aber neue Spielregeln, sonst funktioniert sie nicht. Wenn jedes Individuum diese aus einem inneren Glauben an spätere Belohnung/Bestrafung heraus befolgt, ist das effektiver (und überhaupt erst durchführbar), als wenn an jeder Ecke ein Polizist steht.
Welche der Zehn Gebote würdest du denn als "neu" bezeichnen? Ist nicht der Großteil der Zehn Gebote überhaupt essentiell für ein menschliches Zusammenleben?
Mit dem 5. Gebot wird ein altes Ärgernis angegangen. Die eigentliche Bedeutung von "Du sollst nicht töten" ist nämlich "Du sollst keine Blutrache üben".
Wo hast du das denn her? Die jüdische Tradition und damit die Thora sagt (wortwörtlich): "Morde nicht!" Von Blutrache steht da gar nichts, ganz im Gegenteil, Blutrache gibt es auch danach im AT noch und wird dabei auch geduldet. Nachdem das 5. Gebot aber doch sehr allgemein gehalten ist, war es mit Sicherheit der ursprünglichen Zielgruppe klar, was mit diesem Allgemeinplatz alles gemeint und was damit eben nicht gemeint ist. Den nachfolgenden Generationen wohl schon weniger. Bereits im NT gibt es zum 5. Gebot Handlungsanweisungen in der Bergpredigt (Mt 5,22 und Mt 5, 44). Der Koran wird noch mal eine Spur genauer: "Und tötet niemand, den Gott verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt seid."
Man hätte keine Blutrache und andere Strafen bei Mord gebraucht, wenn das 6. Gebot nicht die Niederschrift eines bewährten Rechts gewesen wäre.
Versteh ich nicht, bitte noch mal…