Ist der Osten "menschlicher" und der Westen "kapitalistischer"?
Mein ältester Sohn, 22, ist mit 17 wegen der Ausbildung nach Bayern (Großraum München) gezogen und wegen der Arbeitsstelle auch dort geblieben. Richtig zuhause fühlt er sich aber dort nicht, und seinen Worten nach kann er sich auch nicht vorstellen, mit einem Mädchen von dort fester zusammen zu sein, weil diese zu berechnend seien. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, bezieht sich diese Aussage darauf, dass die Mädchen in der bürgerlichen Gesellschaft sich feste Freunde stärker nach "Ernährerqualitäten" aussuchen - etwas, das in der DDR kaum von Bedeutung war. Die Tatsache, dass mein Sohn aber nicht zuletzt wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten in Bayern bleibt, zeugt allerdings davon, dass ihm das Materielle auch nicht ganz gleichgültig ist und kann schon als Zeichen von Anpassung durchgehen, finde ich.
Hallo Marcia,
Dein Beitrag hat mich lange bewegt. Als ein in Ostdeutschland lebender "Westdeutscher" bin ich in den letzten zehn Jahren immer wieder dem Stereotyp vom "menschlicheren" Osten und dem "kapitalistischeren" Westen begegnet. Die von Dir erzählte Geschichte über das Leben und die Erfahrungen Deines Sohnes passen gut in dieses Bild hinein, das meiner Auffassung nach allerdings korrekturbedürftig ist.
Ich denke, du bist damit einverstanden, wenn wir uns in der weiteren Diskussion von Deinem Sohn etwas lösen, zumal die Frage, warum dieser (jedenfalls bis zum Zeitpunkt Deines Beitrags) noch nicht die richtige Frau gefunden hat, viele und eben auch sehr persönliche Gründe haben kann. Deshalb erzähle ich einfach mal eine Story, die mir passiert ist, als ich mich in Dresden niederließ:
Ein Mandant der Anwaltskanzlei bei der ich damals arbeitete (Geschäftsführer einer Firma) klagte darüber, wie stark die Wessis auch im persönlichen Umgang aufs Geld schauen würden. Die "menschlicheren" Ossis hätten gegen die "kapitalistischer" orientierten Wessis keine Chance. Er hatte wohl erfahren, dass ich Junggeselle sei, und lud mich auf ein Bier in seine Lieblingskneipe ein. Dort zeigte er mir eine junge Frau, die an einem anderen Tisch sass. Bei dieser handelte es sich - Zufall über Zufall - um seine Schwester. Die sah durchaus gut aus. Er pries mir deren Eigenschaften. Sie sei sportlich und interessiere sich ganz furchtbar für Gerichtsfälle und Rechtsstreitigkeiten. Ich kam mir vor, wie auf dem "Kuhmarkt". Die ganze Situation war ziemlich peinlich, zumal ich eine Freundin in Westdeutschland hatte, was für mich aber - seiner Auffassung nach - nicht gut sei wegen der ganzen "Hin- und Herfahrerei". Ich hatte große Mühe mich aus dem unerwünschten Heiratsvermittlungsversuch herauszuwinden und den Mandanten nicht zu verscheuchen. Heute hat der Mandant es geschafft. Seine Firma läuft exzellent. Seit dem er oben ist, sind für ihn die Ossis die besseren Haie im kapitalischen Haifischbecken, weil sie stärker nach vorne drängen und zubeissen würden. Seine Schwester hat einen Steuerberater geheiratet; vermutlich interessierte sich auch ganz furchtbar für Steuerfälle.
Seit diesem Tag habe ich den Eindruck bekommen, dass das Bild vom "menschlicheren" osten und vom "kapitalistischeren" Westen mehr über die Sichtweise viele Ostdeutscher aussagt als über die Realität und dass diese Sichtweise stärker vom Nutzen-Kosten denken geprägt ist als die vieler Wessis (umgekehrte Beispiele gibt es natürlich auch).
Noch ein anderer Fall: Eine Mandantin erzählte mir mal, wie sie sich zu DDR-Zeiten um eine neue Badewanne bemühte. Sie musste allerhand Kontakte aufbauen, "Freundschaften" pflegen, ihr Mann (ein Handwerker) allerhand Reparaturarbeiten erbringen, bis die Badewanne dann abgeholt werden konnte. Nach dem Erhalt der Badewanne war natürlich Schluß mit einigen Freundschaften, mit anderen (noch benötigten) nicht. Heute ist sie froh, im Baumarkt einkaufen zu können, was sie braucht und nicht Beziehungen zu Leuten pflegen zu müssen, die sie gar nicht mag. Waren solche Verhaltnisse "menschlicher" und weniger vom Materialismus geprägt als die im Westen?
Ich weiß natürlich, dass Du - Marcia - nicht diese These vom "menschlicheren" Osten vertreten hast. Aber die Geschichte von Deinem Sohn erinnert mich an diese und vielleicht gelingt uns und den anderen Usern ja eine Diskussion über diese.
Liebe Grüße
Gandolf