Die schwerste Niederlage der deutschen Geschichte
Operation BAGRATION:
Im Sommer 1944 ereignete sich eine der größten militärischen Katastrophen Deutschlands, eine Schlacht von wenigen Tagen und Wochen, die rezeptiv trotz ihres Ausmaßes im Schatten der Niederlage von Stalingrad steht. Die zeitgleich stattfindenden Kämpfe um den alliierten Brückenkopf in der Normandie zogen in diesen Wochen im Sommer 1944 weitgehend die Aufmerksamkeit auch der deutschen Bevölkerung auf sich, so dass diese verheerende Niederlage an der Ostfront bis weit nach dem Krieg wenig bekannt geworden ist.
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Die Landung in der Normandie im Juni 1944 hat die Erinnerung an die Großoffensive der Roten Armee verdrängt. Dabei übertrafen die Verluste durch die "Operation Bagration" Stalingrad bei weitem.
Wie sehr das NS-Regime noch ein Jahr vor seinem Untergang das Bild des Krieges in den Köpfen seiner Untertanen bestimmen konnte, zeigen die Tage, die auf den 22./23. Juni 1944 folgten. Innerhalb weniger Wochen überrannte die Rote Armee mit der Heeresgruppe Mitte die größte militärische Formation der Wehrmacht. Allein bis zum 10. Juli verloren die deutschen Truppen eine Viertelmillion Soldaten, fast 100.000 mehr, als in Stalingrad gefallen oder in Gefangenschaft geraten waren. Dennoch ist die größte Niederlage der deutschen Militärgeschichte weder zum Symbol für den Untergang geworden, noch hat sie einen nennenswerten Platz in der Erinnerungskultur des Zweiten Weltkriegs erhalten.
Der Grund war Propaganda. Geschickt lenkte Goebbels' Apparat die Aufmerksamkeit der "Volksgemeinschaft" auf die Abwehrkämpfe gegen die Alliierten in der Normandie. Und als die ganze Tragweite der sowjetischen Offensive deutlich und der Rückzug der Wehrmacht auf die Reichsgrenzen offensichtlich wurde, richtete das Regime den Fokus auf das Attentat auf Hitler vom 20. Juli und die Säuberungen, die daraufhin ihren Lauf nahmen.
Einige Zahlen konturieren die Ausgangslage. Im Juni 1944 bildete die Heeresgruppe Mitte mit 47 ausgedünnten Divisionen eine Front von rund 1300 Kilometern. Das bedeutete, dass pro Kilometer rund 80 Soldaten eingesetzt werden konnten. Dagegen hatte die Stawka, das sowjetische Oberkommando, eine Kampfkraft zusammengezogen, die pro Kilometer rund 750 Soldaten entsprach. Und für die zweite Welle standen noch einmal 500 Mann zur Verfügung.
Ernst Busch, der Oberkommandierende der Heeresgruppe, hatte sich der Ansicht Hitlers angeschlossen und erwartete die sowjetische Sommeroffensive an seiner südlichen Flanke an den Pritpjet-Sümpfen und um die Stadt Kowel. Zwar hatten ihm seine Frontkommandeure gemeldet, dass vor ihnen Truppenbewegungen größten Ausmaßes stattfanden. Aber Busch, der als überzeugter Anhänger Hitlers galt, hielt sich an die Maßgaben vom Berghof über Berchtesgaden (wo Hitler über Monate logierte) und verbot jegliche Vorbereitungen für den Rückzug auf neue Verteidigungsstellungen.
Hitlers Wahn der "Festen Plätze"
Allein die Feuerkraft von 25.000 Geschützen reichte aus, um die deutschen Linien im ersten Anlauf aufzureiben. Die sowjetische Führung hatte aus früheren Fehlern gelernt und ließ zunächst nur Aufklärungseinheiten vorgehen, welche die deutschen Stellungen erkunden sollten. Als diese erkannten, dass rückwärtige Auffangstellungen nicht existierten, in denen deutsche Reserven den Angriff auffangen konnten, begann am 23. Juni der frontale Sturm zwischen Witebsk und Bobrujsk.
Innerhalb weniger Tage wurden die drei deutschen Armeen, welche die Hauptlast des Angriffs erlebten, um bis zu 150 Kilometer zurückgedrängt. Aber es war kein geordneter Rückzug, sondern ein völliger Zusammenbruch. Während Hitler einzelnen Korps und Divisionen befahl, sich ohne Nachschub in unbefestigten Städten wie Witebsk einschließen zu lassen und diese "Festen Plätze" unter allen Umständen zu halten, lösten sich ganze Verbände im sowjetischen Feuer auf.
Wenn Hitler schließlich doch zögernd und in der Regel viel zu spät Einheiten die Erlaubnis zum Rückzug erteilte, waren diese gar nicht mehr in der Lage, sich von dem überlegenen und gut motorisierten Feind abzusetzen. Die 4. Armee etwa wurde in verschiedenen Kesseln eingeschlossen, die irgendwie versuchten, sich nach Westen durchzuschlagen.
Ziel war die Beresina, die schon im Winter 1812 zum Schicksalsfluss Napoleons geworden war. Aber während der Kaiser der Franzosen seine intakten Truppen noch mit einem genialen Manöver rechtzeitig über den Fluss gebracht hatte, wurden die "wandernden Kessel", in die sich die Reste aufgeriebener Einheiten gerettet hatte, buchstäblich vernichtet.
Katastrophe an der Beresina
Die Reste von 13 Divisionen, die eine Kolonne von 60 Kilometern bildeten, strebten schließlich der einzigen Brücke über die Beresina bei Berezino zu. Ihre absolute Luftüberlegenheit ermöglichte es der sowjetischen Luftwaffe, permanente Angriffe zu fliegen. Am 29. Juni traf eine Bombe die Brücke. Sieben Stunden dauerte der Bau eines neuen Übergangs.
Aber anders als bei Napoleon winkte westlich des Flusses nicht die Sicherheit. Mehrere sowjetische Armeen hatten nämlich an anderen Stellen längst die Beresina überschritten und stießen in zwei großen Zangen auf Minsk vor. Am 3. Juli eroberte die Rote Armee die weißrussische Hauptstadt. Von den zersplitterten Einheiten der 4. Armee, die östlich davon standen, gelang es nur einigen Tausend "Rückkämpfern", sich bis zu den deutschen Linien durchzuschlagen. Die Übrigen wurden im Kampf niedergemacht, gefangen genommen oder gingen in dichten Wäldern und Sümpfen zugrunde.
Während nicht wenige Kommandeure die bizarren Durchhaltebefehle Hitlers ignorierten und ihre Soldaten von sich aus zum Rückmarsch nach Westen trieben, hielt Generalfeldmarschall Busch blind an die Weisungen aus dem Führerhauptquartier fest, das erst ab dem 15. Juli wieder im ostpreußischen Rastenburg residierte. "Überhaupt keine Kampfführungsaufträge von Heeresgruppe. Nur halten, halten", zitiert der Historiker Karl-Heinz Frieser aus dem Tagebuch der 9. Armee: "Während seine Heeresgruppe von einer einzigen noch nie da gewesenen Katastrophe heimgesucht wurde, fasste er (Busch) keinen einzigen selbstständigen Entschluss, sondern führte wie eine Marionette in Marschallsuniform nur die stupiden Haltebefehle Hitlers aus."
Motive für den 20. Juli
Doch alle Beweise blinder Loyalität retteten Busch am Ende nicht. Am 28. Juni entließ ihn Hitler und berief mit Walter Model einen weiteren General, dessen nationalsozialistische Gesinnung außer Zweifel stand. Allerdings verstand Model deutlich mehr von Defensivtaktik als Busch.
Bis zum 10. Juli, als die Rote Armee den Kessel von Minsk endgültig liquidierte, verlor die Heeresgruppe Mitte mindestens 260.000 Soldaten. Allein die Verluste der 3. Armee bezifferten sich auf 130.000 Mann. Insgesamt wurden 28 Divisionen zerschlagen oder so sehr geschwächt, dass sie bis auf Weiteres nicht mehr einsetzbar waren. Obwohl die Rote Armee im gleichen Zeitraum 440.000 Tote und Verwundete zu beklagen hatte, konnte sie ihre Offensive unvermindert fortsetzen. Ihr standen sogar noch mehr als 400.000 Soldaten mit 1100 Panzern zur Verfügung, die erst Mitte Juli im Süden Weißrusslands zum Angriff antraten.
Der drohende Zusammenbruch der Ostfront drängte endlich den militärischen Widerstand in der Wehrmacht zum Handeln. Vor allem Hitlers Inkompetenz und Zynismus gegenüber den Soldaten, die er mit seinen sinnlosen Haltebefehlen zum Tode verurteilte, schufen im Offizierskorps ein Klima, das den Verschwörern um Claus Schenk von Stauffenberg Zuspruch im Falle eines gelungenen Attentats versprach. Einen Monat nach Eröffnung der "Operation Bagration" erfolgte der Putsch gegen Hitler.
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