Hallo Maelonn, ich habe mir gerade im Netz ein paar Definitionen zu "Fanatiker" durchgelesen und bin mir unschlüssig, ob ich Luther überhaupt unter den religiösen Fanatikern einreihen möchte. Wie definierst Du denn am ehesten den "Fanatiker" und wie ordnest Du unseren guten Luther dann da ein?

Es mag sein, dass ich dem guten Luther etwas zu harte "Titel" verpasst habe. Nach der Auflistung der Zitate im Beitrag 33 von Papa Leo finde ich diese Titel aber nicht überhart. Vieles von dem, was Luther geschrieben hat, ist mehr als grenzwertig.

Ein Fanatiker ist für mich jemand, der eine bestimmte Vorstellung für die unbedingte Wahrheit hält und jede Möglichkeit ausschließt, dass andere Vorstellungen wahr sein könnten. Eine schärfere Form von Fanatismus ist es, wenn so ein Mensch der Meinung ist, dass abweichende Meinungen bekämpft werden müssen. Luther hat für sich selbst eine Freiheit des Denkens und eine Freiheit der Rede gefordert, die er selbst niemand anderem einräumen wollte. Er hat zwar die "Freiheyth des Christenmenschen" propagiert, diese "Freyheith" aber exklusiv den "Christenmenschen" seiner persönlichen Auslegung zugebilligt. Darin sehe ich sowas wie Sendungsbewusstsein eines "wahren Gläubigen". Nach meiner Meinung kann man das nur Fanatismus nennen.

Um fair zu bleiben: Vermutlich lag diese Überzeugung im damaligen Zeitgeist begründet, der es noch immer für vertretbar hielt, um Glaubensfragen Kriege zu führen. Ich persönlich habe eine intensive Abneigung gegen diese Art von Absolutheitsanspruch bei Religionen. Richtiger müsste es heißen: Absolutheitsanspruch von Kirchen. Religion ist an sich ja kein Problem, wenn man es betrachtet wie der alte Fritz, der meinte, dass "jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden soll". Religion wird dann zum Problem, wenn sie als Instrument für Herrschaftsausübung genutzt wird. Dem hat Luther das Wort geredet. Deshalb eignet er sich meiner Meinung nach nicht als Vorbild, in dessen Namen wir heute noch Menschen mit einem Preis für "das unerschrockene Wort" ehren.

MfG
 
Ein Fanatiker ist für mich jemand, der eine bestimmte Vorstellung für die unbedingte Wahrheit hält und jede Möglichkeit ausschließt, dass andere Vorstellungen wahr sein könnten. Eine schärfere Form von Fanatismus ist es, wenn so ein Mensch der Meinung ist, dass abweichende Meinungen bekämpft werden müssen. Luther hat für sich selbst eine Freiheit des Denkens und eine Freiheit der Rede gefordert, die er selbst niemand anderem einräumen wollte. Er hat zwar die "Freiheyth des Christenmenschen" propagiert, diese "Freyheith" aber exklusiv den "Christenmenschen" seiner persönlichen Auslegung zugebilligt. Darin sehe ich sowas wie Sendungsbewusstsein eines "wahren Gläubigen". Nach meiner Meinung kann man das nur Fanatismus nennen.
meinst du, die Zeitgenossen von Luther oder meinetwegen später von Ignatius von Loyola hätten deine Überlegungen mit ihren immanenten Wertungen verstanden oder gar geteilt?
Ich befürchte, in deinem Urteil ist zu viel heute und zu wenig damals.

...wenn wir immer und überall restlos alles frühere mit unseren heutigen Augen betrachten und danach werten, dann gibt es restlos gar nichts sympathisches, menschliches in den früheren Zeiten... bedenke: nach deiner Definition von religiösem Fanatismus ist auch Jesu ein Fanatiker, Augustinus sowieso ;)

übrigens denke ich nicht, dass die eindeutig - indes zeitgebundenen - antijudaischen Tiraden Luthers ein schlechtes Licht auf seine anderen Leistungen werfen.
 
meinst du, die Zeitgenossen von Luther oder meinetwegen später von Ignatius von Loyola hätten deine Überlegungen mit ihren immanenten Wertungen verstanden oder gar geteilt?
Ich befürchte, in deinem Urteil ist zu viel heute und zu wenig damals.

...wenn wir immer und überall restlos alles frühere mit unseren heutigen Augen betrachten und danach werten, dann gibt es restlos gar nichts sympathisches, menschliches in den früheren Zeiten... bedenke: nach deiner Definition von religiösem Fanatismus ist auch Jesu ein Fanatiker, Augustinus sowieso ;)

Nun, ich habe ja eingeräumt, dass Luthers Haltung vermutlich dem Zeitgeist entsprochen hat. Allerdings lautet die Ausgangsfrage: War er ein Antisemit? Die Frage kann man eigentlich nur aus heutiger Sicht heraus beantworten. Unabhängig von zeitgebundenen Urteilen sehe ich aber nach wie vor eine Diskrepanz zwischen seiner Forderung nach Freiheit und seiner Ablehnung der Freiheitsrechte anderer. Der Bauernkrieg ist da noch bezeichnender als seine Haltung zu den Juden. Dass Jesus genauso fanatisch gewesen sein soll, kann ich nicht unterschreiben. Von ihm sind jedenfalls keine Hasstiraden gegen Andersgläubige überliefert. Zumindest kenne ich keine. Einschränkend füge ich hinzu, dass das nichts heißen muss: Du hast meinen Beiträgen zweifellos entnommen, dass ich kein sonderlich religiöser oder bibelfester Mensch bin. :pfeif:

übrigens denke ich nicht, dass die eindeutig - indes zeitgebundenen - antijudaischen Tiraden Luthers ein schlechtes Licht auf seine anderen Leistungen werfen.
Welches sind denn seine anderen Leistungen? Im Grunde hat er sich doch nur gegen die Strukturen der katholischen Kirche erhoben und den Anstoß für die Entstehung einer zweiten Kirche mit anderen Strukturen gegeben. Okay, nolens volens hat er damit die deutsche Schriftsprache gefördert. Es ist immer die Rede davon, dass er auch die Gesellschaft nachhaltig verändert habe. Mir scheint aber, dass er das gar nicht wollte und dass es andere Kräfte waren, die diese Veränderungen letztlich durchgesetzt haben. Luther hat von Gerechtigkeit und Freiheit immer nur bezogen auf den Glauben und auf Christenmenschen gesprochen. Aber das mag ein Vorurteil sein. Wie gesagt, fehlt mir für theologische Diskussionen das Rüstzeug.

MfG
 
Es mag sein, dass ich dem guten Luther etwas zu harte "Titel" verpasst habe. Nach der Auflistung der Zitate im Beitrag 33 von Papa Leo finde ich diese Titel aber nicht überhart. Vieles von dem, was Luther geschrieben hat, ist mehr als grenzwertig.

Ein Fanatiker ist für mich jemand, der eine bestimmte Vorstellung für die unbedingte Wahrheit hält und jede Möglichkeit ausschließt, dass andere Vorstellungen wahr sein könnten. Eine schärfere Form von Fanatismus ist es, wenn so ein Mensch der Meinung ist, dass abweichende Meinungen bekämpft werden müssen. Luther hat für sich selbst eine Freiheit des Denkens und eine Freiheit der Rede gefordert, die er selbst niemand anderem einräumen wollte. Er hat zwar die "Freiheyth des Christenmenschen" propagiert, diese "Freyheith" aber exklusiv den "Christenmenschen" seiner persönlichen Auslegung zugebilligt. Darin sehe ich sowas wie Sendungsbewusstsein eines "wahren Gläubigen". Nach meiner Meinung kann man das nur Fanatismus nennen.

Um fair zu bleiben: Vermutlich lag diese Überzeugung im damaligen Zeitgeist begründet, der es noch immer für vertretbar hielt, um Glaubensfragen Kriege zu führen. Ich persönlich habe eine intensive Abneigung gegen diese Art von Absolutheitsanspruch bei Religionen. Richtiger müsste es heißen: Absolutheitsanspruch von Kirchen. Religion ist an sich ja kein Problem, wenn man es betrachtet wie der alte Fritz, der meinte, dass "jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden soll". Religion wird dann zum Problem, wenn sie als Instrument für Herrschaftsausübung genutzt wird. Dem hat Luther das Wort geredet. Deshalb eignet er sich meiner Meinung nach nicht als Vorbild, in dessen Namen wir heute noch Menschen mit einem Preis für "das unerschrockene Wort" ehren.

MfG


Die Übersetzung der Bibel- es war nicht die erste Bibelübersetzung- bleibt eine bedeutende Leistung, und in ihrer Nachwirkung nicht zu unterschätzen, trug doch die Lutherbibel dazu bei, eine universale deutsche Schriftsprache zu entwickeln. Dagegen verblasst etwas luthers Bedeutung als Komponist und Verfasser von unzähligen Kirchenliedern, ähnlich kreativ war auf diesem Gebiet nur Paul Gerhardt.

Luther hat mit dieser Resonanz seines Wirken vermutlich kaum gerechnet. dass er seine 93 Thesen, wie die legende sagt, persönlich an die Schlosskirche in Wittenberg nagelte ist fraglich. Er sah sich als Theologe, der die Kirche und den Papst vor Misständen warnen wollte und als Seelsorger empörte ihn der Ablasshandel, obwohl Tetzel wohl Luther in punkto Derbheit und Sprachgewalt in manchem ähnelte. So hätte auch Luther predigen können.
 
Dagegen verblasst etwas luthers Bedeutung als Komponist und Verfasser von unzähligen Kirchenliedern, ähnlich kreativ war auf diesem Gebiet nur Paul Gerhardt.
Finde ich jetzt nicht. Sogar in einem atheistischen Haushalt lernte ich „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ und „Eine feste Burg ist unser Gott“. Für historisch relevant halte ich auch sein dichterisches Schaffen. Ohne dies und z.B. sein Einwirken auf Johann Walter hätte die Reformation lutherischer Prägung sicher nicht den Erfolg gehabt.

Ich frage mich nur gerade, was das mit Luthers Antijudaismus zu tun hat. :grübel: (Der meines Erachtens leider noch lange in der Frühen Neuzeit im Zeitgeist lag.)
 
Antisemitismus bedeutet Judenfeindlichkeit [...]

Du führst zwar dann unterschiedliche Gründe und Motive für Judenfeindlichkeit auf, aber es scheint ja, als würdest Du letztlich Antisemitismus und die von Dir beschriebenen Äußerungen der Judenfeindlichkeit so ziemlich gleichsetzen. Diese Gleichsetzung aber macht ja die Bestrebungen einiger, zwischen Antisemitismus und Antijudaismus (beides zweifelsohne eine Form von Judenfeindlichkeit) zu unterscheiden, zunichte.:weinen:

Ich will noch mal darlegen, wie ich die beiden Begriffe bisher immer aufegfasst habe:

Antijudaismus ist die Ablehnung der Juden als Glaubensgemeinschaft und sicher auch als "Sittengemeinschaft" durch Angehörige der christlichen Religion.
Diese Ablehnung kann echt religiös motiviert sein, es können aber m. E. genauso Motive wie Neid, Angst, Argwohn gegen Andersartigkeit und Minderheiten-Hass eine Rolle spielen; auf jeden Fall vollzieht sich der Antijudaismus im Kontext christlicher Gesellschaft und wird „christl.“ begründet – das ist das erste notwendige Kennzeichen des Antijudismus.
Das zweite notwendige Kennzeichen ist: Solange ein Jude sich nicht von jüdischem Glauben und jüdischer Sitte losspricht, sich taufen lässt und zu Christus bekennt, gehört er in den Augen des Antijudaisten zum verabscheuten Juden-Kollektiv. Der Jude kann aber vom Juden zum Christen werden.
Gründe für die Ablehnung der Juden durch den Antijudaisten konnten echte jüd. Glaubens- bzw. Religionsinhalte und jüd. Lebensweise sein (z. B. Heiligung des Sabbats statt des Sonntags, Reinheitsvorschriften, Beachtung des talmudischen Regelwerks usw.), konnten im Speziellen echte fundamentale Glaubensunterschiede zw. Juden u. Christen sein (Nichtanerkennung Jesu Christi als Messias und Gottessohn durch Juden), konnten daraus resultierende theologisch und geschichtstheologisch bedingte Annahmen und religiös-polemische Kollektiv-Vorwürfe sein (Juden als „Gottes- bzw. Christusmörder“, Verstockung der Juden gegenüber dem Wort Gottes usw.), konnten die Lebensweise sein, in die Juden von der christlichen Gesellschaft gedrängt wurden (z. B. Berufseinschränkung für Juden > Juden als Händler u. Geldverleiher > Juden sind faul, gewinnsüchtig, geizig, saugen Christen aus usw.), und konnten auch völlig aus der Luft gegriffene, fiktive Vorwürfe sein (Juden als Hostienschänder, Brunnenvergifter, Ritualmörder usw.)

Antisemitismus ist die Ablehnung der Juden als Rasse, Ethnie/ Volk im Sinne einer Bluts- und Abstammungsgemeinschaft (vor allem ab dem 19. Jh.) oder die Ablehnung der Juden als Inhaber eines/ einer unveränderlichen, unverbesserlichen „jüdischen Charakters“/ „jüdischen Natur“ (auch schon vor dem 19. Jh.). Diese Definition der Juden als – wir würden heute sagen – letztlich irgendwo „biologisches“ Kollektiv ist das erste Kennzeichen des Antisemitismus.
Das zweite Kennzeichen des Antisemitismus schwingt darin schon mit: Die Juden können nicht aus ihrer Haut. Jude bleibt verabscheuungswürdiger Jude, unabhängig von seinem religiösen Bekenntnis und seiner Lebensweise. Nicht der Glaube oder die Lebensweise definiert den Juden, sondern die Abstammung.
Wo eine Judenfeindschaft mit diesen beiden Kennzeichen auftritt, möchte ich von Antisemitismus sprechen, ungeachtet der Tatsache, dass religiöse Motive der Ablehnung auch beim manchem Antisemiten unverändert eine entscheidende Rolle spielen kann und die Gründe der Ablehnung streckenweise weiterhin die gleichen Gründe sein können, aus denen heraus der Antijudaist die Juden ablehnt.

Der Unterschied zwischen Antijudaismus und Antisemitismus besteht m. E. also nicht zwangsläufig in unterschiedlicher Motivation zur Judenfeindlichkeit, auch nicht zwangsläufig in einem unterschiedlichen Grad der Schwere von Ablehnung, Hass, Verfolgung usw., sondern vor allem in einer unterschiedlichen Definition von „Jude(n)“ bei Antijudaisten und Antisemiten.
Dass die Übergänge zwischen beidem in der frühen Neuzeit zum Teil fließend sind (siehe z. B. Maglors Spanien-Beispiel) bestreite ich nicht (und dass Luther genau hierhin gehört, möchte ich nicht ausschließen).

Sowohl Antijudaismus als auch Antisemitismus kann man zweifelsohne „Judenfeindlichkeit/ Judenfeindschaft“ nennen bzw. kann man beides unter diesen Oberbegriff packen. Unter diesen Begriff kann man noch eine ganze Reihe weiterer historischer Fälle von Juden-Ablehnung einreihen, z. B. Fälle in hellenistisch-römischer Zeit, wo manch seleukidischer und römischer Herrscher Probleme hinsichtlich der politischen (und kulturellen?) Kontrolle von Judäa hatte und in den Juden Auflehner, Aufrührer, Aufständische, Ungehorsame erblickte/ erblicken musste, und gewaltsame Repressionen folgen ließ; oder Fälle in der Antike, wo die Speisegesetze, andere Absonderungen gegenüber der heidn. Umwelt, der monotheistische Glaube mit seinem Ausschluss heidn. Götter (der vielen Polytheisten als Gottlosigkeit galt) usw. Ablehnung bei Heiden erzeugte – nach dem Motto: Die Juden ekeln sich davor, sich mit uns an einen Tisch zu setzen, hassen unsere Götter, Verehren unsere Herrscher nicht, halten stattdessen lächerliche Vorschriften u. Gesetze für heilig, bleiben am liebsten unter sich (wer weiß, was sie in ihren Versammlungen und im Untergrund alles Schändliches treiben), sie halten sich offensichtlich für was besseres, obwohl sie eitle Barbaren sind und ihre Kultur der hellenistisch-römischen haushoch unterlegen ist.
Solche anderweitigen historischen Fälle würde ich persönlich weder unter „Antijudaismus“ noch unter „Antisemitismus“ ablegen wollen, sondern sie einfach erst mal unter dem Begriff „Judenfeindlichkeit/ Judenfeindschaft“ laufen lassen.
(Inwiefern der in manchen muslimischen Gruppen im Nahen Osten bestehende Judenhass ab dem 20. Jh. eine eigenständige Form der Judenfeindlichkeit ist oder Antisemitismus genannt werden kann oder muss, kann ich persönl. nicht beurteilen).

Mein Anliegen in dieser Diskussion: Ich bestehe überhaupt nicht auf der Richtigkeit meiner Antisemitismus-Definition. Vllt. ist sie überaus korrektur-bedürftig oder sogar ganz falsch. Aber ich würde es sehr begrüßen, wenn wir gemeinsam irgendeine Antisemitismus-Definition aushandeln (die für die historische Beurteilung historischer Fälle von Judenfeindlichkeit tauglich ist), auf die wir uns wenigstens im Groben einigen können, bevor wir dann auf der Grundlage von Luthers Äußerungen die Frage beantworten: „Luther ein Antisemit?“
 
Mit burschons Zuordnung kann ich durchaus etwas anfangen. Ob die die Unterschiedung von Antisemitismus und Antijudaismus Sinn notwendig ist, steht auf einem anderen Blatt. (Die Beschränkung des Antijudaismus auch das christliche Abendland halte ich im übrigen für alles andere als sinnvoll.)

Zu Luther:
Luther lehnte den Christusmörder-Vorwurf gegen die Juden ab, obwohl dieser im Evangelium vorkommt. "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder," rufen die Juden nach Matthäus - in der Luther-Übersetzung. Trotzdem ist die vererbte Blutschuld der Juden für Luther kein Argument, der Kreuztod Jesu sei viel mehr die Schuld aller Menschen.

Seine Polemik gegen die Juden ist viel irrationaler. Meistens geht es um den Teufel. Streckenweise gleitet er in die Verschwörungstheorie ab oder kultiviert Vorurteile über verlogene, reiche und faule Juden.

Judenchristen oder gar jüdische Atheisten dürfte es zu der Zeit in Deutschland nicht gegeben haben. Entsprechend dürfte seine Grübelei über die getauften Juden im wesentlichen Spekulation sein. Das liegt viel auch daran, dass seine Verfolgungsphantasien - nämlich das Verbot des Judentum und die Ausweisung aller bekennenden Juden aus deutschen Landen - seinerzit nicht verwirklicht wurde.
Hier sind die wenigen Gedankenspiele Luthers über getaufte Juden zusammengefasst.
So bestehe etwa bei einer getauften Jüden die Gefahr, dass sie das Christentum nur vortäusche, da dieses Menschengeschlecht so gut täuschen könne. Die Hang zur Lüg und Täuschung wäre demnach erblich. Das klingt wie Antisemitismus in engsten Sinne.
Für Luther hieß es übrigens nicht Taufe oder Tod. Die Zwangstaufe lehnte er ab. Eine Jude der sich durch die Taufe einen Existenzberechtigungsschein erschlichen habe, solle in der Elbe ertränkt werden.
 
Mit burschons Zuordnung kann ich durchaus etwas anfangen. Ob die die Unterschiedung von Antisemitismus und Antijudaismus Sinn notwendig ist, steht auf einem anderen Blatt.

Hallo Maglor, nur als Erklärung, warum ich das nicht alles in einen Topf werfen möchte:
Diese These vom "ewigen Antisemitismus" wird von anderen gerade im Blick auf den Holocaust als absurd und gefährlich zurückgewiesen, denn weder das antike Bild der Juden, das sich zwischen den Polen von Idealisierung und Ablehnung bewegte, noch die spätere christliche Judenfeindschaft oder der nationalistische und rassistische Antisemitismus sind als eine bloße Reaktion auf die Fremdheit der Juden zu verstehen. Wie wäre es zu erklären, dass die Feindschaft trotz der weitreichenden Integration der Juden in die europäischen christlichen Gesellschaften nach 1880 eher anwuchs als zurückging? Im Gegensatz zur Annahme eines "ewigen Antisemitismus" nehmen funktionale Erklärungen des Antisemitismus an, dass sich Ursachen, Ziele, Formen und Inhalte von Judenfeindschaft in den einzelnen Epochen und Regionen in Reaktion auf konkrete gesellschaftliche Konfliktlagen und Interessen verändern, die nicht notwendig mit dem Verhalten und der Position der jüdischen Minderheit zusammenhängen müssen. Dabei dürfen natürlich die erkennbaren Kontinuitäten nicht übersehen werden, schichtet sich doch von den frühchristlichen Anklagen bis zu den rassistischen Feindbildern ein kulturell tief verankerter antijüdischer Motivvorrat auf, der in jeder Epoche wieder aktualisiert und funktionalisiert werden kann.
(unter Was heit Antisemitismus? | bpb )

(Die Beschränkung des Antijudaismus auch das christliche Abendland halte ich im übrigen für alles andere als sinnvoll.)
Ich will Antijudaismus nicht auf's "Abendland" beschränken, sondern auf's "Christliche". Ich kenne mich mich Antijudaismus in anderen Teilen der Erde nur zu wenig aus. Oder ist sogar die Beschränkung auf's Christentum in Deinen Augen schlecht gewählt?

Hier sind die wenigen Gedankenspiele Luthers über getaufte Juden zusammengefasst.
Danke für Deinen Link zu Luthers Überlegungen zum Thema Juden und Bekehrung/ Taufe. Nach so etwas habe ich gesucht.

So bestehe etwa bei einer getauften Jüden die Gefahr, dass sie das Christentum nur vortäusche, da dieses Menschengeschlecht so gut täuschen könne. Die Hang zur Lüg und Täuschung wäre demnach erblich. Das klingt wie Antisemitismus in engsten Sinne.
Unter anderem dank Deiner Beiträge hege ich mittlerweile auch den Verdacht, dass sich Luthers Gedanken zu Juden haarscharf an der Grenze zwischen Antijudaismus und Antisemitismus bewegen (vllt. höchstens noch gerade so auf antijudaistischem Territorium verbleiben, vllt. aber auch nicht mehr). Aber ich will mal noch andere Antisemitismus-Definitionen von anderen Diskussionsteilnehmer abwarten, ehe ich mein Urteil abstemple und in meinem Gehirn-Archiv ablege.
 
Judenchristen oder gar jüdische Atheisten dürfte es zu der Zeit in Deutschland nicht gegeben haben. Entsprechend dürfte seine Grübelei über die getauften Juden im wesentlichen Spekulation sein.
Ca. 100 Jahre später gab es einen interessanten Fall eines getauften Juden, der sogar ein antijüdisches Buches verfasst hat: "Detectum velum Mosaicum Judaeorum nostri temporis: Das ist: Jüdischer Deckmantel dess Mosaischen Gesetzes, unter welchem die Juden jetzigen Zeit allerley Bubenstück, Laster, Schand und Finantzerey, & üben und treiben, auffgehoben und entdecket / durch Dietherichen Schwaben"
Dietrich Schwab ? Wikipedia
Detectum velum Mosaicum Judaeo - Titel - Freimann-Sammlung - Digitale Sammlungen
 
Unter anderem dank Deiner Beiträge hege ich mittlerweile auch den Verdacht, dass sich Luthers Gedanken zu Juden haarscharf an der Grenze zwischen Antijudaismus und Antisemitismus bewegen
bzgl. des Begriffs Antisemitismus und seiner Geschichte: Judenfeindlichkeit ? Wikipedia sowie Antisemitismus ? Wikipedia
ob es sinnvoll ist, diesen Begriff in die erste Hälfte des 16. Jhs. zu versetzen? meiner Ansicht nach ist das nicht sonderlich sinnvoll.
 
bzgl. des Begriffs Antisemitismus und seiner Geschichte: Judenfeindlichkeit ? Wikipedia sowie Antisemitismus ? Wikipedia
ob es sinnvoll ist, diesen Begriff in die erste Hälfte des 16. Jhs. zu versetzen? meiner Ansicht nach ist das nicht sonderlich sinnvoll.

Da möchte ich Dir beipflichten, ansonsten bekämen wir ein historisches Kategorieproblem und die historischen Kategorien "Antijudaismus" und "Antisemitismus" würden sich auflösen bzw. beginnen sich zu überschneiden. Die Kategorie "Antisemitismus" würde ich jedenfalls nicht für das 16. Jh. verwenden wollen.

Laßt mich bitte für meine anschließende Frage das neutralere Wort "Judenfeindlichkeit" verwenden.

Maglor hat die Judenfeindlichkeit der spanischen Inquisition beschrieben, Luthers Schriften zu diesem Thema sind bekannt, ergänzen könnten wir Konzilsbeschlüsse, Reichtagsabschiede ... usw. usf.

War nicht die gesamte europäische Gesellschaft Judenfeindlich, wenn ja, was ich auch bejaen würde, ist es redlich Luther als Repräsentant einer "voraufklärerischen" Gesellschaft, eben dieses vorwerfen zu wollen. Überspitzt, bis zur Erklärung der Menschenrechte, dauerte es noch fast über 250 Jahre. Mit dem Vorwurf der Judenfeindlichkeit, blenden wir mindestens diesen Zeitraum in der Geistesgeschichte aus.

Selbstverständlich könnte man mit den Kategorien des überpositiven Rechtes argumentieren und das ist auch vollkommen statthaft, nur driftet man dann nicht in eine philosophische Diskussion ab und verliert die "historische Bodenhaftung"?

M.
 
Ca. 100 Jahre später gab es einen interessanten Fall eines getauften Juden, der sogar ein antijüdisches Buches verfasst hat: "Detectum velum Mosaicum Judaeorum nostri temporis: Das ist: Jüdischer Deckmantel dess Mosaischen Gesetzes, unter welchem die Juden jetzigen Zeit allerley Bubenstück, Laster, Schand und Finantzerey, & üben und treiben, auffgehoben und entdecket / durch Dietherichen Schwaben"
Dietrich Schwab ? Wikipedia
Detectum velum Mosaicum Judaeo - Titel - Freimann-Sammlung - Digitale Sammlungen

Danke, Fulcher. Die Schrift von 1619 gewährt spannende Einblicke in die Zeit, was die (Vor)Urteile mancher Christen über die unter ihnen lebenden Juden anbelangt.

Ich habe nur ein paar Kapitel durchgelesen, aber was ich bezeichnend fand: Überall da, wo es um (ich will mal sagen) 'schwerwiegende' Vorwürfe geht - also Ritualmorde, Brunnenvergiftung, Hostien- u. Kruzifix-Schändungen - muss der Verfasser auf ältere Geschichten zurückgreifen, zum Teil sogar auf uralte aus der Spätantike. Offensichtlich konnte Dietrich Schwab in seiner Zeit als Jude vor dem Übertritt zum Christentum solche Übeltaten in seinem zeitgenössischen jüdischen Umfeld nie beobachten.
Für den heutigen Leser kommt Dietrichs Schrift daher in Teilen wie ein Freispruch der Juden seiner Zeit vor - wenn Dietrich z. B. im Kapitel "Wie die Juden den Christen nach dem Leben stellen" die Juden "ein Tyrannisch Blutdürstig Volck" nennt, "welches da ein sonderliche frewd an vergiessung deß Christlichen Bluts hat", dann aber für seine eigene Zeit gar keine Beispiele und Belege für seine Behauptung vorbringen kann, für das 16. Jh. und das Mittelalter nur sehr zweifelhafte (z. B. Ritualmord-Gerüchte als vorgeschobene Gründe eines franz. Königs für die Ausweisung der Juden aus seinem Land; Ritualmord-Geständnis nach Folter usw.) und ansonsten nur spätantike Quellen zu zwei Fällen von jüd. Morden an Christen in Alexandrien und Syrien/Kleinasien vorzubringen vermag. Außerdem weist Dietrich auf einen Fall im Jahre 1349 hin. In diesem Jahr seien im Elsas etliche Menschen gestorben, in Straßburg alleine 16.000; und die Juden standen im Verdacht, die Brunnen vergiftet zu haben. In der Folter haben einige Juden die Tat gestanden, andere geleugnet. Darum wurden auf dem Straßburger Kirchplatz 200 Juden verbrannt (nur die, die sich taufen ließen, blieben verschont). Auch in Bern, Basel und Nürnberg seien viele Juden aus solchem Anlass verbrannt worden - also, so soll man mit Dietrich daraus schließen, entsprechen die Brunnenvergiftungs-Geschichten der Wahrheit.

Dietrichs "Beweise" für jüd. Ritualmorde und Morde an Christen sind letztlich lächerlich. Schade, dass wir keine zeitgenössischen christl. Leser Dietrichs mehr befragen können, wie sie Dietrichs "Beweise" eingeschätzt haben, ob z. B. Dietrichs Blutrünstigkeits-Belege auf sie tatsächlich überzeugend und beweiskräftig gewirkt haben. Würde mich brennend interessieren.
 
bzgl. des Begriffs Antisemitismus und seiner Geschichte: Judenfeindlichkeit ? Wikipedia sowie Antisemitismus ? Wikipedia
ob es sinnvoll ist, diesen Begriff in die erste Hälfte des 16. Jhs. zu versetzen? meiner Ansicht nach ist das nicht sonderlich sinnvoll.

Da möchte ich Dir beipflichten, ansonsten bekämen wir ein historisches Kategorieproblem und die historischen Kategorien "Antijudaismus" und "Antisemitismus" würden sich auflösen bzw. beginnen sich zu überschneiden. Die Kategorie "Antisemitismus" würde ich jedenfalls nicht für das 16. Jh. verwenden wollen.

Logischer Einwand, dekumatland, der dienlich ist, unsere Suche nach geeigneten Definitionen und Zuordnungen zu erweitern. Wenn man die Entstehung des Begriffs Antisemitismus ernst nimmt und vor allem den Wortteil "...semitismus" mal enger fasst, so kann man Euch eigentlich nur beipflichten: Im 16. Jh. gab es dem engeren Wortsinn nach keinen Antisemitismus.
Der Begriff Antisemitismus bezeichnet heute alle historischen Erscheinungsformen der Judenfeindschaft, obwohl er erst 1879 geprägt wurde, um eine neue Form einer sich wissenschaftlich verstehenden und rassistisch begründeten Ablehnung von Juden zu begründen. In dieser Wortneuschöpfung drückt sich eine veränderte Auffassung von den Juden aus, die nun nicht mehr primär über ihre Religion definiert werden, sondern als Volk, Nation oder Rasse. Die Wortbildung Antisemitismus basiert auf sprachwissenschaftlichen und völkerkundlichen Unterscheidungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in denen mit dem Begriff des Semitismus versucht wurde, den 'Geist' der semitischen Völker im Unterschied zu dem der Indogermanen zu erfassen und abzuwerten. Aus den indoeuropäischen und semitischen Sprachfamilien schloss man auf die Existenz entsprechender Rassen, also der Semiten und der Indogermanen oder Arier zurück, wobei sich dabei eine Begriffsverengung auf die Juden einerseits, auf die Germanen andererseits beobachten lässt.
(unter Was heit Antisemitismus? | bpb)

Auf der anderen Seite begegnet uns aber nicht erst im 18./19. Jh., sondern bereits in der frühen Neuzeit die Entwicklung von der Ablehnung der Juden als Religionsgemeinschaft hin zur Ablehnung der Juden als "Abstammungs-Gemeinschaft". Letztere Form der Judenfeindlichkeit operiert mit einem "Judenbegriff", der nicht mehr der "Judenbegriff" der Antijudaisten ist, sondern schon viel mehr der "Juden-Definition" der Antisemiten gleicht.

Wenn man im engeren Sinne den Gebrauch des Wortes Antisemitismus nur da gelten lassen will, wo auch eine rassistische Einteilung in Semiten und Indogermanen stattgefunden hat, können wir im 16. Jh. niemanden einen Antisemiten nennen.

Wenn man den Begriff Antisemitismus aber in einem etwas weiteren Sinne für jene Entwicklung gelten lässt, die in der frühen Neuzeit mit der Ablehnung der Juden als "Abstammungs-Gemeinschaft" begonnen hat, im 19. Jh. (in dem auch der Begriff eingeführt wurde) und 20. Jh. Hochkonjuktur hatte - wenn man da also eine Kontinuität sieht -, erscheint es mir nicht unpassend, den Begriff auch rückwirkend in der Geschichte anzuwenden.

Also eigentlich stellen sich für mich nach Eurem Einwand zwei Fragen:
1. Können wir eine Kontinuität von der Ablehnung der Juden als "Abstammungsgemeinschaft" in der frühen Neuzeit bis hin zur rassistischen Juden-Ablehnung im 19./20. Jh. behaupten?
2. Falls ja, berechtigt uns das dann, den Begriff Antisemitismus auch für jene anfänglichen Tendenzen in der frühen Neuzeit zu gebrauchen, oder ist das ein anachronistischer Gebrauch des Begriffs?

Vielleicht müsste man, wenn man nicht generell lieber mit dem weiten Begriff Judenfeindlichkeit arbeitet, streng genommen für die Übergangszeit vom Antijudaismus zum Antisemitismus von einer Art "rassistischem Antijudaismus" sprechen - wobei natürlich das "rassistisch" streng genommen auch schon wieder anachronistisch gebraucht wird. Und davon abgesehen, wie künstlich hört sich das denn an: Luther war ein rassistischer Antijudait.
Schwieriges Terrain. Ich für mich finde noch keine Lösung zu der Frage, mit welchem Titel wir den Luther schelten sollen. Völlig unverfänglich und in keiner Weise falsch ist es natürlich, den Luther gemeinsam mit Melchior schlicht einen "Judenfeind" zu nennen. Darauf können wir uns wahrscheinlich alle einigen.
 
Völlig unverfänglich und in keiner Weise falsch ist es natürlich, den Luther gemeinsam mit Melchior schlicht einen "Judenfeind" zu nennen. Darauf können wir uns wahrscheinlich alle einigen.

Ja, Luthers Einfluß als Begründer der ev. Kirche in deutschsprachigen Landen, reichte weit in die nachfolgenden Jahrhunderte. Bin gespannt, wie mit diesem Punkt im Jubiläumsjahr 2017 umgegangen wird.

Im Threadverlauf wurde herausgearbeitet, dass Luther zu Lebzeiten ein Kind seiner Zeit war. Interessanterweise prägte er noch bis ins frühe 20. Jhd. die Sicht der kirchlich orientierten Menschen, die damals immer noch die Mehrheit stellten. Die antisemitischen Vorläuferideen des 19. Jhd. dominieren zwar die Literatur, waren bei der breiten Masse aber uU noch gar nicht angekommen.
ME wurde diese kirchliche Herleitung der Judenfeindlichkeit erst während der NS-Zeit vergessen und durch die rassisch begründete Ablehnung/Verfolgung ersetzt.
 
Zur Nachwirkung:
Luthers Antisemitismus blieb in Deutschland jedenfalls nicht unvergessen.
Im 19. Jahrhundert entstand eine deutsche Nationalbewegung, die immer wieder neu den Reformator zu ihrem Vordenker erklärt. Diese Tendenz wurde noch verstärkt, als mit den preußischen Hohenzollern auch prosteantische Kaiser zur Verfügung standen.
Es gab eine protestantische Nationalbewegung und der Antisemitismus gehörte dazu.

Der nationalistische Historiker Heinrich von Treitschke, der den Satz "Die Juden sind unser Unglück" prägte, publizierte über Luther, den er für den Luther als den Führer der deutschen Nation und als Antisemiten.
Adolf Hitler bezeichnete Luther als ein Genie, das schon damals so dachte wie die Nazis.
Julius Streicher ging noch weiter. Er gab zu seiner Verteidigung währen der Nürnberger Kriegerverbrcherprozess an, er habe nur getan, was Martin Luther schon damals gefordert habe.
Während der Nazi-Zeit griffen regimetreue Protestanten immer wieder auf luther zurück, um den Antisemitismus.
So etwa der thüringische Landesbischof Martin Sassa zur "Reichskristallnacht":
"Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird […] die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden."

Dass der moderne Antisemitismus mit den Vorstellungen Luthers nur eine gewisse Schnittmenge liegt auf der Hand.
Bei Luther stand der Teufel quasi im Mittelpunkt der judenfeindlichen Ergüsse, und für den haben sich die modernen Antisemiten nicht mehr interessiert, genausowenig wie für Hostienfrevel usw.
Von Blutvermischung und Rassereinheit hat wiederum Luther noch nichts gewusst, genauso wenig wie vom angeblich jüdischen Bolschewismus oder geschweige von den neuesten Zerrbildern, die erst nach 1945 entstanden sind.

Festhalten möchte ich nur, dass Luther eben schon moderne Stererotype wie jüdische Wucherer oder auch die politische Verschwörung einführt, während er althergebrachte, traditionsreiche Vorstellungen wie die Ritualmordlegende oder die Erbschuld der Juden für den Tod Christi eher ablehnt.
Luthers Vorstellungen, die Juden seien Spione der Türken, würden heimlich in der Politik die Fäden ziehen oder letztlich sogar Mordanschläge auf ihn selbst plan, wirken auch mich zumindest wie eine der heute üblichen Verschwörungstheorie, während die Vorstellung Christenblut trinkenden Hostienfrevler hingegen reichlich märchhaft erscheint.

Luther ist daher nicht nur ein Kind seiner Zeit, sondern ein selbstständig denkender Antisemit, der überlieferte Stereotypen verwirft oder übernimmt, gegebenenfalls auch neue kombiniert. In seinen Hasstiraden ist er durchaus schöpferich tätig. Das gilt insbesondere bei solchen Wortschöpfungen wie Papstesel etc. Gegen die Juden gab es ja schon eine ältere Tradition. Da muss dann im Einzelfall geprüft werden, was eine originäre Schöpfung Luthers ist und was nur Rückgriff auf mittelalterliche Antijudaismus-Traditionen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dass der moderne Antisemitismus mit den Vorstellungen Luthers nur eine gewisse Schnittmenge liegt auf der Hand.
und genau aus diesem Grund ist diese Bewertung
Luther ist daher nicht nur ein Kind seiner Zeit, sondern ein selbstständig denkender Antisemit,
übertrieben.

es ist vielleicht chic, aber methodisch nicht korrekt, die kompletten Konntationen des Antisemitismusbegriffs nach 45 auf die Zeiten vor der 2. Hälfte des 19. Jhs. anzuwenden - wenn man das tut, dann kann man auch gleich die spanischen Westgoten, etliche römische Kaiser und Generäle oder gar das ganze römische Imperium und natürlich das komplette Christentum zu Antisemiten deklarieren...
 
Zuletzt bearbeitet:
...
Also eigentlich stellen sich für mich nach Eurem Einwand zwei Fragen:
1. Können wir eine Kontinuität von der Ablehnung der Juden als "Abstammungsgemeinschaft" in der frühen Neuzeit bis hin zur rassistischen Juden-Ablehnung im 19./20. Jh. behaupten?
2. Falls ja, berechtigt uns das dann, den Begriff Antisemitismus auch für jene anfänglichen Tendenzen in der frühen Neuzeit zu gebrauchen, oder ist das ein anachronistischer Gebrauch des Begriffs?...

Ad 1)

Ich denke, dieses kann man bejaen, da Judenfeindlichkeit sich tw. bis heute auch religiöser, oder wie Du schreibst, Feindlichkeit gegen die "Abstammungsgemeinschaft" bedient. Darüber hinaus bedient sich auch "moderner" Antisemitismus gleichsam im "vorwissenschaftlichen" Feld antijudaistischer Ressentiments.

Ad 2)

Hier wird es schwieriger. Beim Antisemitismus wird in Bezug auf Luther ein pseudowissenschaftlicher "rassebiologischer" Begriff regressiv transzendiert. Ich glaube, eine solcher Denkansatz lag Luther sehr fern und ich würde die Kategorie "Antisemitismus" in Bezug auf Luther zwar nicht als anachronistisch aber als ahistorisch bezeichnen wollen.

@Maglor

Da hast Du recht, es kommen bei Luther durchaus auch ökonomische judenfeindliche Denkansätze ins Spiel ("Wucher..." etc.) und nicht nur traditionelle religiöse Ansätze. Aber hatten in der FNZ nicht viele Menschen das Problem, einer Entfremdung durch frühkapitalistische Strukturbildung zu verstehen?

M. :winke:
 
Zuletzt bearbeitet:
Da hast Du recht, es kommen bei Luther durchaus auch ökonomische judenfeindliche Denkansätze ins Spiel ("Wucher..." etc.) und nicht nur traditionelle religiöse Ansätze.
allerdings sollte nicht der Eindruck entstehen, Luther habe "den Juden als Wucherer" erfunden: das Motiv wie auch die Umstände der Entstehung desselben (Zinsverbot im Mittelalter) sind beide durchaus älter :winke:
Zinsverbot ? Wikipedia
Zinsverbot ? Wikipedia
und aus letzterem:
Martin Luther wandte sich persönlich auch gegen das Zinsnehmen, im Gegensatz zu Jean Calvin, der allgemein eine wirtschaftsfreundliche Haltung einnahm. Dennoch wurde das Zinsverbot bald in allen protestantischen Gebieten Europas, reformierten wie lutherischen, aufgehoben.
 
und genau aus diesem Grund ist diese Bewertung
Maglor
Luther ist daher nicht nur ein Kind seiner Zeit, sondern ein selbstständig denkender Antisemit,
übertrieben.

es ist vielleicht chic, aber methodisch nicht korrekt, die kompletten Konntationen des Antisemitismusbegriffs nach 45 auf die Zeiten vor der 2. Hälfte des 19. Jhs. anzuwenden - wenn man das tut, dann kann man auch gleich die spanischen Westgoten, etliche römische Kaiser und Generäle oder gar das ganze römische Imperium und natürlich das komplette Christentum zu Antisemiten deklarieren...

Dekumatland,

es mag ja " methodisch nicht korrekt" sein einen Begriff neuerer Zeit auf frührere Geisteshaltungen zu übertragen.
Hätte er derartige Einlassungen in neuester Zeit verfasst
Juden seien blutdürstig, rachsüchtig, das geldgierigste Volk, leibhaftige Teufel, verstockt. Ihre „verdammten Rabbiner“ verführten die christliche Jugend wider besseres Wissen, sich vom wahren Glauben abzuwenden. Man beschuldige sie, Brunnen zu vergiften, Kinder wie Simon von Trient zu rauben und zu ermorden; falls dies nicht zutreffe, seien sie aber bereit dazu.[56] Denn wenn sie etwas Gutes täten, dann nicht aus Liebe, sondern aus Eigennutz, weil sie bei den Christen wohnen müssten. Sie hielten nicht einmal die Zehn Gebote, machten sich zu Herren der Christen, beuteten sie aus und verhöhnten sie, obwohl es ihnen jetzt besser gehe als im Königreich Israel:[57]

„Jawohl, sie halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“
,
dann bestünde wenig Zweifel am Sachverhalt des Antisemitismus.
Zumal sein Ziel ja die Vertreibung der Juden war.

Nun ist mir schon klar, dass solche Übertragungen problematisch sind.
Andererseits aber fanden solche Übertragungen in der Wirkung statt und ich denke Maglor hat das sehr gut beschrieben.
http://www.geschichtsforum.de/684275-post76.html

Eine andere Sache ist, ob man einfach sagen kann, Luther sei ein Judenhasser gewesen, denn so wie ich es verstehe gilt das wohl für seine letzte Lebensperiode. Vielleicht hatte er da auch eine Wandlung vollzogen.
Sowas solls ja geben.
 
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