Mentale Verfassung der Wehrmacht
Die differenzierte Haltung der militärischen Führung im Vorfeld der Operation Barbarossa hat Hillgruber sehr gut beschrieben (Hillgruber: das Rußland-Bild der führenden deutschen Militärs vor beginn des Angriffs auf die Sowjetunion, S. 167ff in: Zwei Wege nach Moskau, Wegner, Hg, 1991).
Zunächst differenziert er zwei Phasen. Die reine militärische Phase, die geprägt war von primär operativen Überlegungen der Militärs und die weltanschauliche Phase, in der Hitler zunehmend Einfluss nahm auf die Führung des Krieges als Vernichtungskrieg (Kommissarbefehl, Aufhebung der Kriegsgerichtsbarkeit etc.).
Es soll primär auf die militärische Phase bzw. Sichtweise eingegangen werden. Die Beurteilung der SU durch die Spitzengliederungen speiste sich aus einer Reihe von Quellen. Zum einen die historischen Erfahrungen der WW1-Kriegsführung, ergänzt durch Anleihen an die Kriegsführungen Napoleons in Russland, erstaunlicherweise, zum anderen die Berichte Köstrings und die Auswertungen von Fremde Heere Ost.
Das allgemeine, dominate Russland-Bild der deutschen Militärs beschreint er wohl zutreffend als "Doppelgesicht des Russland-Bildes", das zum einen durch die Überzeugung des "tönernen Kolosses" geprägt war und zum anderen durch die "alptraumhafte Vorstellung von einem ungeheuren Wachstum Russlands, das bei seinem "Drang nach Westen" alles überrollen werde, wenn ihm nicht frühzeitig Einhalt geboten werde" (ebd. S. 167). Im Kontrast zum tönernen Koloss stand somit die "russsiche Dampfwalze".
Diese "Dampfwalze" erhielt noch eine zusätzlich Bedrohung durch das Gefühl der diffusen Bedrohung durch den "weltrevolutionären Impuls des Kommunismus" und dem damit zusammenhängenden starken antikommunistischen Weltbild im deutschen Offizierskorps.
Dieses Bedohungsgefühl führte zur weit verbreiteten Einschätzung im Offizierkorps, dass es auf längere Sicht zu einem Konflikt zwischen dem 3. Reich und der SU kommen würde. Und damit zusammenhängend war die Haltung verbreitet, dass man im Rahmen eines Präventivkrieges diese subjektiv wahrgenommenen Bedrohung ausschalten solle. Allerdings hat diese Haltung wenig gemeinsam mit der Präventivkriegsthese durch Hitler, allenfalls die Instrumentalisierung der Einstellung.
In diesem Sinne kann man den Angriff als wünschenswertes Ereignis aus der Sichtweise des deutschen Offizierkorps klassifizieren, ohne dass es selber dynamisierend auf den Krieg gegen die SU, im Sinne einer "Kriegstreiberei, aktiv eingewirkt hat, m.E..
War es also "Arroganz", dass man angesichts der "russsichen Dampfwalze" die SU beabsichtigte anzugreifen oder kalkuliertes militärisches Kalkül? Diese Frage verweist im wesentlichen auf die Qualität der "Feindaufklärung" und die Frage der zutreffenden Beurteilung der RKKA und des militärisch ökonomischen Komplexes.
Apriori ist hier anzumerken und diese Information war allgemein zugänglich, dass es der SU in den dreißiger Jahren durch die brutale Industriealisierung und der damit gleichzeitig einsetzenden Tiefenrüstung gelungen war, die notwendige ökonomische Grundlage für eine Kriegsführung zu schaffen.
Bei der Beurteilung der SU standen dem OKW bzw. dem OKH im wesentlichen drei Quellen zur Verfügung. 1. Die qualifizierten Berichte von Köstring aus Moskau, der versuchte die Stärken und die Schwächen der RKKA zu beschreiben. 2. die eingehenden Berichte bei Fremde Heere Ost, die allerdings über keine Osteuropa-Experten verfügten und 3. die erst 41 einsetzende Höhenluftaufklärung.
Im Oktober kam in diesem Zusammenhang FHO zu dem Ergebnis, "dass die Rote Armee ein ernstzunehmender Faktor sei und über eine beachtliche Defensivkraft verfüge, dass sie jedoch keinen Bewegungskrieg im großen Rahmen führen konne" (ebd. S. 176).
In der Folge gab FHO am 1.Janurar 41 ein "Handbuch heraus, dass eher ein Dokument der Unkenntnis ist, laut Hillgruber. Man ging von einem gravierenden Modernisierungsrückstand aus, von einer apathischen Offizierskaste und einem Staatssystem, dass lediglich durch Stalins-Terror zusammengehalten wurde. Und darauf wartete beendet zu werden.
Diese Situation verweist auf ein offensichtlich grundsätzliches Problem hin, auf das Megragee (Inside Hitlers High Command, 2000) explizit hinweist, dass der Generalstab sehr stark dominiert wurde durch das "operative Denken". Die systematische Beschaffung und Auswertung von Informationen über den zukünftigen Kriegsschauplatz im Osten erfolgte höchst fragmentarisch. Die militärische Aufklärung hatte eine deutlich untergeordnete Rolle bei der Planung und Ausformulierung der strategischen und operativen Planung.
Erstaunlich ist auch, dass dieses Problem durchaus ein verbreitetes war. Das Urteil über die RKKA war traditionell in GB, Frankreich und den USA eher geprägt durch eine geringschätzige Beurteilung (vgl. Exkurs: die Präferenz Polens, statt der SU als Bündnispartner im Osten durch GB). Eine Einschätzung, die in der Anfangsphase von Barbarrossa deutlich geäußert wurde und zu ähnlichen Prognosen über die Länge, in diesem Fall eher die Kürze, des Krieges führte. (vgl. Exkurs: interessant ist, dass die USA relativ lange die Frage problematisierten, ob es Sinn machen würde, Kriegsmaterial nach GB zu schicken, da sie den Zusammbruch von GB für möglich hielten. Das wirft ein weiteres Schlaglicht auf die völlig unzureichende Qualität der militärischen Aufklärung in den dreißiger Jahren, weltweit)
Betrachtet man im Detail die Aufklärung der USA für diesen Zeitraum in der SU, dann kann man eigentlich von einer "Terra incognita" sprechen (Leshuk: US Intelligence Perceptions of the Soviet Power 1921-1946, 2003).
Betrachtet man abschließend die Einstellung Halders zum Angriff auf die SU, dann ist keine Begeisterung für diesen Krieg vorhanden, dennoch sieht er ihn als Herausforderung an seine professionelle Kompetenz. Nahezu identisch sah es der Generalsquartiermeister, der es als Herausforderung begriff und den Feldzug zu einem erfolgreichen Abschluss bringen wollte.
Eine Sichtweise, die die Haltung von zwei Spitzen-Offizieren beschreibt, die ausgesprochen sysemkritisch waren.
Es war, so scheint es, ein wenig Arroganz, die die Machbarkeit der Operation Barbarossa beflügelte, aber es waren auch die systemimmanenten Grenzen der Generalstabsarbeit, die eine objektive Sichtweise auf den östlichen Kriegsschauplatz verhindert haben.
Dass es dann bereits auf der Ebene der taktischen Gliederungen der RKKA zu "bösen Überraschungen" auf deutscher Seite gekommen ist, indem die Anzahl der Infantriedivisionen überschätzt und die Anzahl der Panzer- bzw. Mech-Korps im Rahmen der "Grenzschlachten" unterschätzt worden ist, auf diesen Aspekt weist Glantz im Rahmen seines Berichtsbandes zu den "Borderbattles" hin.
Die Aufklärung war nicht nur auf der operativen Seite mangelhaft, sie wies auch auf der taktischen Ebene nicht unerhebliche Defizite auf.