Gandolf
Aktives Mitglied
Zur Zeit wird ja viel über die EU-Mitgliedschaft der Türkei diskutiert. Die Gegner einer solchen Mitgliedschaft argumentieren unter anderem damit, dass die Türkei aufgrund ihrer geographischen Lage, kulturellen Andersartigkeit und ihrer mangelnden wirtschaftlichen Reife nicht zu Europa gehöre. Zudem würden sich aus einer Mitgliedschaft der Türkei viele Gefahren für die Europäische Union ergeben, da die Türkei an Krisenherde und Pulverfässer angrenze. Viele Befürworter sehen dies anders und verweisen auf die Chancen einer EU-Mitgliedschaft. Über dieses politische Thema möchte ich in diesem Strang nicht diskutieren, da es sich bei diesem Forum um ein Geschichtsforum und nicht um ein Politikforum handelt. Auch möchte ich Euch bitten, diese aktuelle Diskussion zu meiden! Aber die Frage, ob die Türkei zu Europa gehört, hat natürlich ihrerseits eine Geschichte, die sich in der Frage widerspiegelt, ob das Osmanische Reich zu Europa gehörte. Über diese historische Frage würde ich gerne mit Euch in diesem Strang diskutieren!
Zum Einstieg in die Diskussion erlaube ich mir kurz zu skizzieren, wie sich im Völkerrecht die Behandlung des Osmanischen Reiches entwickelt hat, ohne mit diesem Einstieg die Diskussion auf eine Rechtsfrage verengen zu wollen.
Bis zum 19. Jahrhundert wurde in den großen internationalen Verträgen auf die "Christenheit" als die tragende Gemeinschaftsordnung des Völkerrechts Bezug genommen. Trotz intensiver Beziehungen mit der außereuropäischen, nichtchristlichen Welt, die sich im französischen Zeitalter (1648-1815) gegenüber dem spanischen Zeitalter (1494-1648) steigerten, verstand sich das Völkerrecht der Europäer als Völkerrecht der europäischen, christlichen Völkerfamilie. Der Sultan des Osmanischen Reichs stand als Moslem außerhalb dieser Familie. Aus Sicht der Europäer konnte sich dieser weder auf das Völkerrecht berufen noch sahen sich diese aus dem Völkerrecht verpflichtet, Verträge, die mit dem Sultan eingegangen wurden, einzuhalten. Soweit die europäischen Mächte dennoch ihre Verträge mit dem Sultan eingehalten haben, haben sie dies aus Gründen der "Tauschrationalität" getan: Erstens wollte man im Regelfall für seine Leistungen auch eine Gegenleistung des Sultans haben, so dass es klug war, sich zumindestens solange vertragstreu zu verhalten, bis der Sultan diese erbrachte. Zweitens sah man sich auf dem Parkett der Internationalen Politik ja wieder, so dass ein Vertragsbruch zwar kurzfristig zu einem Vorteil führen, langfristig aber einen großen Schaden anrichten konnte. Umgekehrt akzeptierte der Sultan noch nicht einmal die alte völkerrechtliche Grundregel von der persönlichen Unverletztlichkeit der Gesandten. Gesandte europäischer Mächte wurden in Konstantinopel mit Stockschlägen fortgetrieben, eingekerkert und sogar hingerichtet; freilich ohne daß daraus notwendigerweise Folgerungen für die diplomatischen Bezeihungen des betreffenden Staates zur Pforte (= Osmanisches Reich) gezogen worden wären. Man kann sich leicht vorstellen, welch Glücksgefühl bei einem europäischen Diplomaten die Bestellung zum Gesandten in Konstantinopel auslöste. In den Augen der Europäer schien diese Praxis nur zu bestätigen, dass es sich bei dem Osmanischen Reich um keinen Bestandteil Europas handelte. "Der Hochmuth dieses Volkes, genährt durch die Zwistigkeiten der christlichen Fürsten, kennt keinerlei Völkerrecht und weiß nicht, was Ehre und was Brauch ist", so Abraham de Wiquefort in seinen Aufzeichnungen zum Gesandtschaftswesen von 1677 (zitiert nach Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 340).
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam ein Entwicklungsprozess in Gang, der zur Ausweitung des europäischen Völkerrechts zu einem universellen Völkerrecht führte. Drei Faktoren waren hierfür verantwortlich: die geistesgeschichtliche Bewußtseinsveränderung, die aus der "christlich-europäischen Völkerfamilie" eine "Gesellschaft der zivilisierten Nationen" machte; die Erweiterung des europäischen Staatenssystems zu einem Weltstaatensystem (1776 Aufnahme der USA, bis 1825 Aufnahme zahlreicher mittel- und südamerikanischer Staaten, 1825 Aufnahme Haitis, 1848 Aufnahme Liberias, 1854 Vertrag zwischen USA und Japan, Aufnahme zahlreicher karibischer, afrikanischer und asiatischer Staaten); der Aufstieg GB zur beherrschenden Vormacht dieses Staatenssystems, gegründet auf weltweite Seeherrschaft und einen über die ganze Welt verstreuten Kolonialbesitz. In der Konsequenz dieser Entwicklung lag die Öffnung des Völkerrechts in Richtung einer universellen, nicht mehr auf Europa beschränkten Rechtsordnung (vgl. Grewe, aaO., S. 520).
Ausgehend von der Wiener Deklaration über die Abschaffung des Sklavenhandels vom 8.2.1815 zeichnete sich in den internationalen Vertragswerken die Identifizierung der Völkerrechtsgemeinschaft mit der "Gemeinschaft der zivilisierten Nationen" ab, die in der Präambel der Haager Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 29.7.1899 ihren allgemeinsten und klarsten Ausdruck gefunden hat. Die Gleichsetzung von Völkerrechtsgemeinschaft und Zivilisationsgemeinschaft führte im Hinblick auf das Osmanische Reich dazu, dass sich der Blickwinkel änderte, unter dem dieser Staat bewertet wurde, ohne dass sich freilich etwas an der ablehnenden Haltung gegenüber der Aufnahme des Osmanischen Reichs in die Völkerrechtsgemeinschaft geändert hätte. So ereiferte sich z.B. Richard Cobdan in seiner 1836 verfaßten Abhandlung über "Rußland" über die Widersinnigkeit des Gedankens, daß man das Osmanische Reich in das "System der zivilisierten Staaten" aufnehmen wolle. "Die Türkei kann in das politische System Europas nicht eintreten; denn die Türken sind keine Europäer. Während der fast vier Jahrhunderte, die dies Volk auf dem schönsten Boden des Festlandes Fuß gefaßt hat, ist es nicht nur nicht zum Mitglied der christlichen Völkerfamilie geworden, sondern hat keine einzige europäische Gewohnheit angenommen. Seine Lebensweise ist noch so orientalisch, wie da es erstmals über den Bosperus kam. Sie schließen ihre Frauen ängstlich von der Gesellschaft des männlichen Geschlechts ab, tragen asiatische Kleidung, sitzen mit gekreuzten Beinen oder ruhen auf Diwanen und benutzen weder Stühle noch Betten, rasieren den Kopf und lassen den Bart stehen und gebrauchen noch immer an Stelle der Werkzeuge der Zivilisation, Messer und Gabel, die Finger. Ebenso unbeeinflusst ist nach fast vierhundertjähriger Berührung mit den Europäern das Leben der Osmanli durch die Entdeckungen und Fortschritte der neueren Zeit. Die Druckpresse ist in der Türkei so gut wie unbekannt, und wenn es in Konstantinopel eine gibt, ist sie in Händen von Ausländern. Dampfmaschine, Gas, Kompaß, Papiergeld, Schutzimpfung, Kanalbau, Spinnmaschine und Eisenbahn sind Geheimnisse, von denen sich ottomanische Philosophen nichts träumen lassen. Literatur und Wissenschaft finden unter den Türken so wenig Jünger, daß sie sich den Ruf einer doppelten Vernichtung der Gelehrsamkeit erworben haben, nämlich der der glänzenden, wenn auch verderbten Reste der griechischen Literatur in Konstantinopel und der der Dämmerung der Experimentalphilosophie beim Untergang des Kalifats" (zitiert nach Grewe, aaO, S. 529 mit Hinweis auf C. Brinkmann (Hrsg.), Klassiker der Politik, 10. Band, "Richard Cobden und das Manchestertum", 1924, S. 88 f., 91, 93). Doch so heftig diese Polemik gegen die Aufnahme des Osmanischen Reiches in die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten auch ausfiel, umriss sie doch, dass die Zugehörigkeit zur Zivilisationsgemeinschaft nicht von der unüberbrückbaren Glaubensfrage abhing sondern vom Nachweis eines ausreichenden zivilisatorischen Fortschritts (Annahme europäischer Gewohnheiten, Teilhabe am technischen Fortschritt, Verbreitung von Literatur und Wissenschaft). Freilich konnte man über dessen erforderlichen Mindeststandard unterschiedlicher Meinung sein.
Schließlich erklärten die europäischen Mächte (ÖU, F, GB, Preußen, R, Sardinien) unter der neuen Eingangsformel "Im Namen Gottes des Allmächtigen" (früher wurde die Heilige Dreieinigkeit angerufen) in Art. 7 Satz 1 des Pariser Friedensvertrages über die Beendigung des Krimkrieges vom 30.5.1856 "die Zulassung der hohen Pforte zur Theilnahme an den Vortheilen der europäischen Staatengemeinschaft und des europäischen Völkerrechtes." Über die Bedeutung dieser Bestimmung wurde viel getritten. Es spricht einiges dafür, dass das Osmanische Reich schon früher in die europäische Staatenwelt aufgenommen wurde, was sich aber aufgrund eines allmählich abgelaufenen Integrationsprozesses nur schwer datieren lässt. Aber spätestens mit diesem Vertrag war das Osmanische Reich ins Europäische Konzert aufgenommen und in das regionale Sondervölkerrecht Europas einbezogen.
Mit der Integration des Osmanischen Reichs in die europäische Völkerrechtsgemeinschaft endete die Zeit, in der Verträge, die mit dem Sultan abgeschlossen wurden, zu nichts verpflichteten, da es sich bei diesem um einen "Ungläubigen" (so die Begründung im Mittelalter) bzw. um einen "Barbaren" (so die modernere Begründung) handelte. Umgekehrt bedeutete die Integration des Osmanischen Reiches aber auch, dass der Sultan nunmehr verpflichtet war, das Völkerrecht einzuhalten (z.B. das Gesandtenrecht). Dies galt nicht nur für das damals nur schwach entwickelte Völkervertragsrecht sondern auch für das damals stark entwickelte Völkergewohnheitsrecht. Zum Völkergewohnheitsrecht gehörten auch humanitäre Vorstellungen, die bei den im 19. Jahrhundert unternommenen zahlreichen "humanitären Interventionen" deutlich wurden. Der in Armenien 1915 begangene Völkermord spricht - so betrachtet - nicht für den orientalischen Charakter des Osmanischen Reiches sondern ist Ausdruck eines dunklen Kapitels der europäischen Rechtsvergangenheit des Osmanischen Reiches.
Zum Einstieg in die Diskussion erlaube ich mir kurz zu skizzieren, wie sich im Völkerrecht die Behandlung des Osmanischen Reiches entwickelt hat, ohne mit diesem Einstieg die Diskussion auf eine Rechtsfrage verengen zu wollen.
Bis zum 19. Jahrhundert wurde in den großen internationalen Verträgen auf die "Christenheit" als die tragende Gemeinschaftsordnung des Völkerrechts Bezug genommen. Trotz intensiver Beziehungen mit der außereuropäischen, nichtchristlichen Welt, die sich im französischen Zeitalter (1648-1815) gegenüber dem spanischen Zeitalter (1494-1648) steigerten, verstand sich das Völkerrecht der Europäer als Völkerrecht der europäischen, christlichen Völkerfamilie. Der Sultan des Osmanischen Reichs stand als Moslem außerhalb dieser Familie. Aus Sicht der Europäer konnte sich dieser weder auf das Völkerrecht berufen noch sahen sich diese aus dem Völkerrecht verpflichtet, Verträge, die mit dem Sultan eingegangen wurden, einzuhalten. Soweit die europäischen Mächte dennoch ihre Verträge mit dem Sultan eingehalten haben, haben sie dies aus Gründen der "Tauschrationalität" getan: Erstens wollte man im Regelfall für seine Leistungen auch eine Gegenleistung des Sultans haben, so dass es klug war, sich zumindestens solange vertragstreu zu verhalten, bis der Sultan diese erbrachte. Zweitens sah man sich auf dem Parkett der Internationalen Politik ja wieder, so dass ein Vertragsbruch zwar kurzfristig zu einem Vorteil führen, langfristig aber einen großen Schaden anrichten konnte. Umgekehrt akzeptierte der Sultan noch nicht einmal die alte völkerrechtliche Grundregel von der persönlichen Unverletztlichkeit der Gesandten. Gesandte europäischer Mächte wurden in Konstantinopel mit Stockschlägen fortgetrieben, eingekerkert und sogar hingerichtet; freilich ohne daß daraus notwendigerweise Folgerungen für die diplomatischen Bezeihungen des betreffenden Staates zur Pforte (= Osmanisches Reich) gezogen worden wären. Man kann sich leicht vorstellen, welch Glücksgefühl bei einem europäischen Diplomaten die Bestellung zum Gesandten in Konstantinopel auslöste. In den Augen der Europäer schien diese Praxis nur zu bestätigen, dass es sich bei dem Osmanischen Reich um keinen Bestandteil Europas handelte. "Der Hochmuth dieses Volkes, genährt durch die Zwistigkeiten der christlichen Fürsten, kennt keinerlei Völkerrecht und weiß nicht, was Ehre und was Brauch ist", so Abraham de Wiquefort in seinen Aufzeichnungen zum Gesandtschaftswesen von 1677 (zitiert nach Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 340).
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam ein Entwicklungsprozess in Gang, der zur Ausweitung des europäischen Völkerrechts zu einem universellen Völkerrecht führte. Drei Faktoren waren hierfür verantwortlich: die geistesgeschichtliche Bewußtseinsveränderung, die aus der "christlich-europäischen Völkerfamilie" eine "Gesellschaft der zivilisierten Nationen" machte; die Erweiterung des europäischen Staatenssystems zu einem Weltstaatensystem (1776 Aufnahme der USA, bis 1825 Aufnahme zahlreicher mittel- und südamerikanischer Staaten, 1825 Aufnahme Haitis, 1848 Aufnahme Liberias, 1854 Vertrag zwischen USA und Japan, Aufnahme zahlreicher karibischer, afrikanischer und asiatischer Staaten); der Aufstieg GB zur beherrschenden Vormacht dieses Staatenssystems, gegründet auf weltweite Seeherrschaft und einen über die ganze Welt verstreuten Kolonialbesitz. In der Konsequenz dieser Entwicklung lag die Öffnung des Völkerrechts in Richtung einer universellen, nicht mehr auf Europa beschränkten Rechtsordnung (vgl. Grewe, aaO., S. 520).
Ausgehend von der Wiener Deklaration über die Abschaffung des Sklavenhandels vom 8.2.1815 zeichnete sich in den internationalen Vertragswerken die Identifizierung der Völkerrechtsgemeinschaft mit der "Gemeinschaft der zivilisierten Nationen" ab, die in der Präambel der Haager Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 29.7.1899 ihren allgemeinsten und klarsten Ausdruck gefunden hat. Die Gleichsetzung von Völkerrechtsgemeinschaft und Zivilisationsgemeinschaft führte im Hinblick auf das Osmanische Reich dazu, dass sich der Blickwinkel änderte, unter dem dieser Staat bewertet wurde, ohne dass sich freilich etwas an der ablehnenden Haltung gegenüber der Aufnahme des Osmanischen Reichs in die Völkerrechtsgemeinschaft geändert hätte. So ereiferte sich z.B. Richard Cobdan in seiner 1836 verfaßten Abhandlung über "Rußland" über die Widersinnigkeit des Gedankens, daß man das Osmanische Reich in das "System der zivilisierten Staaten" aufnehmen wolle. "Die Türkei kann in das politische System Europas nicht eintreten; denn die Türken sind keine Europäer. Während der fast vier Jahrhunderte, die dies Volk auf dem schönsten Boden des Festlandes Fuß gefaßt hat, ist es nicht nur nicht zum Mitglied der christlichen Völkerfamilie geworden, sondern hat keine einzige europäische Gewohnheit angenommen. Seine Lebensweise ist noch so orientalisch, wie da es erstmals über den Bosperus kam. Sie schließen ihre Frauen ängstlich von der Gesellschaft des männlichen Geschlechts ab, tragen asiatische Kleidung, sitzen mit gekreuzten Beinen oder ruhen auf Diwanen und benutzen weder Stühle noch Betten, rasieren den Kopf und lassen den Bart stehen und gebrauchen noch immer an Stelle der Werkzeuge der Zivilisation, Messer und Gabel, die Finger. Ebenso unbeeinflusst ist nach fast vierhundertjähriger Berührung mit den Europäern das Leben der Osmanli durch die Entdeckungen und Fortschritte der neueren Zeit. Die Druckpresse ist in der Türkei so gut wie unbekannt, und wenn es in Konstantinopel eine gibt, ist sie in Händen von Ausländern. Dampfmaschine, Gas, Kompaß, Papiergeld, Schutzimpfung, Kanalbau, Spinnmaschine und Eisenbahn sind Geheimnisse, von denen sich ottomanische Philosophen nichts träumen lassen. Literatur und Wissenschaft finden unter den Türken so wenig Jünger, daß sie sich den Ruf einer doppelten Vernichtung der Gelehrsamkeit erworben haben, nämlich der der glänzenden, wenn auch verderbten Reste der griechischen Literatur in Konstantinopel und der der Dämmerung der Experimentalphilosophie beim Untergang des Kalifats" (zitiert nach Grewe, aaO, S. 529 mit Hinweis auf C. Brinkmann (Hrsg.), Klassiker der Politik, 10. Band, "Richard Cobden und das Manchestertum", 1924, S. 88 f., 91, 93). Doch so heftig diese Polemik gegen die Aufnahme des Osmanischen Reiches in die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten auch ausfiel, umriss sie doch, dass die Zugehörigkeit zur Zivilisationsgemeinschaft nicht von der unüberbrückbaren Glaubensfrage abhing sondern vom Nachweis eines ausreichenden zivilisatorischen Fortschritts (Annahme europäischer Gewohnheiten, Teilhabe am technischen Fortschritt, Verbreitung von Literatur und Wissenschaft). Freilich konnte man über dessen erforderlichen Mindeststandard unterschiedlicher Meinung sein.
Schließlich erklärten die europäischen Mächte (ÖU, F, GB, Preußen, R, Sardinien) unter der neuen Eingangsformel "Im Namen Gottes des Allmächtigen" (früher wurde die Heilige Dreieinigkeit angerufen) in Art. 7 Satz 1 des Pariser Friedensvertrages über die Beendigung des Krimkrieges vom 30.5.1856 "die Zulassung der hohen Pforte zur Theilnahme an den Vortheilen der europäischen Staatengemeinschaft und des europäischen Völkerrechtes." Über die Bedeutung dieser Bestimmung wurde viel getritten. Es spricht einiges dafür, dass das Osmanische Reich schon früher in die europäische Staatenwelt aufgenommen wurde, was sich aber aufgrund eines allmählich abgelaufenen Integrationsprozesses nur schwer datieren lässt. Aber spätestens mit diesem Vertrag war das Osmanische Reich ins Europäische Konzert aufgenommen und in das regionale Sondervölkerrecht Europas einbezogen.
Mit der Integration des Osmanischen Reichs in die europäische Völkerrechtsgemeinschaft endete die Zeit, in der Verträge, die mit dem Sultan abgeschlossen wurden, zu nichts verpflichteten, da es sich bei diesem um einen "Ungläubigen" (so die Begründung im Mittelalter) bzw. um einen "Barbaren" (so die modernere Begründung) handelte. Umgekehrt bedeutete die Integration des Osmanischen Reiches aber auch, dass der Sultan nunmehr verpflichtet war, das Völkerrecht einzuhalten (z.B. das Gesandtenrecht). Dies galt nicht nur für das damals nur schwach entwickelte Völkervertragsrecht sondern auch für das damals stark entwickelte Völkergewohnheitsrecht. Zum Völkergewohnheitsrecht gehörten auch humanitäre Vorstellungen, die bei den im 19. Jahrhundert unternommenen zahlreichen "humanitären Interventionen" deutlich wurden. Der in Armenien 1915 begangene Völkermord spricht - so betrachtet - nicht für den orientalischen Charakter des Osmanischen Reiches sondern ist Ausdruck eines dunklen Kapitels der europäischen Rechtsvergangenheit des Osmanischen Reiches.
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