Der türkische Artillerieeinsatz 1453 - Mythos und historische Wahrheit

Hast du eine Quelle?
Das habe ich in verschiedenen Publikationen gelesen, auf die ich leider nicht mehr zurückgreifen kann. Unter anderem fand ich es auch unter Wikipedia: "Ein gewisser Haidar war Kommandant der osmanischen Artillerie, die damals schon benutzt wurde. Es wurden schwere Salven auf die christlichen Ritter geschossen, die bis dato noch keinem Artilleriebeschuss ausgesetzt waren. Auch das serbische Heer hatte Kanonen. Die ersten Kanonen waren importiert und erstmals 1373 eingesetzt worden, 1385 wurden in Serbien die ersten eigenen Kanonen gegossen."
In einer späteren Schlacht (15. Jahrhundert) sollen die Türken sogar die schwere Reiterei eines christlichen Heeres unter Kreuzfeuer genommen und stark dezimiert haben. Habe ich auch mal gelesen, ist aber schon Ewigkeiten her. Ich weiß nicht mal mehr, welche Schlacht es gewesen sein soll. Also, wenn da jemand Kenntnis hat, würde ich mich freuen.
 
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Meiner Erfahrung nach ist Wikipedia bzgl. der frühen Schußwaffen total unzuverlässig, weil dort Autoren am Werke sind, die keine Ahnung von Quellenkritik haben und ihr nationalistisches Süppchen kochen wollen. Vielleicht handelte es sich bei den Balkanschlachten um Handrohre, denn Lafetten gab es damals noch nicht und Legestücke wären für den mobilen Einsatz total unbrauchbar gewesen. Außerdem war der Balkan ganz sicher nicht führend im Einsatz von Schusswaffen, die Entwicklung wurde vielmehr im 14. Jh. von Mitteleuropa vorangetrieben.

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Der Effekt einer zu großen Pulverladung auf Stabringgeschütze:
File:Mons Meg, Medieval Bombard, Edinburgh, Scotland. Pic 03.jpg - Wikimedia Commons
 
Meiner Erfahrung nach ist Wikipedia bzgl. der frühen Schußwaffen total unzuverlässig, weil dort Autoren am Werke sind, die keine Ahnung von Quellenkritik haben und ihr nationalistisches Süppchen kochen wollen.
Dem will ich gar nicht widersprechen. Ich will auch nicht mit erhobenem Zeigefinger herumlaufen. Ich habe es eben nur gelesen und kann es mir vorstellen. Die Technik gab es zumindest am Ende des 14. Jahrhunderts. Das es vielleicht eher Büchsen als Kanonen waren ist sicher auch gut möglich.
Ich halte eben nur das Osmanische Heer im 14. und 15. Jahrhundert für hoch modern und denke, die werden alles ausprobiert haben, was so auf dem "Markt" war. Das da viel über- oder untertrieben wurde, blieb nicht aus. Zumal es speziell zur Schlacht auf dem Amselfeld wenig Überlieferungen gibt. Der Ausgang ist ja auch strittig.
 
So, ich hab jetzt hier "Guns for the Sultan" von Ágoston (2005) liegen. Das Buch beschäftigt sich detailliert mit den verschiedenen Waffenarten, der Waffenindustrie der Osmanen, dem Einsatz im Heer und der historischen Entwicklung - komplett mit Tabellen zu Produktionszahlen verschiedener Werkstätten, Gewichten von Geschossen etc. Tolles Buch. Ágoston hat dazu osmanische Quellen (Chroniken und Dokumente aus den Archiven) und europäische zeitgenössische Quellen ausgewertet.

Ich fasse mal kurz zusammen, was er zur Verbreitung von Feuerwaffen im 14. Jh. schreibt:
Die meisten frühen Daten für Anwendung von Feuerwaffen bei den Osmanen sind strittig, weil diese Angaben fast immer nur von einer einzigen Quelle gemacht werden und mehrere Generationen nach den Ereignissen aufgeschrieben wurden. Die Verfasser könnten auch ihre eigene Terminologie auf die früher verwendeten Waffen projiziert haben. Glaubhafte Quellen geben an, daß die Osmanen in den 1380ern mit Feuerwaffen vertraut gewesen sein dürften. In der ersten Schlacht auf dem Amselfeld 1389 hatten aber wohl nur die christlichen Gegner Feuerwaffen. Während der Belagerung von Konstantinopel zwischen 1394 und 1402 hatten die Osmanen dann aber schon Kanonen und benutzten solche auch 1422 gegen die Stadt (erfolglos).
Urban/Orban kommt als Artilleriechef bei der Belagerung von 1453 wohl tatsächlich auch in den osmanischen Dokumenten vor, ist also kein Hirngespinst. Er war allerdings nicht der einzige ausländische Experte, Agoston nennt aber keine Namen.
Was die Wirksamkeit der Kanonen gegen die Mauern von Konstantinopel 1453 betrifft, so geht Agoston davon aus, daß die Artillerie hier einen wichtigen Beitrag leistete. Er nennt aber auch Publikationen, die dieser Auffassung widersprechen. Es gibt da also auch in Fachkreise keine Übereinstimmung. Agoston bezeichnet seinen Standpunkt als "usually accepted".

Woher kommt eigentlich diese Geschichte mit dem Verrat und der geöffneten Seitenpforte? Hab ich das im Thread überlesen?
 
Das wäre wahrscheinlich jetzt Thema für eine andere Diskussion, aber wie definiert man eine "orientalische Despotie"? Und in wiefern differenziert sie sich von einer absoluten Monarchie wie die der Zaren, eines Ludwig XIV oder der früheren römischen Cäsaren?

Ortega y Gasset hat einst eine Reihe von Vorlesungen gehalten bei denen er Toynbees "Gang der Weltgeschichte" analysierte. Unter anderem machte er dabei einen Exkurs über Parallelen und Unterschiede zwischen einer Monarchie mit einer geregelten und eindeutigen Thronfolge und dem römischen System, bei dem es mangels einer inhärenten Legalität, im Endeffekt immer wieder auf die Durchsetzung des Stärksten ging, auch wenn die Auswahl eventuell innerhalb einer bestimmten Gruppe geeigneter „Kandidaten“ erfolgte.
Die Parallelen zur Thronfolge bei den Osmanen liegen auf der Hand. Inwiefern diese durch die Übernahme Byzantinischer Bräuche beeinflusst wurden, kann ich nicht beurteilen.
Siehe dazu auch den schönen Artikel:
Zeitgeschichte online - Fachportal für die Zeitgeschichte
Speziell der Punkt: Imperium oder Reich?
 
Woher kommt eigentlich diese Geschichte mit dem Verrat und der geöffneten Seitenpforte? Hab ich das im Thread überlesen?
Das ist durch S.Zweig "Sternstunden der Menschheit", eines der meistgelesenen Bücher der Welt, unausrottbar im Kollektivgedächtnis verankert.
 
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Das ist durch S.Zweig "Sternstunden der Menschheit", eines der meistgelesen Bücher der Welt, unausrottbar im Kollektivgedächtnis verankert.
:p Ich kenne die Geschichte an sich ja auch, von irgendwoher eben. Aber ich würde gern wissen, aus welcher der Quellen sie stammt. Ich fände es einleuchtend, wenn christliche Quellen tendenziell den Verrat als Grund für die Eroberung angeben und osmanische eher die militärische Überlegenheit. Würde ich als Chronist zumindest so machen.
Aus zentralasiatischen Quellen weiß ich, daß man im Grunde kaum was darüber erfährt, wie effektiv die Kanonen eigentlich waren. Die Texte sind ungeheuer blumig und gaukeln einem eine große zerstörerische Gewalt vor, aber ich weiß einfach, daß man mit Kanonenkugeln gegen eine Lehmmauer (und um die handelt es sich in Zentralasien immer) nicht wirklich viel ausrichten kann. Tunnel buddeln und sprengen bzw. Wasser unter Mauern leiten war da effektiver.
Im Nahen Osten waren das nun keine Lehmmauern, sondern welche aus Stein (die bröckeln leichter), aber die Quellen dürften genauso "zuverlässig" sein. Deswegen wundert es mich gar nicht, daß die Meinungen im Fall von Konstantinopel so auseinandergehen. Ich kenne aber die Quellen selber nicht.
 
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So, ich hab jetzt hier "Guns for the Sultan" von Ágoston (2005) liegen....
Und ich habe mal den Joseph Matuz, Das Osm. Reich, hier liegen. Er schreibt auf S. 38: 1385 sollen die Osmanen bei Konya gegen die Karamanen erstmals in der osm. Militärgeschichte Kanonen eingesetzt haben. So hatte ich es auch hier übernommen: http://www.geschichtsforum.de/f42/einf-hrung-die-geschichte-des-osmanischen-reiches-20740/

Klaus Kreiser macht im "Der osm. Staat" einige einsehbare (!) kurze Angaben:
Der osmanische Staat 1300-1922 - Google Buchsuche
S. 59. Auch zur Verwendung von Feldartillerie, wobei er insgesamt recht kritisch bleibt und die Probleme der Verwertbarkeit früher Quellen anspricht.

Einige Aussagen kann man auch dieser Hausarbeit entnehmen, die komplett einsehbar ist und die Einführung von Feuerwaffen bei den Osmanen beleuchtet:
Hausarbeiten.de - Akkulturation zwischen Europäern und Osmanen im 14. und 15. Jahrhundert am Beispiel der Landkriegführung - Seminararbeit*
Aber Hausarbeiten haben natürlich nicht so eine große Aussagekraft wie die hier nun zitierten Bücher.

Zu dem Stand der Militärtechnologie der Osmanen schreibt:
Ottoman warfare, 1500-1700 - Google Books

S. 15.
" Overall the Ottomans kept pace with advances in military technology throughout the period 1500 to 1700 and in some areas (such as sapping and mining) emerged as standard-setters in their own right."

und auf S. 107 zur Einführung von Kanonen:
" As far as the sphere of artillery techniques and pyrotechnics is concerned there is no question that the Ottomans were not just aware of and exposed to, but actively and successfully applying, existing knowledge from the late fourteenth century onwards.7 Although debate still continues concerning the provenance and antiquity of primitive pyrotechnic techniques, it seems well-established that a further breakthrough was accomplished by the introduction of methods for the graining of powder, perfected around 1420 and then rapidly disseminated throughout Europe and beyond during the 1420s and 1430s.8 The Ottomans’ early mastery of these significant improvements in the technique for producing gunpowder is demonstrated in their success in demolishing by concentrated cannon fire the six-mile defensive walls of Hexamilion on the Isthmus of Corinth in 1446.9 The “military revolution” of the 1430s and 1440s which the discovery of methods for the corning of powder engendered is of such a scale and importance as to dwarf all subsequent “revolutions” in military practice during the two and a half centuries which followed. "

Dann schreibt er noch was zur Richtung eines Technologietransfers, und wann es eine technologische Lücke gab, auf S. 108:

" In view of such considerations it seems reasonable also to question the validity of assumptions about a gap in technology between advanced and less advanced regions in Europe prior to the mid-eighteenth century.

If we posit the existence of a universal standard and argue for general parity and relative stasis,11 both in the development of weaponry and in the level of military advancement throughout the Mediterranean lands, the Ottomans in the early modern era may be more accurately and appropriately regarded as active participants in a shared technology rather than as passive recipients of borrowed means and methods. This assessment becomes the more apt when one stops to recall that the Ottomans made use of the same limited pool of technical experts (often the self-same technicians) as their European counterparts.12 During the sixteenth and seventeenth centuries most of Europe, including its southern flank, made up a single zone in which similar or convergent technologies prevailed. Techniques developed in one area spread rapidly throughout the Europo-Mediterranean region.13 After the close of the seventeenth century Russia too joined the exclusive circle. With the possible exception of pre-Petrine Russia it is historically inaccurate to speak of a distinction between the “advanced” and “backward” or developed and undeveloped parts of Europe and its terrestrial extensions in the Ottoman lands. Prior to the industrial revolution which affected only a small part of northernmost Europe, such divisions have no place, and such transfer of ideas as did take place was multi-directional as opposed to exclusively West to East or North to South.14"
 
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Und ich habe mal den Joseph Matuz, Das Osm. Reich, hier liegen. Er schreibt auf S. 38: 1385 sollen die Osmanen bei Konya gegen die Karamanen erstmals in der osm. Militärgeschichte Kanonen eingesetzt haben.
Das ist eine der Jahreszahlen, die bei Agoston mit Fragezeichen versehen sind. Ich glaube nicht, daß man mit den bekannten Quellen da jemals wirklich eine befriedigende Antwort finden wird. Außerdem war Matuz zwar ein hervorragender Osmanist und Turkologe, aber wie gut er sich mit der Militärgeschichte und -terminologie auskannte, kann ich nicht beurteilen. Das war ja auch gar nicht der Fokus seiner Arbeit. Die waffenspezifische Terminologie in den Quellen ist gerade für diese Übergangszeiten ziemlich schwammig, so daß man oft nicht weiß, womit die Leute da gerade schießen.

Dein Zitat aus Rhoads Murphey's Buch ist wichtig! Die Osmanen waren im 15. und 16. Jh. und wahrscheinlich auch noch darüber hinaus mittendrin im Weltgeschehen, z.T. Vorreiter in militärtechnologischer Hinsicht und sehr gut organisiert. (Auch Agoston läßt sich lang und breit zu diesem Thema aus.) Für die Belagerung von Konstantinopel von 1453 bringt uns das trotzdem nicht weiter .... ;)
 
Ich wäre auch sehr vorsichtig mit den Angaben über Artillerieeinsatz in Feldschlachten vor 1400. Um 1450 jedoch, hatte sich diese Technologie schon sehr weit verbreitet. Die Schlacht von Castillion (1453) gilt als die erste größere Feldschlacht in Westeuropa die durch größeren Artillerieeinsatz entschieden wurde.

Bezüglich der Verwendung durch die Osmanen sollte man eventuell die Eurozentristische Annahme einer notwendigen Übernahme von Mitteleuropa aus überdenken. Es existieren verschiedene Quellen die auf eine Einführung aus Ostasien über den Nahen Osten hinweisen. In Arabischen Schriften werden Formeln für Pulver schon im 13. Jahrhundert aufgeführt, darunter einige die ausdrücklich für Kanonen geeignet sein sollten.

History of Science and Technology in Islam

Es existieren auch schwer überprüfbare Quellen über frühe Verwendungen durch die Mameluken, die Mongolen und natürlich in China.
 
Ich wäre auch sehr vorsichtig mit den Angaben über Artillerieeinsatz in Feldschlachten vor 1400. ....
Falls wer obigen Link von mir noch nicht angeschaut hat, Klaus Kreiser ist ja sehr vorsichtig mit frühen Quellen.
Er meint, dass vielleicht die Technik über Ragusa und Serbien zu den Osmanen gelangte.
In den 1420er Jahren hält er hingegen die Berichte von Kanonen schon glaubwürdiger.

Er erwähnt auch extra die Riesenkanone, die in die Mauern von Konstantinopel die entscheidende Bresche geschossen hat.

Anfänge der Feldartillerie verortet er zwischen die Schlacht von Varna 1444 und der zweiten Amselfeld/Kosovo-Schlacht 1448. Also schon recht präzise.
 
Prior to the industrial revolution which affected only a small part of northernmost Europe, such divisions have no place, and such transfer of ideas as did take place was multi-directional as opposed to exclusively West to East or North to South.

Daß die Osmanen zwischen 1400 und 1700 in punkto Militärtechnologie nicht zu weit hinter Westeuropa liegen konnten, liegt schon aufgrund ihrer unstrittigen Erfolge auf dem Schlachtfeld auf der Hand.

Trotzdem wäre es wünschenswert, wenn die Verbreitung militärischer Innovationen vom Osmanischen in den europäischen Bereich nicht nur einfach postuliert, sondern auch anhand konkreter Beispiele belegt werden würde. Davon habe ich aber weder bei diesem Autor noch in diesem Faden bislang etwas gelesen.

Die technischen Kerninnovationen bei Feuerwaffen (Klotzverdämmung, Körnung, Pulvermühlen, Steinschloß, Luntenschloß) genauso wie die militärtaktischen (Feldartillerie, Belagerungsbombarden, Breitseite) kamen in der Zeit jedenfalls aus Mittel- und Westeuropa. Die Osmanen mögen das eine oder andere I-Tüpfelchen daraufgesetzt haben, mehr aber wohl nicht.
 
Ich wäre auch sehr vorsichtig mit den Angaben über Artillerieeinsatz in Feldschlachten vor 1400. Um 1450 jedoch, hatte sich diese Technologie schon sehr weit verbreitet. Die Schlacht von Castillion (1453) gilt als die erste größere Feldschlacht in Westeuropa die durch größeren Artillerieeinsatz entschieden wurde.

Habe ein paar äußerst interessante Artikel zum Thema hier. Bei Interesse bitte PN bis morgen:

Weston Cook - The Cannon Conquest of Nasrid Spain and the End of the Reconquista
Clifford Rogers - The Military Revolutions of the Hundred Years' War
Kelly deVries - The Lack of a Western European Military Response to the Ottoman Invasions
 
Gegenkaiser:

Im empfehle die diversen Ospreybücher, die auf Militärhistorie spezialisiert sind.

z.B.
Osprey Publishing - The Ottoman Empire 1326?1699

Osprey Publishing - The Janissaries

Osprey Publishing - Vienna 1683

Osprey Publishing - Nicopolis 1396

und vor allem das hier:

Osprey Publishing - The Fall of Constantinople

Hier eine spezieller Band über die Mauern der Polis:

Osprey Publishing - The Walls of Constantinople AD 324?1453

Hier auch ein wenig war über die späten Byzantiner:

Osprey Publishing - Byzantine Armies AD 1118?1461

Das Buch von Runciman "Die Eroberung von Konstantinopel" ist ebenfalls lesenswert.

hier nochmal eine Zusammenfassung der Publikationen über die Osmanenarmeen:

Osprey Publishing - Military History Books - Search Results
 
Habe ein paar äußerst interessante Artikel zum Thema hier. Bei Interesse bitte PN bis morgen:

Weston Cook - The Cannon Conquest of Nasrid Spain and the End of the Reconquista
Clifford Rogers - The Military Revolutions of the Hundred Years' War
Kelly deVries - The Lack of a Western European Military Response to the Ottoman Invasions

Würde mich schon interessieren.
 
Trotzdem wäre es wünschenswert, wenn die Verbreitung militärischer Innovationen vom Osmanischen in den europäischen Bereich nicht nur einfach postuliert, sondern auch anhand konkreter Beispiele belegt werden würde. Davon habe ich aber weder bei diesem Autor noch in diesem Faden bislang etwas gelesen.

Die technischen Kerninnovationen bei Feuerwaffen (Klotzverdämmung, Körnung, Pulvermühlen, Steinschloß, Luntenschloß) genauso wie die militärtaktischen (Feldartillerie, Belagerungsbombarden, Breitseite) kamen in der Zeit jedenfalls aus Mittel- und Westeuropa. Die Osmanen mögen das eine oder andere I-Tüpfelchen daraufgesetzt haben, mehr aber wohl nicht.
Es geht eigentlich weniger darum, daß die Osmanen bahnbrechende technische Neuerungen im Kriegshandwerk hervorgebracht hätten. Sie haben sich ja auch relativ spät mit den Feuerwaffen eingelassen, und meines Wissens gab es ab Mitte des 15. Jh. auch erst mal keine überwältigenden Neuerungen auf dem Gebiet. In der älteren Literatur werden aber immer zwei wesentliche Punkte vertreten, die extrem eurozentristisch sind, und die man so einfach nicht halten kann.
1. Die Osmanen haben nur europäische Technik abgekupfert.
2. Die Osmanen hatten eine seltsame Liebe zu völlig überdimensionierten, unpraktischen und uneffektiven Kanonen, während die Europäer sich damit nicht lange aufhielten, sondern schnell dazu übergingen, kleinere, windschnittige, effektive Kanonen einzusetzen. (= Osmanen sind rückständig und komisch)

Zu 1.
Der Fehler hier ist, daß man Europa als geschlossenen Block auf der einen Seite und das Osmanische Reich oder meinetwegen auch "den Orient" auf der anderen Seite sieht. Aus Europa kamen nun all die Erfindungen und Artillerieexperten und brachten den Osmanen bei, wie man Kanonen macht.
Tatsächlich war aber Europa eine Ansammlung größerer und kleinerer, miteinander böse verfeindeter Reiche und das Osmanische Reich gehörte mit seiner Lage am Mittelmeer zum gleichen geografischen Raum, war also ein Reich von vielen. Die Artillerieexperten waren eine internationale Gruppe von Leuten, die sowieso ständig im Dienst irgendeines Herrschers standen. Ob das nun die Spanier waren oder der Sultan in Istanbul war vielen anscheinend schnurz. Es wurden sogar zahlreiche militärtechnische Traktate von Europäern zu Ehren des osmanischen Sultans verfaßt, um sich bei dem irgendwann mal eine gute Stellung zu verschaffen.
Ein ständiger Austausch von Expertenwissen war also sowieso gegeben und völlig normal, ob nun zwischen Mittel- und Südeuropa oder Nordeuropa und dem Bosporus.

Zu 2.
Die gigantischen Kanonen gab es, keine Frage, auch länger als in Europa. Das scheint ein Prestigeobjekt der osmanischen Herrscher gewesen zu sein. Aber es wurde genausogut eine Unmenge von unterschiedlichsten kleineren Kanonen hergestellt.

Das Entscheidende bei den Osmanen, so scheint es mir, war die Schnelligkeit und Flexibilität, mit der sie sich die neue Technologie zunutze machten. Schon in der ersten Hälfte des 15. Jhs. konnten Kanonen sehr erfolgreich bei Belagerungen eingesetzt werden, z.B. gegen Thessaloniki 1430. In ihrem großen Reich hatten sie auch alle nötigen Rohstoffe zur Verfügung und waren dadurch bis weit ins 18. Jh. hinein völlig autark in der Waffenproduktion. Das hatte kaum ein europäisches Reich.
Wichtig ist weiterhin nicht nur, daß man solche Waffen hat, sondern auch, wie sie ins bestehende Heer integriert werden. Da waren die Osmanen offensichtlich auch sehr schnell. Agoston stellt fest, daß schon 1473 auf dem Feldzug gegen die Aq-Qoyunlu vom osmanischen Heer Wagen für den Transport von Kanonen eingesetzt wurden. Das haben die Franzosen erst Ende des 15. Jhs. gemacht, und sie waren die ersten in Europa. 1514 wurden 372 solcher Karrenführer aus dem Staatsschatz bezahlt, diese Transporteinheit war also schon ein fester Bestandteil der Artillerie.
 
1. Die Osmanen haben nur europäische Technik abgekupfert.
2. Die Osmanen hatten eine seltsame Liebe zu völlig überdimensionierten, unpraktischen und uneffektiven Kanonen, während die Europäer sich damit nicht lange aufhielten, sondern schnell dazu übergingen, kleinere, windschnittige, effektive Kanonen einzusetzen. (= Osmanen sind rückständig und komisch)

Das muß aber in dieser Einseitigkeit sehr alte Literatur sein. Aber in abgeschwächter, differenzierter Form kann man dieses Urteil auch nach heutigem Wissenstand unterschreiben:

1a. Das Osmanische Reich war kein Produzent, sondern Importeur von Innovationen im Bereich der Feuerwaffen.

2a. Die Türken haben die Enwicklung von der (über)schweren Belagerungsartillerie zur mobilen (Feld)artillerie nur verzögert und eingeschränkt mitvollzogen.

Ein ständiger Austausch von Expertenwissen war also sowieso gegeben und völlig normal, ob nun zwischen Mittel- und Südeuropa oder Nordeuropa und dem Bosporus.

Nur gab es eben keine türkischen Experten, die ihre Expertise in Europa anboten, was klar für 1a. spricht.

Die gigantischen Kanonen gab es, keine Frage, auch länger als in Europa.

Das stimmt nachweislich nicht. Siehe http://www.geschichtsforum.de/f328/mittelalterliche-riesengesch-tze-28055/ oder Geschütze - regionalgeschichte.net (siehe Belagerung der Burg Tannenberg 1399, wo bereits 50 cm Kaliber verschossen wurden)

Agoston stellt fest, daß schon 1473 auf dem Feldzug gegen die Aq-Qoyunlu vom osmanischen Heer Wagen für den Transport von Kanonen eingesetzt wurden. Das haben die Franzosen erst Ende des 15. Jhs. gemacht, und sie waren die ersten in Europa

Klingt unlogisch. Für den Transport von Kanonen wurden immer Wagen benötigt, und da Artillerie in Westeuropa älteren Ursprungs ist als im OR, muß es auch der Transport derselben sein. Im übrigen haben die Hussiten und der Deutsche Orden mobile Feldartillerie bereits um 1410-1430 eingesetzt, also noch vor der Zeit, aus der es ernstzunehmende Hinweise auf deren Existenz in der türkischen Armee gibt.
 
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Daß die Osmanen zwischen 1400 und 1700 in punkto Militärtechnologie nicht zu weit hinter Westeuropa liegen konnten, liegt schon aufgrund ihrer unstrittigen Erfolge auf dem Schlachtfeld auf der Hand.

Trotzdem wäre es wünschenswert, wenn die Verbreitung militärischer Innovationen vom Osmanischen in den europäischen Bereich nicht nur einfach postuliert, sondern auch anhand konkreter Beispiele belegt werden würde. Davon habe ich aber weder bei diesem Autor noch in diesem Faden bislang etwas gelesen.


Ich habe das Buch leider vor sehr langer Zeit gelesen und nicht mehr zur Hand. Die enthaltene These war jedoch nicht, dass militärische Innovationen von den Osmanen in den Westen übertragen wurden, sondern dass deren Überlegenheit in bestimmten Feldern (disziplinierte Infanterie, effiziente Artillerie, Pioniere und Logistik) den Westen zwang zu reagieren und nachzuziehen. Dass jdoch auch andere Übertragungen stattfanden kann man jedoch schon aus solchen Tatsachen ersehen, dass türkische Begriffe wie "Pallasch" oder von den Türken übernommene Militärmusikformen und Instrumente im Westen bis ins 19. Jahrhundert verwendet wurden

Die technischen Kerninnovationen bei Feuerwaffen (Klotzverdämmung, Körnung, Pulvermühlen, Steinschloß, Luntenschloß) genauso wie die militärtaktischen (Feldartillerie, Belagerungsbombarden, Breitseite) kamen in der Zeit jedenfalls aus Mittel- und Westeuropa. Die Osmanen mögen das eine oder andere I-Tüpfelchen daraufgesetzt haben, mehr aber wohl nicht.

Das ist aber definitiv nicht richtig. Ähnliche Entwicklungen und Techniken wurden in der frühen Neuzeit, späten Mittelalter auch in Asien durchgeführt. Es ist sehr gut möglich, dass die Osmanische Entwicklung zuerst vom Osten her angeregt wurde, was jedoch nicht ausschliesst, dass sie auch vom Westen her Technologien übernahmen.

H-Net Reviews

The evolution of the artillery in ... - Google Buchsuche
 
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Ich bin nur darüber gestolpert, ansonsten lese ich morgen mal eure interessanten Posts:

"Türk. Gewehre waren wegen ihrer Damaszenerläufe haltbarer als europäische. Ihre Reichweite soll die europäischer Musketen übertroffen haben (300 Meter zu 220 Meter)" S. 59 bei Klaus Kreiser.

Ansonsten haben einige europ. Reiche die erfolgreiche Taktik und Heeresabteilung mit der leichten Reiterei von den Osmanen übernommen, aber das ist ja nichts technisches, sondern "humanes Kriegsmaterial".
 
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