Gandolf
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Die Ansicht, dass sich die Volksmassen 1914 fröhlich in die Urkatastrophe Europas gestürzt haben, ist weit verbreitet. Doch neuere Studien stellen diese Ansicht in Frage. Der "Geist von 1914" sei weitgehend auf bürgerlich-akademische Großstädter beschränkt gewesen. In der Arbeiterschaft wie in der Provinz hätten bei Kriegsbeginn Unruhe, Angst und Entsetzen vorgeherrscht:
„Die Historikerzunft habe“, so der Geschichtswissenschaftler Wolfgang Kruse, „den Volksglauben von der allgemeinen Kriegsbegeisterung >> lange ungefragt übernommen<<. In Fachkreisen erregte der französische Historiker Jean-Jacques Becker 1977 Aufsehen mit einer Analyse von über 600 Stimmungsberichten heimischer Schulleiter. Fazit: Nicht mit allumfassendem Jubel hätten die Franzosen auf die Mobilmachung 1914 reagiert, sondern mit einem breiten Spektrum von Stimmungen – bis hin zu Entsetzen und Panik.
Im Kaiserreich sei es nicht anders zugegangen, ergänzte der US-Historiker Jeffrey Verhey in einer im Jahr 2000 in Deutschland erschienen Studie. Der von der Heeresleitung immer wieder beschworene >>Geist von 1914<< sei weitgehend auf bürgerlich-akademische Großstädter beschränkt gewesen; in der Arbeiterschaft wie in der Provinz hätten bei Kriegsbeginn Unruhe, Angst und Entsetzen vorgeherrscht.
Tatsächlich belegen Unmengen von Quellen die Ansicht, dass die These von der Dominanz der Kriegsbegeisterung in Wahrheit ein „Konstrukt“ gewesen sei, das die gelenkte Presse und die gezielte Kriegspropaganda sowie später die NS-Ideologen zum „Mythos“ aufgeblasen haben.
Mittlerweise haben sich überall in Deutschlan Profis wie Hobbyhistoriker auf Spurensuche begeben. In Kirchen- und Stadtarchiven, Tagebüchern und Feldpostbriefen finden die Lokalforscher Belege, die das so lange kolportierte Bild vom Kriegsbeginn relativieren.
Selbst im Berliner Zentrum – wo Dokumentaraufnahmen den Zeitgenossen wie Nachgeborenen alles beherrschende Begeisterung suggerieren – hielt sich die Hurra-Stimmung in Grenzen. >>Viele Frauen mit verweinten Gesichtern<<, notierte ein Augenzeuge, der >>Ernst und Bedrücktheit“ registrierte: >>Kein Jubel, keine Begeisterung<<. Wohl vernahm der Tagebuchschreiber „Hochrufe und singende Gruppen vor dem Kronprinzenpalais<<. Aber: >>Die Weiterwegstehenden passiv<<.
Während das Großbürgertum feiert und junge Studenten sich kriegerisch Abenteuer in fremden Ländern erhoffen, herrscht in Arbeiterfamilien Zukunftsangst: Wer soll sie ernähren, wenn der Ernährer in den Krieg zieht? Im Berliner Arbeiterviertel Moabit hält ein Pfarrer fest: >>Die eigentliche Begeisterung, ich möchte sagen die akademische Begeisterung, wie sie sich der Gebildete leisten kann, der keine Nahrungssorgen hat, scheint mir doch zu fehlen. Das Volk denkt sehr real und die Not liegt schwer auf den Menschen.<<
Verwirrung, zum Teil Verzweiflung befällt die sozialdemokratische Arbeiterschaft. Noch am 28. Juli hat etwa in Hamburg die internationalistisch gestimmte Partei zum >>Protest gegen die Kriegshetze<< aufgerufen – mit gewaltiger Resonanz. >>Ungeheuerlich<<, meldet das Parteiorgan >>Hamburger Echo<<, sei der Andrang bei den Friedenskundgebungen: >>Keiner der großen Säle< könne >>auch nur entfernt die immer erneut anrückenden Scharen werktätigen Volkes fassen.<< Trotz strömenden Regens harre die Menge in >>unübersehbarer Zahl<< auf den Straßen aus.“
Quelle: Jochen Bölsche, „Ein Hammerschlag auf Herz und Hirn“, in: Stephan Burgdorff / Klaus Wiegrefe, Der Erste Weltkrieg, 2. Auflage, 2004, S. 54ff.
„Die Historikerzunft habe“, so der Geschichtswissenschaftler Wolfgang Kruse, „den Volksglauben von der allgemeinen Kriegsbegeisterung >> lange ungefragt übernommen<<. In Fachkreisen erregte der französische Historiker Jean-Jacques Becker 1977 Aufsehen mit einer Analyse von über 600 Stimmungsberichten heimischer Schulleiter. Fazit: Nicht mit allumfassendem Jubel hätten die Franzosen auf die Mobilmachung 1914 reagiert, sondern mit einem breiten Spektrum von Stimmungen – bis hin zu Entsetzen und Panik.
Im Kaiserreich sei es nicht anders zugegangen, ergänzte der US-Historiker Jeffrey Verhey in einer im Jahr 2000 in Deutschland erschienen Studie. Der von der Heeresleitung immer wieder beschworene >>Geist von 1914<< sei weitgehend auf bürgerlich-akademische Großstädter beschränkt gewesen; in der Arbeiterschaft wie in der Provinz hätten bei Kriegsbeginn Unruhe, Angst und Entsetzen vorgeherrscht.
Tatsächlich belegen Unmengen von Quellen die Ansicht, dass die These von der Dominanz der Kriegsbegeisterung in Wahrheit ein „Konstrukt“ gewesen sei, das die gelenkte Presse und die gezielte Kriegspropaganda sowie später die NS-Ideologen zum „Mythos“ aufgeblasen haben.
Mittlerweise haben sich überall in Deutschlan Profis wie Hobbyhistoriker auf Spurensuche begeben. In Kirchen- und Stadtarchiven, Tagebüchern und Feldpostbriefen finden die Lokalforscher Belege, die das so lange kolportierte Bild vom Kriegsbeginn relativieren.
Selbst im Berliner Zentrum – wo Dokumentaraufnahmen den Zeitgenossen wie Nachgeborenen alles beherrschende Begeisterung suggerieren – hielt sich die Hurra-Stimmung in Grenzen. >>Viele Frauen mit verweinten Gesichtern<<, notierte ein Augenzeuge, der >>Ernst und Bedrücktheit“ registrierte: >>Kein Jubel, keine Begeisterung<<. Wohl vernahm der Tagebuchschreiber „Hochrufe und singende Gruppen vor dem Kronprinzenpalais<<. Aber: >>Die Weiterwegstehenden passiv<<.
Während das Großbürgertum feiert und junge Studenten sich kriegerisch Abenteuer in fremden Ländern erhoffen, herrscht in Arbeiterfamilien Zukunftsangst: Wer soll sie ernähren, wenn der Ernährer in den Krieg zieht? Im Berliner Arbeiterviertel Moabit hält ein Pfarrer fest: >>Die eigentliche Begeisterung, ich möchte sagen die akademische Begeisterung, wie sie sich der Gebildete leisten kann, der keine Nahrungssorgen hat, scheint mir doch zu fehlen. Das Volk denkt sehr real und die Not liegt schwer auf den Menschen.<<
Verwirrung, zum Teil Verzweiflung befällt die sozialdemokratische Arbeiterschaft. Noch am 28. Juli hat etwa in Hamburg die internationalistisch gestimmte Partei zum >>Protest gegen die Kriegshetze<< aufgerufen – mit gewaltiger Resonanz. >>Ungeheuerlich<<, meldet das Parteiorgan >>Hamburger Echo<<, sei der Andrang bei den Friedenskundgebungen: >>Keiner der großen Säle< könne >>auch nur entfernt die immer erneut anrückenden Scharen werktätigen Volkes fassen.<< Trotz strömenden Regens harre die Menge in >>unübersehbarer Zahl<< auf den Straßen aus.“
Quelle: Jochen Bölsche, „Ein Hammerschlag auf Herz und Hirn“, in: Stephan Burgdorff / Klaus Wiegrefe, Der Erste Weltkrieg, 2. Auflage, 2004, S. 54ff.