Trotzdem wäre es wünschenswert, wenn die Verbreitung militärischer Innovationen vom Osmanischen in den europäischen Bereich nicht nur einfach postuliert, sondern auch anhand konkreter Beispiele belegt werden würde. Davon habe ich aber weder bei diesem Autor noch in diesem Faden bislang etwas gelesen.
Die technischen Kerninnovationen bei Feuerwaffen (Klotzverdämmung, Körnung, Pulvermühlen, Steinschloß, Luntenschloß) genauso wie die militärtaktischen (Feldartillerie, Belagerungsbombarden, Breitseite) kamen in der Zeit jedenfalls aus Mittel- und Westeuropa. Die Osmanen mögen das eine oder andere I-Tüpfelchen daraufgesetzt haben, mehr aber wohl nicht.
Es geht eigentlich weniger darum, daß die Osmanen bahnbrechende technische Neuerungen im Kriegshandwerk hervorgebracht hätten. Sie haben sich ja auch relativ spät mit den Feuerwaffen eingelassen, und meines Wissens gab es ab Mitte des 15. Jh. auch erst mal keine überwältigenden Neuerungen auf dem Gebiet. In der älteren Literatur werden aber immer zwei wesentliche Punkte vertreten, die extrem eurozentristisch sind, und die man so einfach nicht halten kann.
1. Die Osmanen haben nur europäische Technik abgekupfert.
2. Die Osmanen hatten eine seltsame Liebe zu völlig überdimensionierten, unpraktischen und uneffektiven Kanonen, während die Europäer sich damit nicht lange aufhielten, sondern schnell dazu übergingen, kleinere, windschnittige, effektive Kanonen einzusetzen. (= Osmanen sind rückständig und komisch)
Zu 1.
Der Fehler hier ist, daß man Europa als geschlossenen Block auf der einen Seite und das Osmanische Reich oder meinetwegen auch "den Orient" auf der anderen Seite sieht. Aus Europa kamen nun all die Erfindungen und Artillerieexperten und brachten den Osmanen bei, wie man Kanonen macht.
Tatsächlich war aber Europa eine Ansammlung größerer und kleinerer, miteinander böse verfeindeter Reiche und das Osmanische Reich gehörte mit seiner Lage am Mittelmeer zum gleichen geografischen Raum, war also ein Reich von vielen. Die Artillerieexperten waren eine internationale Gruppe von Leuten, die sowieso ständig im Dienst irgendeines Herrschers standen. Ob das nun die Spanier waren oder der Sultan in Istanbul war vielen anscheinend schnurz. Es wurden sogar zahlreiche militärtechnische Traktate von Europäern zu Ehren des osmanischen Sultans verfaßt, um sich bei dem irgendwann mal eine gute Stellung zu verschaffen.
Ein ständiger Austausch von Expertenwissen war also sowieso gegeben und völlig normal, ob nun zwischen Mittel- und Südeuropa oder Nordeuropa und dem Bosporus.
Zu 2.
Die gigantischen Kanonen gab es, keine Frage, auch länger als in Europa. Das scheint ein Prestigeobjekt der osmanischen Herrscher gewesen zu sein. Aber es wurde genausogut eine Unmenge von unterschiedlichsten kleineren Kanonen hergestellt.
Das Entscheidende bei den Osmanen, so scheint es mir, war die Schnelligkeit und Flexibilität, mit der sie sich die neue Technologie zunutze machten. Schon in der ersten Hälfte des 15. Jhs. konnten Kanonen sehr erfolgreich bei Belagerungen eingesetzt werden, z.B. gegen Thessaloniki 1430. In ihrem großen Reich hatten sie auch alle nötigen Rohstoffe zur Verfügung und waren dadurch bis weit ins 18. Jh. hinein völlig autark in der Waffenproduktion. Das hatte kaum ein europäisches Reich.
Wichtig ist weiterhin nicht nur, daß man solche Waffen hat, sondern auch, wie sie ins bestehende Heer integriert werden. Da waren die Osmanen offensichtlich auch sehr schnell. Agoston stellt fest, daß schon 1473 auf dem Feldzug gegen die Aq-Qoyunlu vom osmanischen Heer Wagen für den Transport von Kanonen eingesetzt wurden. Das haben die Franzosen erst Ende des 15. Jhs. gemacht, und sie waren die ersten in Europa. 1514 wurden 372 solcher Karrenführer aus dem Staatsschatz bezahlt, diese Transporteinheit war also schon ein fester Bestandteil der Artillerie.