Warum war die Varusschlacht für Rom so bedeutend?

In Frieden in einer wohlorgansierten Welt zu leben und seine Götter weiter verehren zu können, das abzulehnen dürfte jedem schwerfallen, der die Vorteile der römischen Lebensweise einmal kennengelernt hatte oder gar hineingeboren wurde.

Im Frieden unter der Pax Romana leben zu müssen, bedeutete von einer kriegerischen Lebensweise und der Möglichkeit sich durch Beutemachen zu bereichern wegkommen zu müssen.

Das war für Germanen, die selbst auf weniger fruchtbaren Böden saßen oder an eine Lebensweise als in irgendeiner Form bewaffneter Arm ihrer Gruppe gewohnt waren oder die selbst von Tributen unterworfener Gegner profitierten, alles andere als attraktiv.
 
Was sie a posteriori bedeutsam macht: ihr ziemlich endgültiger Stoppschildcharakter.
Das war ganz klar der Fall für die Stämme nördlich der Alpen. Ich meine Römer haben auch im Osten und immer wieder Niederlagen erlitten, aber das tangierte die germanische Stämme wahrscheinlich wenig – wichtig war, was bei ihnen bzw. in ihrer Nähe passierte.

Andererseits könnte Germanien bei einem Sieg Varus` auch so etwas wie Noricum werden. Wenn auch noch nicht gänzlich militärisch besiegt, so wären die Stämme sicher eingeschüchtert gewesen, also könnte man sich danach auch auf einen Modus vivendi alla Noricum einigen, oder?
 
Andererseits könnte Germanien bei einem Sieg Varus` auch so etwas wie Noricum werden.
hätte hätte Perlenkette...
Fakt ist: das römische Imperium gab trotz der Tiberius-Siege-Propaganda das Projekt "Elbe als Limes" auf, wofür rund 100 Jahre später Tacitus ironische Worte fand. Und es nahm dieses Projekt auch nicht wieder auf (!!).
Es wäre übertrieben, nun aus dem Stoppschildcharakter der Varusschlacht dem römischen Imperium eine Art "Germanenangst" zu attestieren - ganz anders: man sah ein, dass da östlich des Rheins zu wenig zu holen war, als dass sich die Mühe einer Grenzverlegung an die Elbe lohnen würde. Stattdessen war die Rhein-Donaugrenze ein paar Jahrhunderte lang (!!! sic) stabil. Das sah in anderen Grenzregionen anders aus.
 
Dieses:
Naturraeumliche_Grossregionen_Deutschlands_plus.png
 
...da sehe ich viele Gebirge... Schwarzwald, Erzgebirge, Thüringer Wald, hessisches Bergland, Taunus, Harz - - das hilft mir bei meiner Frage nicht weiter.
 
Hier wurde ja in den letzten Tagen viel geschrieben. Ich versuche mal zu verschiedenen Aspekten meine Gedanken einzubringen.

Besiedelung:
Die Römer griffen zu erbarmungslosen Umsiedlungsaktionen, wenn ein Stamm widerspenstig blieb. Beispiel ist die Umsiedlung der Sugambrer im Jahr 4 uZ vom rechtsrheinischen auf linksrheinischen Ufer um sie besser kontrollieren zu können. Deren ursprüngliches Gebiet wurde danach von anderen germanischen Stämmen übernommen.

Schauen wir uns mal die Situation in der Agri Decumates an. Tacitus spricht davon, dass die Helvetiereinöde von

"Die abenteuerlustigsten Gallier, die die Not kühn gemacht hat, haben den Boden, dessen Besitz umstritten war, besetzt; seitdem dann der Limes angelegt und die Grenzwachen weiter nach vorn verlegt worden sind, bilden sie einen Vorposten unseres Imperiums und einen Teil der Provinz."
(bei Wiki rauskopiert)

Dr. Peter Knörzele hat für den Bereich von Karlsruhe eine zweiphasig erfolgte römerzeitliche Besiedelung heraus gearbeitet. Direkt am Rhein gab es eine Römerstraße ("Rheinstraße"). Hier siedelten sich ziemlich chaotisch gallische Siedler an. Warum chaotisch? Es gab keine Planorte /-städte. Jeder baute wohl, wo es ihm gerade gefiel. Dadurch entstanden viele kleine Siedlungen rechtsrheinisch. In einer späteren Phase erkannten die Römer, dass die Rheinstraße viele Nachteile hatte (wenig geradliniger Verlauf, Überschwemmungen, Mückenplage) Sie bauten daher am Westrand des Schwarzwaldes bis hoch in den Odenwald die Bergstraße. Diesmal wurde jedoch mit dem Straßenbau das Land an der Straße parzelliert. Es wurden danach an topographisch geeigneten Orten (Südwesthalbhöhenlage an Bachläufen) Gutshöfe errichtet. Die waren im Grundriss und technischer Ausfertigung so einheitlich, dass man hier von einer Arbeit der römischen Streitkräfte ausgehen kann. Auch wenn es da immer wieder Gegenmeinungen gibt, vermutlich waren diese Gutshöfe für römische Veteranen als Abfindung nach ihrem Militärdienst vorgesehen.

Da haben wir auch schon die drei Bausteine für eine Entwicklung der Länder östlich des Rheins. Menschen mit römischem Bürgerrecht als Gutsbesitzer, gallische Siedler (die sich im Osten eine bessere Zukunft erhofften, in Vici als Handwerker, kleine Händler und Transporteure) und Deportation von rebellischen Germanen.

Entscheidend das man siedeln konnte, war ein Schutz durch römische Streitkräfte. Hierzu hätte man nicht einfach das Land bis zu Elbe als römische Provinz erklären dürfen. Dazu hätte man kleinteiliger vorgehen müssen, wie es später dann die Flavier es machten. Für Tiberius dann: Klimatisch günstige Gebiete wie die Wetterau ins Reich einbinden und in wenig interessanten Gebieten die Germanen in ihren sumpfigen Heimat als Verbündete gewinnen.
 
Sicherlich hätte man versuchen können nach und nach einen Stamm/eine Gruppe nach dem/der anderen zu unterwerfen und in das Imperium zu integrieren. Das hätte allerdings vorausgesetzt in einem längeren Zeitraum immer wieder kleinere Kriege führen zu müssen und möglicherweise hätte das wiederholte unterwerfen Einzelner Gruppen bei den anderen Germanen präventiv zu erneuten anti-römischen Allianzen geführt.
Das ist ein nicht zu unterschätzender Einwurf. Jedoch ist eine menschliche Regel eigentlich immer gültig. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Deshalb gab es ja vermutlich den Angrivarierwall, weil da zwei Stämme nicht miteinander konnte. Da hat Varus wohl ziemlich viel falsch gemacht, dass er zeitgleich gleich mehrere benachbarte Stämme gegen sich aufbrachte. Oder Arminius war hier einfach ein ungewöhnlich charismatischer Mensch.
 
... und wenn man sich ansieht, wie schnell Rom es schaffte nach schweren Niederlagen, bei denen ganze Legionen verloren gingen, wie etwa Cannae in relativ kurzer Zeit wieder neue Legionen aufzustellen, zeigt das, dass es an potentiellen Soldaten nicht fehlte ...
Zwischen Cannae und Varusschlacht liegen über 200 Jahre, in diesen 200 Jahre gab einen grundlegenden Wandel sowohl des politischen wie auch des militärischen Systems.
Anscheinend war es unter Augustus nicht so einfach, nach dem pannonischen Aufstand und der Varusniederlage frische Legionen aus dem Hut zu zaubern; stattdessen wurde die Dienstzeit der Legionäre verlängert. Das dürfte neben anderen Gründen einige Jahre später zu den Meutereien der in Pannonien und am Rhein stationierten Truppen geführt haben.

Ansonsten gebe ich Dir im Grundsatz recht: Rom leistete sich einen erstaunlich schlanken, aber effektiven Militärapparat und wird sich kaum Milchmädchenrechnungen hingegeben haben, wie man diesen aufblähen könnte.
 
Darüber hinaus, selbst wenn man das anehmen würde, es hätte sich das Problem gegeben, dass die Nachrichtenwege so lang geworden wären, dass Rom selbst es immer schwerer gehabt hätte, faktische Kontrolle über seine Militärbefehlshaber in den Provinzen auszuüben.
D.h. selbst wenn Rom dadurch auf dem Papier mehr Truppen gehabt hätte, hätte daraus noch lange nicht resultiert, dass die Imperatoren auch in der Lage gewesen wären, diese truppen zu kontrollieren und für ihre Zwecke einzusetzen, während sich gleichzeitig mit der Autonomie der Befehlshaber durch mangelnde Kontrollmöglichkeiten die Gefahr, dass sich diese Truppen aus Eigenintressen gegen Rom wenden könnten drastisch erhöht hätte.
Nachrichtenwege waren in der Antike in aller Regel so oder so lang. Trotzdem hatten die Kaiser in den ersten beiden Jahrhunderten der Monarchie meist keine Probleme, ihre "Militärbefehlshaber" im Griff zu behalten, bzw. versuchten diese mit wenigen Ausnahmen erst gar keine Erhebungen. Ich glaube nicht, dass es schwieriger gewesen wäre, einen Befehlshaber in Germanien zu kontrollieren als einen in Dakien oder Syrien.

Außerdem sehe ich keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Länge der Nachrichtenwege und der Kontrolle. Wenn ein Militärbefehlshaber revoltieren wollte und dafür die Unterstützung seiner Truppen gewann, konnte er das, egal wo er war. Es war auch später nicht so, dass es Aufstände nur in den entlegensten Teilen des Reiches gegeben hätte.

Sogar im Gegenteil: Zu den größten Gefahren für den Kaiser gehörten die Truppenkonzentrationen an Rhein und Donau. Wenn sich ein Rheinkommandant erhob, verfügte er nicht nur über eine beachtliche Streitmacht, sondern konnte auch leicht die Kontrolle über Gallien erlangen, und nach Italien war es dann nicht mehr weit - für den Kaiser wurde es schwierig, sich dagegen zu rüsten. Wären die Legionen statt am Rhein an der Elbe gestanden, hätten sie sich vergleichsweise eher im Abseits befunden.
 
Anscheinend war es unter Augustus nicht so einfach, nach dem pannonischen Aufstand und der Varusniederlage frische Legionen aus dem Hut zu zaubern; stattdessen wurde die Dienstzeit der Legionäre verlängert.
Ja, auf sowas wie Verlängerung der Dienstzeit oder Verspätungen bei der Auszahlung des Soldes sind Soldaten allergisch – Soldat kommt ja vom Sold.

Nachrichtenwege waren in der Antike in aller Regel so oder so lang. Trotzdem hatten die Kaiser in den ersten beiden Jahrhunderten der Monarchie meist keine Probleme, ihre "Militärbefehlshaber" im Griff zu behalten, bzw. versuchten diese mit wenigen Ausnahmen erst gar keine Erhebungen.
So sehe ich das auch.

Außerdem habe ich wieder einen Beleg für die These von Youth Bulge* gefunden – diesmal bei Tacitus (15. Lebensweise im Frieden): https://www.gottwein.de/Lat/tac/Germ06.php

Wenn das Gemeinwesen, in dem sie geboren sind, in langem Frieden und Untätigkeit erlahmt ist, suchen sehr viele adlige Jünglinge von sich aus die Stämme auf, die im Augenblick einen Krieg führen, weil einerseits die Ruhe dem Volk unwillkommen ist und sie dann inmitten von Gefahren leichter zu Ruhm gelangen, sich ein großes Gefolge auch nur durch Gewalt und Krieg erhalten lässt.

Wenn die germanischen Stämme bis zur Elbe unter römischer Kontrolle stünden, so wäre es für diese Jungspunde ein Leichtes, sich als Legionäre Ruhm zu holen. Aber weil es dem nicht so war, heuerten sich halt bei jenen Stämmen an, die gerade Krieg führten.

* Was sagt Gunnar Heinsohns These?

Nach Gunnar Heinsohn entstehen durch youth bulges die Voraussetzungen für Bürgerkrieg, Völkermord, Imperialismus und Terrorismus. Wenn große Teile der männlichen Jugend zwar ausreichend ernährt sind, aber keine Aussicht haben, eine angemessene Position in der Gesellschaft zu finden, stehe ihnen als einziger Weg die Gewalt offen: „Um Brot wird gebettelt. Getötet wird für Status und Macht.“
 
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