Aber wie gesagt, vielleicht phantasierte Napoleon heimlich davon. Realistisch in Betracht gezogen hat er einen Landmarsch bis Indien garantiert nicht, solches ihm zu unterstellen ist geradezu eine Beleidigung seiner anerkannten Fähigkeiten als Feldherr.
Wieder bleibe ich ruhig und nehme die Unterstellung der Beleidigung sportlich, erlaube mir aber ein Zitat zu den "anerkannten Fähigkeiten als Feldherr" in Zusammenhang mit dem Rußlandfeldzug:
"Schon zu Beginn des französischen Rückzuges, zwischen Wjasma und Smolensk, kam es zu folgendem Vorfall: Der mit seinem Regiment dahinziehende General Creutz hörte plötzlich rechts vom Wege ein Geräusch im Walde. Als er in den Wald eindrang, sah er zu seinem Entsetzen, dass Franzosen das Fleisch eines toten Kameraden aßen. Dazu kam es schon vor Beginn der Fröste, vor der völligen Auflösung des französischen Heeres und vor den furchtbaren Strapazen, die noch bevorstanden. Den Aussagen von Creutz schliessen sich gleichlautende Berichte an. "Sie haben keine andere Nahrung als Pferdefleisch. Nach dem Abmarsch aus Moskau und Smolensk leben sie von Menschenfleisch!"
"...Der Hunger zwingt sie nicht nur, sich von Pferdekadavern zu ernähren. Viele haben gesehen, dass sie das Fleisch ihrer gefallenen Landsleute gebraten haben ... Die Strasse nach Smolensk ist mit Leichen und Pferdekadavern besät", schreibt Wojeikow dem greisen Dichter Dershawin am 11.November aus Jelna. Hier ist überall vom Beginn des Rückzuges, vom Abschnitt Moskau-Smolensk, die Rede; es gibt eine Unmenge von Beweisen dafür, dass der Kannibalismus gegen Ende des grausigen Rückzuges zu einer alltäglichen Erscheinung geworden war." [1]
Ich finde es ein wenig erstaunlich, dass sowohl
muheijo als auch
bb vortragen, Napoleon wollte nie nach Moskau - er ist dennoch nach Moskau gezogen - aber vehement in Abrede stellen, dass er nach Indien wollte.
Müssen wir uns nicht vom normalen Verständnis von Begrifflichkeiten wie "Fantasie" oder "Realismus" trennen, wenn es um Napoleon geht?
Dazu Werner Talesko:
Napoleon Bonaparte: der "Moderne ... - Google Bücher
Von heimlichen Fantasien kann daher nicht die Rede sein! Bemerkenswert, dass neben Talleyrand auch Fouché genaue Kenntnis von den Wünschen des Kaisers hatten und die topografische Vorbereitung/Durchführung der Feldzüge.
Aus einem Brief Napoleons an Talleyrand:
Finkenstein, 12. April 1807
"Herr Fürst von Benevent, der General Gardane, mein Adjudant, wünscht nach Persien zu gehen. Er ist ein Enkel desjenigen, der den Vertrag von 1715 abgeschlossen hat. Er betrachtet dies als eine Aufgabe, die ihm von seinen Vätern hinterlassen worden ist, und ist voller Eifer für diese Sendung ...
1. Er soll die Hilfsquellen Persiens sowohl aus dem militärischen Gesichtspunkt, als auch dem des Handels erforschen und uns häufige und zahlreiche Berichte einschicken; er soll vor allem die Beschaffenheit der Hindernisse studieren, welche eine französische Armee von 40000 Mann zu überwinden hätte, die sich nach Indien begäbe und von Persien und der Pforte begünstigt würde." [2]
Wir finden nicht nur Fantasie sondern auch tatkräftige Vorbereitung Napoleons. Und damit auch Parallelen zum Rußlandfeldzug:
Sowohl 1807 (==> Erfurt?) wie der Brief zeigt, sondern auch 1811/12 wie in meinem Beitrag #8 Zitat 8 vorgetragen, gab es diese Aktivitäten. Zufall?
Nach Tarlé war der Inhalt des Gespräches Napoleons mit Narbonne "zu allererst in England bekannt" und die Briten überzeugt, "er würde sich im Falle eines Sieges, ebenso wie vor 13 Jahren in Syrien, nach Indien wenden." [3]
Bei Tarlé findet sich auch dieses Zitat:
"Die Schlacht von Borodino war noch nicht geschlagen, und Dawydow fasste 'die damals herrschende Meinung' so zusammen, dass der siegreiche Napoleon Frieden schliessen und dann gemeinsam mit den Russen Indien angreifen würde. Er sagte zu Bagration: "Wenn ich schon umkommen soll, dann will ich lieber hier fallen; in Indien werde ich mit Hundertausenden meiner Landsleute als namenslose Opfer und für ein fremdes Land mein Leben hingeben, während ich hier unter dem Banner der Freiheit sterben werde."" [4]
Wir sehen, die Gerüchte - wenn man sie als solche bezeichnen will - gab es nicht nur auf französischer Seite.
Wenn Napoleon ursprünglich nicht nach Moskau wollte, kann man dann unterstellen, dass seine Vorbereitung auf diesen Feldzeug diesen Fall nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat? (Rein rhetorische Frage, wir kennen das Ergebnis!)
Kann man dann aber vehement ausschließen, dass er - der das Abenteuer nach Moskau dennoch unternommen hat - im Falle eines schnellen Sieges, es unterlassen hätte, die sich bietende Möglichkeit in eine andere Richtung zu nutzen?
Aus Sicht des napoleonischen Realismus wohl eher nicht.
Grüße
excideuil
[1]
Tarlé, Eugen: „1812 - Rußland und das Schicksal Europas“, Rütten & Loening, Berlin, 1951, Seiten 370-371
[2]
Kurz, Heinrich (Hrsg.): Ausgewählte Korrespondenz Napoleon I. , Verlag des Bibliographischen Instituts, Hildburghausen, Bd. 3 1870, Seiten 102-103
[3] [1] Seite 363
[4] [1] Seite 374