Antisemitismus bedeutet Judenfeindlichkeit [...]
Du führst zwar dann unterschiedliche Gründe und Motive für Judenfeindlichkeit auf, aber es scheint ja, als würdest Du letztlich Antisemitismus und die von Dir beschriebenen Äußerungen der Judenfeindlichkeit so ziemlich gleichsetzen. Diese Gleichsetzung aber macht ja die Bestrebungen einiger, zwischen Antisemitismus und Antijudaismus (beides zweifelsohne eine Form von Judenfeindlichkeit) zu unterscheiden, zunichte.:weinen:
Ich will noch mal darlegen, wie ich die beiden Begriffe bisher immer aufegfasst habe:
Antijudaismus ist die Ablehnung der Juden als Glaubensgemeinschaft und sicher auch als "Sittengemeinschaft" durch Angehörige der christlichen Religion.
Diese Ablehnung kann echt religiös motiviert sein, es können aber m. E. genauso Motive wie Neid, Angst, Argwohn gegen Andersartigkeit und Minderheiten-Hass eine Rolle spielen; auf jeden Fall vollzieht sich der Antijudaismus im Kontext christlicher Gesellschaft und wird „christl.“ begründet – das ist das erste notwendige Kennzeichen des Antijudismus.
Das zweite notwendige Kennzeichen ist: Solange ein Jude sich nicht von jüdischem Glauben und jüdischer Sitte losspricht, sich taufen lässt und zu Christus bekennt, gehört er in den Augen des Antijudaisten zum verabscheuten Juden-Kollektiv. Der Jude kann aber vom Juden zum Christen werden.
Gründe für die Ablehnung der Juden durch den Antijudaisten konnten echte jüd. Glaubens- bzw. Religionsinhalte und jüd. Lebensweise sein (z. B. Heiligung des Sabbats statt des Sonntags, Reinheitsvorschriften, Beachtung des talmudischen Regelwerks usw.), konnten im Speziellen echte fundamentale Glaubensunterschiede zw. Juden u. Christen sein (Nichtanerkennung Jesu Christi als Messias und Gottessohn durch Juden), konnten daraus resultierende theologisch und geschichtstheologisch bedingte Annahmen und religiös-polemische Kollektiv-Vorwürfe sein (Juden als „Gottes- bzw. Christusmörder“, Verstockung der Juden gegenüber dem Wort Gottes usw.), konnten die Lebensweise sein, in die Juden von der christlichen Gesellschaft gedrängt wurden (z. B. Berufseinschränkung für Juden > Juden als Händler u. Geldverleiher > Juden sind faul, gewinnsüchtig, geizig, saugen Christen aus usw.), und konnten auch völlig aus der Luft gegriffene, fiktive Vorwürfe sein (Juden als Hostienschänder, Brunnenvergifter, Ritualmörder usw.)
Antisemitismus ist die Ablehnung der Juden als Rasse, Ethnie/ Volk im Sinne einer Bluts- und Abstammungsgemeinschaft (vor allem ab dem 19. Jh.) oder die Ablehnung der Juden als Inhaber eines/ einer unveränderlichen, unverbesserlichen „jüdischen Charakters“/ „jüdischen Natur“ (auch schon vor dem 19. Jh.). Diese Definition der Juden als – wir würden heute sagen – letztlich irgendwo „biologisches“ Kollektiv ist das erste Kennzeichen des Antisemitismus.
Das zweite Kennzeichen des Antisemitismus schwingt darin schon mit: Die Juden können nicht aus ihrer Haut. Jude bleibt verabscheuungswürdiger Jude, unabhängig von seinem religiösen Bekenntnis und seiner Lebensweise. Nicht der Glaube oder die Lebensweise definiert den Juden, sondern die Abstammung.
Wo eine Judenfeindschaft mit diesen beiden Kennzeichen auftritt, möchte ich von Antisemitismus sprechen, ungeachtet der Tatsache, dass religiöse Motive der Ablehnung auch beim manchem Antisemiten unverändert eine entscheidende Rolle spielen kann und die Gründe der Ablehnung streckenweise weiterhin die gleichen Gründe sein können, aus denen heraus der Antijudaist die Juden ablehnt.
Der
Unterschied zwischen Antijudaismus und Antisemitismus besteht m. E. also nicht zwangsläufig in unterschiedlicher Motivation zur Judenfeindlichkeit, auch nicht zwangsläufig in einem unterschiedlichen Grad der Schwere von Ablehnung, Hass, Verfolgung usw., sondern vor allem in einer unterschiedlichen Definition von „Jude(n)“ bei Antijudaisten und Antisemiten.
Dass die Übergänge zwischen beidem in der frühen Neuzeit zum Teil fließend sind (siehe z. B. Maglors Spanien-Beispiel) bestreite ich nicht (und dass Luther genau hierhin gehört, möchte ich nicht ausschließen).
Sowohl Antijudaismus als auch Antisemitismus kann man zweifelsohne „
Judenfeindlichkeit/ Judenfeindschaft“ nennen bzw. kann man beides unter diesen Oberbegriff packen. Unter diesen Begriff kann man noch eine ganze Reihe weiterer historischer Fälle von Juden-Ablehnung einreihen, z. B. Fälle in hellenistisch-römischer Zeit, wo manch seleukidischer und römischer Herrscher Probleme hinsichtlich der politischen (und kulturellen?) Kontrolle von Judäa hatte und in den Juden Auflehner, Aufrührer, Aufständische, Ungehorsame erblickte/ erblicken musste, und gewaltsame Repressionen folgen ließ; oder Fälle in der Antike, wo die Speisegesetze, andere Absonderungen gegenüber der heidn. Umwelt, der monotheistische Glaube mit seinem Ausschluss heidn. Götter (der vielen Polytheisten als Gottlosigkeit galt) usw. Ablehnung bei Heiden erzeugte – nach dem Motto: Die Juden ekeln sich davor, sich mit uns an einen Tisch zu setzen, hassen unsere Götter, Verehren unsere Herrscher nicht, halten stattdessen lächerliche Vorschriften u. Gesetze für heilig, bleiben am liebsten unter sich (wer weiß, was sie in ihren Versammlungen und im Untergrund alles Schändliches treiben), sie halten sich offensichtlich für was besseres, obwohl sie eitle Barbaren sind und ihre Kultur der hellenistisch-römischen haushoch unterlegen ist.
Solche anderweitigen historischen Fälle würde ich persönlich weder unter „Antijudaismus“ noch unter „Antisemitismus“ ablegen wollen, sondern sie einfach erst mal unter dem Begriff „Judenfeindlichkeit/ Judenfeindschaft“ laufen lassen.
(Inwiefern der in manchen muslimischen Gruppen im Nahen Osten bestehende Judenhass ab dem 20. Jh. eine eigenständige Form der Judenfeindlichkeit ist oder Antisemitismus genannt werden kann oder muss, kann ich persönl. nicht beurteilen).
Mein Anliegen in dieser Diskussion: Ich bestehe überhaupt nicht auf der Richtigkeit meiner Antisemitismus-Definition. Vllt. ist sie überaus korrektur-bedürftig oder sogar ganz falsch. Aber ich würde es sehr begrüßen, wenn wir gemeinsam irgendeine Antisemitismus-Definition aushandeln (die für die historische Beurteilung historischer Fälle von Judenfeindlichkeit tauglich ist), auf die wir uns wenigstens im Groben einigen können, bevor wir dann auf der Grundlage von Luthers Äußerungen die Frage beantworten: „Luther ein Antisemit?“