Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich auf Antworten nur mit zeitlicher Verzögerung eingehen kann. Hier erst mal die fällige Antwort auf Raveniks Einwände gegen die Fiktionalisierungs-These.
@Ravenik:
Wo ist der Sinn des Ganzen? Wieso sollte jemand eine Jesus-Figur erfinden? So etwas macht höchstens dann Sinn, wenn eine religiöse Bewegung schon lange existiert und das Wissen um ihre Ursprünge verloren gegangen ist.
Ich betone, dass es sich bei der Jesusmythos-Vermutung um eine reine Hypothese handelt, die ebenso wenig belegbar ist wie die Annahme der Historizität. Vertreten wird die Hypothese seit fast zweihundert Jahren. Bruno Bauer hatte das Rad ins Rollen gebracht. Seitdem haben sich Dutzende von Wissenschaftlern, darunter auch Theologen aus dem christlichen Lager, diese These angeschlossen. International wird diese Strömung heute "Mythicists" genannt und hat eine relativ kleine, aber wachsende akademische Anhängerschaft. Das Bekenntnis zu dieser Hypothese ist akademischen Karrieren, speziell im theologisch-religionswissenschaftlichen Bereich, übrigens nicht gerade förderlich.
Mögliche Hintergründe der Entstehung der historischen Fiktion:
+ Um 100 vuZ war Joshua Ben Pandira der Anführer einer jüdischen Gruppierung, eventuell der ebionitischen. Dem Talmud zufolge (Gemara, ´Sepher Toldoth Jeshu´) wurde er vom Sanhedrin beschuldigt, die ägyptische Zauberkunst zu beherrschen (er war in Ägypten in Mysterien eingeweiht worden), und am Abend eines Passahfestes gesteinigt und dann aufgehängt. Das geschah in Lydda unter der Regierung von Alexander Jannaeus (106-79 vuZ).
+ Im Buch Sacharia tritt ein Hoherpriester namens Joshua auf, der zum König gekrönt wird und als "Zweig" (oder "Sprössling") figuriert. Die Symbolik dieser Bezeichnung ist unklar, könnte aber mit der symbolischen Bedeutung zu tun haben, die dem Zweig in den Mythen von Attis, Mithras und Apollo zukommt. So wäre auch dieser Joshua als Ausgangspunkt eines messianischen Joshua-Mythos denkbar. In Deuteronomium 18,15 wird von ´Moses´ eine Führergestalt prophezeit, die von der Apg mit Jesus identifiziert wird. Von den Juden wurde sie aber eine Zeitlang auf Joshua bezogen, der dem ´Moses´ als Führer der Israeliten nachfolgte.
Philon von Alexandria schrieb:
Mose hatte das Gottesvolk noch nicht dahin bringen können, wo es eigentlich hinkommen mußte; dafür erwies sich erst Josua als der rechte Führer.
Den Namen "Joshua" umwehte im Judentum und allgemein bei den Semiten schon lange vor der Zeitenwende ein besonderer, quasi messianischer Nimbus (Joshua = Retter). Er hatte im Judentum kultisches Potential, das sich die Erfinder eines neuen Mythos zunutze machen konnten. Möglicherweise hatte eine jüdische Gruppierung also irgendwann im 1. Jh. uZ das Bedürfnis verspürt, den messianischen Nimbus des Joshua Ben Pandira oder des Priesters Joshua auf eine zunächst allegorisch gedachte Auferstehungs-Figur namens Joshua in einem Passions-Mysteriendrama zu übertragen (zum Thema Allegorie weiter unten). Die spätere Umwandlung in Erzählungen, ergänzt mit Vorgeschichten zur Passion, könnte mit einer Unterdrückungssituation dieser ´Christen´ zusammenhängen - Texte zu lesen war unauffälliger als die Veranstaltung von Dramen. Manche Passagen der Passionsgeschichte (der ursprüngliche Kern) wirken daher seltsam unerzählerisch, aber typisch dramenhaft (Begründung bei Anfrage). Dieser Prozess wäre eine Analogie zu der Entstehung der jüdischen Thora-Texte, die das kultische Vakuum zu füllen hatten, welches die Zerstörung des Jerusalemer Tempels hinterlassen hatte.
Ob und inwieweit die christlichen Autoren schon beim Entwurf des dramatischen Passions-Kerns bewusst eine allegorische Darstellung anstrebten, lässt sich nicht sagen. Sicher war das von Philon auf die Thora-Exegese übertragene allegorische Konzept in jenen Zeiten vielen Autoren geläufig. In Gal 4,21 wendet ´Paulus´ diese Sicht, eventuell durch Philon angeregt, auf die Abrahamstory an, indem er die beiden Frauen, mit denen Abraham Kinder hatte, als Gleichnisse interpretiert (für das "geknechtete" Jerusalem und das "himmlische" Jerusalem). Natürlich sind das subjektive Phantasien, die mit den Intentionen der jüdischen Autoren kaum etwa zu tun haben. Wie auch immer: Die Abraham- und Moses-Geschichten gelten trotz ihrer Detailliertheit heute als mythisch. Nichts spricht dagegen, auch von den Autoren der Evangelien anzunehmen, dass sie - wie die jüdischen Kollegen - durch eine detailfreudige pseudohistorische Darstellung den Glauben des Publikums an ihr Idol sicherzustellen gedachten.
Bekanntlich war dieses Publikum in jener Zeit in permanenter Erwartung eines politisch-religiösen Erretters (Messias). Dieser Erretter musste natürlich aus Fleisch und Blut sein, also ein historischer Mensch. Daher war es für die Etablierung und Ausweitung eines frisch gebackenen Mysterienkultes sehr produktiv, die Fiktion eines Menschen mit Namen Joshua (= Retter) zu erarbeiten, der zwar realiter nie erschienen war, per Projektion in vergangene Jahrzehnte einem erlösungssüchtigen Publikum aber glaubhaft gemacht werden konnte. Da die frühesten Evangelien mindestens vierzig Jahre nach dem angeblichen Tod des Idols entstanden, war das Risiko gering, dass noch jemand lebte, der sich an die angeblichen Vorfälle ganz und gar nicht erinnern konnte.
Außerdem ist das Christentum nun einmal stark auf Jesus und seine Erlöserfunktion ausgerichtet. Wenn Jesus nicht von Anfang an vorhanden war, wie soll dann das Christentum anfangs ausgesehen haben? Es kommen doch nicht einfach irgendwelche Leute zusammen, beschließen, dass sie fortan eine religiöse Bewegung sein wollen, lassen sich sogar verachten und verfolgen, aber welche Glaubensinhalte sie eigentlich haben, überlegen sie sich erst ein paar Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später.
So war es natürlich nicht. Die konzeptuellen Grundgedanken lagen im Judentum (Erlösung durch einen irdischen Messias) und in der Gnosis (Erlösung durch ein Erlöser-Äon) sowie in der Saoschjant-Idee des Zoroastrismus schon vor. Die ersten Christen konnten sich dessen bedienen, so wie sie sich generell im altorientalischen Religions-Supermarkt bedienten, um ihren Joshua mit den gewünschten Attributen auszustatten (= Synkretismus).
Wenn von den Christen ursprünglich Attis oder Osiris verehrt wurde, wieso hätten ihn die Christen dann später durch einen erfundenen Jesus ersetzen sollen statt einfach weiterhin Attis oder Osiris zu verehren?
Missverständnis... Natürlich hat nie ein Christ Osiris o.a. verehrt (und ich habe das nie auch nur ansatzweise so dargestellt). Von diesen Göttern übernahmen die Christen aber wichtige Aspekte für ihr eigenes Idol (= Synkretismus). Grund: Der Kult musste in einer heftigen Konkurrenzsituation neben anderen Kulten bestehen. Um durchsetzungsfähig zu sein, empfahl es sich, das, was die anderen Göttern attraktiv machte, zu adaptieren, freilich in einer möglichst originellen Art. Im heutigen Kreativbereich wird das genauso praktiziert - jeder Popstar kupfert bei erfolgreichen Vorgängern ab und setzt seine persönliche Note obendrauf. Ich verweise auch auf den schon zitierten Justin-Text, der zeigt, wie marketingbewusst die frühen Christen waren.
Ich bezweifle, dass ein Autor oder gar Fälscher Ende des 2. Jhdts. das so überzeugend hinbekommen hätte.
Nur zwei Beispiele:
In Kap. 13 der Apostelgeschichte wird der Prokonsul Sergius Paulus von Zypern erwähnt. In Kap. 18 der Apostelgeschichte über den Aufenthalt von Paulus in Korinth werden sowohl der Prokonsul von Achaea namens Gallio als auch die Vertreibung von Juden aus Rom durch Claudius erwähnt. Für beide Prokonsuln und die Vertreibung gibt es auch außerbiblische Belege.
Die Entstehung der Apg wird von Radikalkritikern nicht ans Ende des 2. Jhd., sondern zwischen 125 und 150 angesetzt. Über die Apg haben sich seit Bruno Bauer schon so viele ´mythizistische´ Religionswissenschaftler den Kopf zerbrochen und dabei jede Silbe fünf oder zehn Mal umgedreht, dass ich nicht glaube, dass sie die von dir genannten Punkte übersehen haben. Ich werde aber bei Gelegenheit einen mir (emailtechnisch) bekannten Radikalkritiker darauf ansprechen. Dass dein Einwand keine zwingende Widerlegungskraft hat, ist dir - wie ich deine Formulierungen verstehe - ohnehin bewusst.
Um herauszufinden, wer zur fraglichen Zeit jeweils Statthalter war, hätte der Verfasser also vermutlich ein offizielles Archiv in Rom oder der jeweiligen Provinzhauptstadt konsultieren müssen.
Da die Apg wahrscheinlich in Rom abgefasst wurde, sehe ich darin kein Problem.