Der türkische Artillerieeinsatz 1453 - Mythos und historische Wahrheit

Gegenkaiser

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Die Kurzform des in zahllosen Büchern verbreiteten Mythos lautet, daß die türkische Artillerie, allen voran die Riesengeschütze des ungarischen Ingenieurs Urban, die Landmauern von Konstantinopel sturmreif geschossen hätten.

Der Topos ist zu verführerisch in seiner klaren Dichotomie, als daß ihm Generationen von Autoren hätten widerstehen können: Hier die unbezwingbaren, uralten Mauern, an denen ganze Völkerscharen sich die Zähne ausgebissen hatten, dort der unwiderstehliche Impetus der frühneuzeitlichen Artillerierevolution, die alles Alte, was sich ihr entgegensetzt, erbarmunglos in Schutt und Asche legt. Hier das antike Riesenreich, reduziert auf einen Stadtstaat, aber immer noch Träger eines einzigartigen Renommees, dort die aufsteigende, junge Osmanenmacht, noch arm an Reputation, aber reich an roher Kraft.

Wen interessiert bei so vielen geschichtsmächtigen Kräften am Werke noch die schnöde historische Wahrheit? Die könnte nämlich viel banaler sein: Die bei weitem effektivste Waffe der Türken bei der Belagerung war der Sturmangriff, das gegen Freund und Feind gleichermaßen rücksichtslose wellenartige Anwerfen von Menschenmassen gegen Mauern, die älteste, in technischer Hinsicht primitivste und - wie böse Zungen behaupten könnten - orientalischste aller Belagerungs'techniken'. Die Stadt wurde schließlich durch eine unbesetzte Pforte genommen, bedingt durch, wie ich meine, die pausenlose Erschöpfung der zahlenmäßig weit unterlegenen byzantinischen Verteidiger.

Welchen Anteil hatte der osmanische Artillerieeinsatz also in Wirklichkeit am Belagerungserfolg? Die Frage würde ich gerne in enger Anlehnung an die Literatur diskutieren. Meines Wissens wurden die Breschen durch die Byzantiner wieder geschlossen und Urban selbst soll bei der Explosion eines seiner Geschütze umgekommen sein. Schmidtchen behauptet, daß die kleineren Kaliber der Türken wesentlich effektiver gewesen wären, aber welche konkreten Erfolge hatten sie vorzuweisen?

Siehe auch: http://www.geschichtsforum.de/f328/mittelalterliche-riesengesch-tze-28055/
 
Diese Diskussion hatten wir schon mal, Gegenkaiser. Wenn ich mich recht entsinne, war (möglicherweise) die offene Pforte eines der beiden Öffnungen der Mauer, die andere war ne Mauer-Bresche, wo zu ähnlicher Zeit ebenfalls Osmanen einströmten.

Was allerdings "orientalisch" an Sturmangriffen von "Menschenmassen" sein soll, ausser den Orientalismus des Autoren zu offenbaren, erschließt sich mir nicht ganz. Kann Ingeborg uns sicher weiterhelfen.

Also bitte Mods, hängt diesen Strang an den bestehenden dran, vielleicht gibt es ja noch Aspekte, die wir noch nicht besprochen haben, und die gern Gegenkaiser besprochen hätte.

Sänk ju.
 
Hier hatten wir schon mal ausführlicher über die Eroberung Konstantinopels diskutiert, inkl. Quellen-/Lit.angaben:

http://www.geschichtsforum.de/f40/der-letzte-byzantinische-kaiser-fragen-19582/

Zugegebenermaßen ein nicht soooo aussagekräftiger Titel.

Orientalische Despotie? Versteh nicht deinen Link? Bezugnehmend auf "stürmende Menschenmassen" gegen Mauern? Oder bezugnehmend auf die bithynische und thrakische fruchtbare Landschaft (und Landwirtschaft)?
 
Den Link verstehe ich nun auch nicht ganz.

Was an dem Ansturm von "Menschenmassen" so arg orientalisch gewesen sein soll, verstehe ich auch nicht. Meines Erachtens waren diese "Massen" ein Eindruck verschiedener Feinde der Osmanen, die schlicht bisweilen über kleinere Heere verfügten.

Die einzig sinnvolle Begründung dieser "orientalischsten ... Belagerungstechnik" für mich wäre, wenn die Türken irgendwie ganz besonders auf konzentrischen Angriffen auf einem Punkt Wert gelegt hätten. (Da könnte man dann gut mit Napis Durchbrüchen mit massivem Inf. und Art.einsatz an einer Stelle vergleichen.)
Ansonsten aber griffen die Christen ja auch, wenn sie hatten, mit Massen an.
 
Den Link verstehe ich nun auch nicht ganz.

Was an dem Ansturm von "Menschenmassen" so arg orientalisch gewesen sein soll, verstehe ich auch nicht. Meines Erachtens waren diese "Massen" ein Eindruck verschiedener Feinde der Osmanen, die schlicht bisweilen über kleinere Heere verfügten.
Soll vielleicht Bezug nehmen auf die in einem anderen Thread vertretene Meinung in "orientalischen Despotien" spielten Menschenleben keine Rolle???
Es seien also "Menschenmassen" als "Kanonenfutter" verheizt worden um den Gegner mit schlichter Masse zu überrennen??? Einsatz qualifizierter Technik ist solchen "Barbaren" nicht zuzutrauen???
 
Wo, muss ich überlesen haben...

Habe in einer Online-Vorlesung mal gehört, dass dieses Bild daher rührt, dass Sesshafte über eine Geschichtsschreibung verfügen, Nomaden nicht. Daher kommt Attila schlecht weg, Cäsar bei gleichen Praktiken gut. Aber das gehört hier nicht rein. :)
 
Ich schreib morgen mal was dazu. Im Moment habe ich das dazu passende Buch nicht hier (Ágoston, Guns for the Sultan - military power and the weapons industry in the Ottoman Empire), aber das wollte ich sowieso morgen aus der Bib abholen. Also bis dahin.... :winke:
 
Zumindestens die Baschi-Bazuks waren eine Art Kanonenfutter. Und die wurden zuerst losgeschickt, um die Verteidiger zu ermüden. Die Gazis vielleicht auch, je nach Einschätzung.
Bevor dann die eigentlichen Kerntruppen, anatolische Truppen und unsbesondere die Janitscharen losgeschickt wurden.

Bezüglich Technik würde ich sagen, dass die Osmanen damals mit Sicherheit die innovativsten Militärs in West und Ost waren.
Kanonen wurden in der Menge, Größe und Kaliber m.W. nirgendswo vorher eingesetzt wie vor Konstantinopel. Die Idee Dutzende Schiffe über die Landenge rüberzubringen, um die Polis von beiden Seiten einzuschließen war schon klasse. Die Logistik, um ca. 100.000 Mann, vielleicht auch mehr, zu unterhalten und ernähren war auch schon was besonderes zu der Zeit.

Es gibt überhaupt keinen Grund die Osmanen zu der Zeit gering zu schätzen.
 
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Wegen der Kanonen mal eine Überlegung von mir: In der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 z.B. setzten die Osman bereits massiver Artillerie ein, wenn auch mit nicht sehr großem Erfolg. Zumindest experimentierten sie mit der neuen Technik. Ihnen fehlte allerdings die passende Taktik, aber sie versuchten es. Das läßt sie in meinen Augen sehr modern aussehen.
In der Schlacht von Nikopolis 1396 kommt, soviel ich weiß, allerdings keine Artillerie mehr vor. Das war wohl das Lehrstück.
Ähnlich war es vielleicht auch bei der Belagerung von Konstantinopel. Man experimentierte mit den riesigen Kanonen. Bei späteren Belagerungen kamen dann solche nicht mehr zum Einsatz. Die Riesengeschütze erfüllten wohl nicht die in sie gesetzten Erwartungen.
 
Nun ja,der Einsatz der der Riesenkanonen durfte wohl eher psychologischen Effekt gehabt haben (ähnlich der "Dicken Berta" im 1-Weltkrieg)
So ein Teil sah imposant aus,machte viel Krach und Rauch, durfte aber,was Reichweite und Durchschlagskraft betrifft mittleren und kleineren Kalibern eher unterlegen gewesen sein,von den taktischen Möglichkeiten mal ganz abgesehen, die eine leichte bewegliche Feldartillerie bot.

Was die Breschen in den Mauern von Byzanz betrifft,so. dürfte das eher das Werk von Mineuren gewesen sein.Die damaligen Geschütze waren m.W. nicht in der Lage eine mitteldicke Stadtmauer plattzumachen geschweige denn die gewaltigen Mauern von Konstantinopel-
 
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Wo, muss ich überlesen haben...

Habe in einer Online-Vorlesung mal gehört, dass dieses Bild daher rührt, dass Sesshafte über eine Geschichtsschreibung verfügen, Nomaden nicht. Daher kommt Attila schlecht weg, Cäsar bei gleichen Praktiken gut. Aber das gehört hier nicht rein. :)

Dann laß mich schnell auch noch etwas sagen, was hier eigentlich nicht hingehört. Habe heute einen super Geschichtskommentar gelesen: Relativism and deconstructivism is a by-product of our egalitarian age: if everyone and everyone's opinions are equal, then everyone's histories are also equal.

Soll heißen, das Osmanische Reich darf keine orientalische Despotie gewesen sein, obwohl es im Orient lag und eine Despotie war, weil der implizite Vergleichsmaßstab, die (west-)europäische Mächte, keine waren.
 
Wegen der Kanonen mal eine Überlegung von mir: In der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 z.B. setzten die Osman bereits massiver Artillerie ein, wenn auch mit nicht sehr großem Erfolg.

Quelle? Das müßte locker flockig der erste Hinweis auf mobile Feldartillerie in der Geschichte sein, 30 jahre vor den Hussiten. Soweit ich weiß, setzen noch 1402 weder die Osmanen noch Timur Lenk, immerhin der erfolgreichste General seit Alexander, keine Kanonen ein. Erst 1422 tauchten die Osmanen bei der ersten Belagerung Konstantinopels mit kleinkalibrigen Geschützen auf, die aber noch ineffektiv gewesen sein sollen.
 
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Soll heißen, das Osmanische Reich darf keine orientalische Despotie gewesen sein, obwohl es im Orient lag und eine Despotie war, weil der implizite Vergleichsmaßstab, die (west-)europäische Mächte, keine waren.
Ich hab gar nicht gesagt, ob die Osmanen eine waren oder nicht. Ich habe nur Bezug genommen auf die sog. "hydraulische Gesellschaften" in deinem Wiki-Artikel, dass ihr Zentrum sehr fruchtbar ist.:grübel:
 
Das wäre wahrscheinlich jetzt Thema für eine andere Diskussion, aber wie definiert man eine "orientalische Despotie"? Und in wiefern differenziert sie sich von einer absoluten Monarchie wie die der Zaren, eines Ludwig XIV oder der früheren römischen Cäsaren?

Ortega y Gasset hat einst eine Reihe von Vorlesungen gehalten bei denen er Toynbees "Gang der Weltgeschichte" analysierte. Unter anderem machte er dabei einen Exkurs über Parallelen und Unterschiede zwischen einer Monarchie mit einer geregelten und eindeutigen Thronfolge und dem römischen System, bei dem es mangels einer inhärenten Legalität, im Endeffekt immer wieder auf die Durchsetzung des Stärksten ging, auch wenn die Auswahl eventuell innerhalb einer bestimmten Gruppe geeigneter „Kandidaten“ erfolgte.
Die Parallelen zur Thronfolge bei den Osmanen liegen auf der Hand. Inwiefern diese durch die Übernahme Byzantinischer Bräuche beeinflusst wurden, kann ich nicht beurteilen.
 
Mike Hammer schrieb:
Bezüglich Technik würde ich sagen, dass die Osmanen damals mit Sicherheit die innovativsten Militärs in West und Ost waren.
Kanonen wurden in der Menge, Größe und Kaliber m.W. nirgendswo vorher eingesetzt wie vor Konstantinopel.
Hast du eine Quelle?

Auch wenn ich jetzt nicht angesprochen war: Es gibt Autoren die der Meinung sind, dass die Osmanen durch ihre militärische Organisation eine Ursache für die "militärische Revolution" im westen waren. Die hatten frühzeitig ein selbständiges Artilleriekorps, sehr früh eine durchweg mit Musketen bewaffnete disziplinierte Infanterie (die Janitscharen, wenn auch noch nicht zur Einnahme Konstantinopels) und ein sehr effizientes Ingenieurswesen. Sogar ihr Sanitätswesen soll für die frühe Neuzeit relativ hoch entwickelt gewesen sein.

Vor allem die Kombination aller drei Waffen, noch dazu mit ihrer traditionellen Kavallerie, zeigte sich über lange Zeit überlegen und forderte natürlich ihre Gegner zum nachziehen. Wer es nicht, oder nicht rechtzeitig schaffte (z.B. die einst so mächtigen Mamelucken in Ägypten) wurde besiegt.

Diese Betrachtung ist vielleicht etwas einseitig, aus der Luft gegriffen ist sie nicht.
 
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Nun ja,der Einsatz der der Riesenkanonen durfte wohl eher psychologischen Effekt gehabt haben (ähnlich der "Dicken Berta" im 1-Weltkrieg)
So ein Teil sah imposant aus,machte viel Krach und Rauch, durfte aber,was Reichweite und Durchschlagskraft betrifft mittleren und kleineren Kalibern eher unterlegen gewesen sein,von den taktischen Möglichkeiten mal ganz abgesehen, die eine leichte bewegliche Feldartillerie bot.

Was die Breschen in den Mauern von Byzanz betrifft,so. dürfte das eher das Werk von Mineuren gewesen sein.Die damaligen Geschütze waren m.W. nicht in der Lage eine mitteldicke Stadtmauer plattzumachen geschweige denn die gewaltigen Mauern von Konstantinopel-

Die "Dicke Berta" hatte nicht nur psychologische Effekte. Sie und ihre ebenso fetten Schwestern von Skoda zerbröselten die Belgischen Sperrforts und die Festungswerke um Przemysl. Im Belagerungskrieg waren die sehr effektiv.

In der Feldschlacht in der frühen Neuzeit wurde solche Monstergeschütze wohl nur selten verwendet (zu unbeweglich). Wenn schon, dann aber mit Hagelgeschossen geladen und nicht mit Vollkugeln. Ein Schrotschuss aus einem 40 cm Geschütz konnte gegen eine geschlossene Formation schon ganz schön reinhauen.

Was die Effektivität der frühen Kanonen gegen Stadtmauern betrifft, existieren genügend Beispiele die belegen dass dieses sehr wohl der Fall war. Die Franzosen eroberten in der letzten Phase des Hundertjährigen Krieges innerhalb von wenigen Wochen zahlreiche Festungen die vorher jahrelange Belagerungen standgehalten hatten.

In Spanien beendeten die Kastilischen Truppen um 1492 dank ihrer Artillerie in kurzer Zeit die Eroberung der letzten Maurischen Festungen die gegen früheren Belagerungstechniken gefeit gewesen waren.

Im DR kann man an die Eroberung Kufsteins durch Maximilian I erinnern.
 
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Was die Effektivität der frühen Kanonen gegen Stadtmauern betrifft, existieren genügend Beispiele die belegen dass dieses sehr wohl der Fall war. Die Franzosen eroberten in der letzten Phase des Hundertjährigen Krieges innerhalb von wenigen Wochen zahlreiche Festungen die vorher jahrelange Belagerungen standgehalten hatten.
Sonst hätte man wohl auch nicht soviel da hinein investiert.

Man darf hier sicherlich Konstantinopel nicht mit anderen Städten verwechseln. Konstantinopel war der letzte Rückzugspunkt des byzantinischen Kaisers. Ob es zeitaufwändig war, schweres Geschütz heran zu bringen, war für Konstantinopel recht gleich, denn der byzantinische Kaiser konnte ja nicht fest auf eigene oder verbündete Entsatztruppen hoffen, denen es auch nur halbwegs gelungen wäre, die Belagerer zu schlagen. Entsprechend hatten die Türken alle Zeit der Welt ihren Artilleriepark zusammen zu ziehen. Und in der Zeit vor den fetten Mörsern, waren diese schweren Geschütze an Effizienz kaum zu toppen. Irgendwer hatte einmal wo anders gesagt, früher hätte man eben gewaltige Triboken genommen, nun waren diese großen Kanonen das Moderne. So sehe ich das auch.

Natürlich ist es dennoch möglich, dass die Wirkung der Kanonen überschätzt wird. Immerhin waren sie auch um die Mitte des 15.Jh. noch eine relative Neuheit. Der nummerisch so bedeutende, wenngleich vielleicht notwendige, Einsatz musste ja die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich ziehen.
 
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