Was Du hier nennst, sind eher Ursachen. Die Gründe liegen viel tiefer, und setzen zeitlich schon ab dem 3. Jahrhundert ein:
- Fehlende Expansion: Traditionelle Grundlage des römischen "Erfolgs" war konstante Expansion, und nachfolgende Umverteilung aus den neueroberten Gebieten an "Rom" (einschließlich seiner Legionnäre). Je größer "Rom" im Verhältnis zu den neueroberten Gebieten wurde, desto problemarischer wurde dieser Ansatz. Spätestens als die Expansion nach Trajan zum Erliegen kam, wurde ein neues "Finanzierungsmodell" erforderlich, das aber letztendlich nie erfolgreich konzipiert und umgesetzt wurde.
- Wirtschaftsstrukturelle Defizite: Das römische Reich hatte traditionell ein strukturelles Handelsbilanzdefizit mit dem Osten (Seidenstraße, Weihrauchstraße etc.), das regelmäßig in Edelmetallen finanziert werden musste. Ab etwa Ende des 2. Jahrhunderts ging zudem die Edelmetallförderung im Reich zurück. In Folge beider Faktoren kam es zu einer stetigen Münzeverschlechterung.
Die archäologische Fundsituation läßt einen römischen Handelsbilanzüberschuss mit dem nichtrömischen Mittel- und Osteuropa vermuten. Dieser wurde allerdings weitgehend nicht in Edelmetallen, sondern durch Leistungserbringung (Stellung von Legionären) finanziert. Insofern könnte die "Barbarisierung" der Armee wirtschaftspolitisch durchaus Sinn gemacht haben, ja u.U. sogar wirtschaftspolitisch begründet gewesen sein.
- "Urban bias": Der innenpolitische Schwerpunkt lag auf der Pazifizierung revolutionärer Potentiale, insbesondere der Armee ("Soldatenkaiser") und der städtischen Unterschichten. Das Motto "Brot und Spiele" schlug sich spätestens ab dem 3. Jahrhundert nieder in der Einführung von Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel ("Brot"), und der Fokussierung öffentlicher Investitionen auf städtische Repräsentationsbauten ("Spiele").
- Entmonetarisierung ländlicher Räume: Da die festgesetzten Preise für Grundnahrungsmittel vielfach nicht kostendeckend waren, und sich die Münzqualität steitig verschlechterte, wurden viele lämdliche Räume aus der Markt- in die Subsistenzproduktion abgedrängt. Dies betraf v.a. getreideproduzierende Räume außerhalb des unmittelbaren Versorgungsgebiets größerer Städte. Für einige mediterrane Nahrungsmittel, z.B. Wein oder Olivenöl, scheinen die Preise allerdings durchaus auskömmlich gewesen zu sein, so dass diese Produkte auch weiterhin aus den Provinzen nach Rom verhandelt wurden.
Mit der Verdrängung der Marktproduktion einher ging die Herausbildung frühfeudaler Strukturen (Leibeigenschaft, Fronarbeit), vermutlich zur Sicherung der Armeeversorgung. http://de.wikipedia.org/wiki/Kolonat_(Recht)
- Steuerpolitik: Um die Finanzierung des Militärs sicherzustellen und so Militärputschen ("Soldatenkaiser") vorzubeugen, wurde im Laufe des 4. Jahrhunderts das Steuerwesen mehrfach reformiert. Schwerpunkte waren Straffung und Erhöhung der Grundsteuern, und Abschaffung der Finanzautonomie der "civitates" (Landgemeinden), jedoch nicht der "coloniae" (gößere Städte). M.a.W: Der Hauptteil der Finanzierungslast wurde dem ökonomisch sowieso schon geschwächten ländlichen Raum zugewiesen. Es erscheint mir diskutierenswert, ob der Untergang Westroms nicht durch stärkere Ausrichtung der Besteuerung auf städtische Oberschichten (z.B. Verbrauchssteuern auf Luxusgüter, Einkommens-/Gewerbesteuer, Zölle auf asiatische Importwaren) hätte vermieden werden können.
- Theodosius "Kulturrevolution": Die Durchsetzung des Christentums scheint mit beispielloser Radikalität erfolgt zu sein, und ging mit weitreichender Zerstörung lokaler und kultureller Identität und Infrastruktur einher (z.B..Abschaffung der olympischen Spiele). U.a. scheint der Großteil der Bibliotheken einchließlich des dort dokumentierten technischen Wissens zerstört worden zu sein. Während für die vor-theodosianische Zeit von einem Buchbestand von etwa 1 Million Titel ausgegangen wird, konnte der zur Rettung der antiken Literatur angetretene römische Adlige Cassiodor Mitte des 5. Jahrhunderts gerade mal knapp über hundert Titel in seine Bibliothek aufnehmen. Vgl. hierzu (absolut lesenswert!) Bücherverluste in der Spätantike ? Wikipedia
- Ost-West-Konflikt von 392-395: In engem zeitlichen Zusammenhang zu Theodosius "Kulturrevolution", teilweise auch als Reaktion auf diese, kam es zum Krieg zwischen Ostrom unter Theodosius und Westrom unter dem Ursupator Eugenius. Die Schlacht vom Frigidus gilt allgemein als eine der blutigsten Schlachten der Antike, und schwächte Roms Miltärmacht ganz erheblich Schlacht am Frigidus ? Wikipedia .
In der Folge verlagerte Ost-Rom den Großteil der verbliebenen Truppen auf das eigene Territorium. Hierbei spielten vermutlich sowohl außenpolitische (Goteneinfall / Hunnenbedrohung an der Donau) als auch innenpolitische (Schwächung des weströmischen Widerstands gegen die Christianisierung) Gründe eine Rolle. Faktisch bedeutete diese Verlagerung u.a. die (militärische) Aufgabe Britanniens und weitgehenden Truppenabzug von der Rheingrenze, was die Völkerwanderung erheblich erleichterte.
Erst nach dem Sieg am Frigidus konnte die Christianisierung auch im Westen durchgeführt werden. Es steht zu vermuten, dass hier sehr viel radikaler als im Osten vorgegangen wurde. Das Christentum war im Osten traditionell viel weiter verbreitet als im Westen, so dass man sich dort vermutlich ein "sensibleres" Vorgehen erlauben konnte, ansässige Christengemeinden vielleicht auch die eine oder andere "heidnische" Institution von lokaler Bedeutung schützten, während im Westen das Christentum wohl weitgehend mit "Feuer und Schwert" durchgesetzt wurde. Dies könnte z.B. erklären, warum die Konstantinopeler Bibliothek oder einzelne griechische Philosophenschulen die theodosianische "Kulturrevolution" überlebten, während in der Stadt Rom offenbar sämtliche Bibliotheken untergingen.
- Christliche Steuerprivilegien: Ein wesentliches Mittel der Zwangs-Christianisierung war die Steuerfreiheit sämtlicher kirchlicher Würdenträger. Dies führte dazu, dass viele wohlhabende Bürger Kirchenämter anstrebten (hier dürften daneben auch kulturelle Gründe eine Rolle gespielt haben - Priesterämter hatten traditionell hohes Sozialprestige). Im Endeffekt schwand die Steuerbasis weiter, und die Steuerlast fiel noch stärker auf ländliche Räume. Dies setzte dann letztendlich einen Teufelskreis in Gang: Weniger Geld zur Unterhaltung von Truppen -> Verlust weiterer Gebiete an die Germanen -> Weniger Geld zur Unterhaltung von Truppen u.s.w. Kein Wunder, dass die (weströmischen) Kaiser immer schwächer wurden..
Sehen wir das ganze mal andersrum: Was hält denn der "gemeine" linksrheinische Germane oder Gallier so um 400 - 450 vom römischen Reich:
- Die lokale Selbstverwaltung und Finanzautonomie ist weitgehend abgeschafft, mit entsprechenden Folgen für Erstellung / Erhaltung von Infrastruktur,
- Der Kaiser ist weit (Ostrom), und vermutlich nach der Zerstörung lokaler "heidnischer" Traditionen und Institutionen nicht sonderlich beliebt,
- Das technische Wissen, Stolz und Symbol Roms (Straßenbau, Architektur, Wasserversorgung) ist weitgehend untergangen, und zwar durch Rom selbst, nicht durch die Barbaren,
- Steuern sind hoch, aber Sicherheit gegen Barbareneinfälle ist nicht gewährleistet,
- Landwirtschaftliche Märkte sind weitgehend zusammengebrochen, Lebensmittelhandel ins römische Zentrum ist durch die Preiskontrollen unattraktiv, der Geldwert sinkt ständig.
Und jetzt kommt irgendein Franken-/Goten-/Vandalenfürst. Ist zwar ein Barbare, aber die kennt man ja auch schon länger aus der Armee, und kulturell ist der bestimmt nicht fremder als ein aus Syrien an Rhein/ Rhone versetzter Präfekt. Dieser Barbarenfürst schafft wieder Sicherheit und Ordnung, akzeptiert lokale Traditionen und römisches Recht, läßt die Steuern in der Region, hat vielleicht sogar mit Preiskontrollen nichts am Hut und stärkt die lokale Selbstverwaltung. Wo ist das Problem ?
Und Konstantinopel ist immer noch weit ..
Wir "alten Säcke" haben es ja als Zeitzeugen teilweise selbst miterlebt, wie das Imperium der Sowjetunion und ihrer Satelliten unterging, schlicht und einfach weil das Ganze ihnen schlicht zu teuer wurde. Ganz ähnliche Gedanken äußerte ja auch Augustinus, der durchaus den bewaffneten Kampf für das Reich befürwortete, auf seine alten Tage erleben musste, wie die Vandalen Hippo Regius eroberten und der die Weltreiche mit Räuberbanden vergleicht. Ein kleineres sei das kleinere Übel und wofür muss ein Organismus Größe haben, wenn er an der eigenen Größe krank wird.
Alle Imperien haben ähnlich wie ein Individuum ihre Ihnen zugemessene Zeit, ihren Aufstieg und Niedergang. Das Ende des Imperiums fällt einigermaßen mit dem Ende der Antike zusammen. Es gab eines Tages keine Olympischen Spiele, keine platonische Akademie mehr, es übernahm das Christentum die Rolle eines Testamentsvollstreckers Roms, und veränderte die Welt auch Rom hat sich oft gewandelt. Dass Rom Coriolonus war nicht das von Cicero und Caesar. Dass Rom der Antonine hatte ein anderes gesicht, als das republikanische, ganz zu reden von dem Konstantins oder Justinians.
Es ist die Frage, war das Weströmische Reich ein dahin dämmerndes Gebilde, das nicht sterben konnte oder war es eine ideologische Größe, eine historische Legitimation samt universalem Herrschaftsanspruch, das gar nicht sterben durfte.
Arnold Toynbee spricht im Zusammenhang mit dem Byzantinischen Reich davon, dass es an seiner Erstarrung krankte, weil es einen fiktiven historischen Zustand sozusagen mumifizieren wollte. Im Westen tat Karl der Große fast das Gleiche wie kaiser Leo, indem er ein Heiliges Römisches Reich gründete, das von einem Franken regiert wurde, ähnlich wie zur Zeit Philippus Arabs von einem Orientalen.
Vielleicht war es die Integrationsfähigkeit Roms, dass es noch heute fasziniert. Es faszinierte selbst das bankrotte, entvölkerte, defunkte Rom noch seine Eroberer. Es wollten die Barbaren ja nicht die Stadt oder den orbis terrarum zerstören, sondern ein Teil davon werden.