Ich möchte das Beispiel zur Lehre Jesu zur Ehescheidung aus Sepiolas Beitrag #1370 noch mal aufgreifen:
1. Kor. 7, 10-11:
Den Verheirateten aber gebiete nicht ich, sondern der Herr, dass die Frau sich nicht von ihrem Manne scheiden soll - hat sie sich aber geschieden, soll sie ohne Ehe bleiben oder sich mit ihrem Mann versöhnen - und dass der Mann seine Frau nicht verstoßen soll.
Luk. 16, 18:
Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht die Ehe; und wer die von ihrem Mann Geschiedene heiratet, der bricht auch die Ehe.
Matth. 5, 31-32:
Es ist aber gesagt: Wer seine Frau entlassen will, gebe ihr einen Scheidebrief [siehe Dtn. 24, 1]. Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlassen wird, außer aufgrund von Hurerei, macht, daß mit ihr Ehebruch begangen wird; und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch.
Jene Lehre soll unmittelbar von Jesus bzw. dem Kyrios stammen. Darin ist sich Paulus mit Matth. u. Luk. bzw. ihrer Spruchquelle Q einig.
Ich sehe vornehmlich zwei inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen 1. Kor. und Matth./ Luk.:
1.) Die Ehescheidung an sich wird kritisch bzw. negativ gesehen, beinahe ganz abgelehnt.
2.) Die Wiederheirat der Geschiedenen von Dritten ist das eigentliche Problem! Dies ist bei Paulus ausgedrückt mit: „hat sie sich aber geschieden, soll sie ohne Ehe bleiben oder sich mit ihrem Mann versöhnen“; Matth. sagt sinngemäß, dass die auf die Scheidung i. d. Regel folgende zweite Ehe mit einem anderen Ehepartner Ehebruch (also vermutl. ein Bruch der ersten Ehe) ist; Luk. sagt ebenso: „... und heiratet eine andere, der bricht die Ehe“.
Mir scheint, dass diese sich hier ausdrückende Beurteilung der Ehescheidung tatsächlich keine im damals zeitgenössischen Judentum gängige war, sondern vielmehr typisch „jesuanisch“ war. Ob und was die Qumran-Schriften zum Thema Ehescheidung enthalten, und wie die Essener über die Scheidung gelehrt haben, weiß ich leider nicht.
Aber die Mischna des Babylonischen Talmuds bezeugt für das pharisäisch geprägte Judentum der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte eine ganz andere Einstellung zur Ehescheidung, als wir sie bei Paulus und in den Evangelien finden. Der Traktat Gittin (in Seder Naschim) befasst sich zum ganz überwiegenden Teil ausschließlich mit der Ehescheidung und dem Scheidebrief. Da der Traktat in der Goldschmidt-Ausgabe des Talmuds über 300 Seiten lang ist, habe ich nur die Mischna-Abschnitte überflogen, die jüngere Gemara beiseite gelassen. Es bietet sich mir dann folgendes Bild:
Ehescheidung mittels Scheidebrief war i. d. jüdischen Gesellschaft offensichtlich üblich und akzeptiert, solange sie formal korrekt vonstatten ging. Der gesamte Traktat behandelt beinahe nur die für eine 'juristisch' einwandfreie Scheidung einzuhaltenden Formalitäten. Es werden z. B. Fragen diskutiert, ob eine Scheidung gültig ist, wenn der Scheidebrief zwar tags geschrieben aber nachts unterschrieben wurde, worauf und womit man schreiben darf (Material), wer einen Scheidebrief überbringen darf und wer nicht usw.
Es ist nach der Mischna erlaubt und wird als selbstverständlich angesehen, dass die Geschiedenen sich erneut mit Dritten verheiraten (Einschränkungen gibt es nur für Priester, die ganz bestimmte geschiedene Frauen nicht mehr heiraten dürfen). Gittin X, iii lautet z. B.:
Der wesentliche Text des Scheidebriefes ist: Du bist nun jedermann erlaubt. R. Jehuda sagt, [man schreibe] auch: Dies diene Dir von mir als Trennungsschrift, Entlassungsbrief und Scheidungsurkunde, um zu gehen und jedermann nach Belieben zu heiraten.
Bedenken wegen Ehebruchs im Zuge einer Wiederheirat werden nirgends gehegt, treten noch nicht mal in den Gedankenhorizont der Mischna.
Zwar gehe ich mal davon aus, dass die Festlegung zahlreicher einzuhaltender Formalitäten auch irgendwo den Zweck haben sollte, eine unkontrollierte, willkürliche Ehescheidungs-Praxis einzudämmen. Aber 'moralisch' verworfen oder an sich in Frage gestellt wie in den frühen christl. Schriften wird die Scheidung u. Wiederheirat in der Mischna nirgends.
Die einzige Stelle, wo überhaupt die im weitesten Sinne 'ethische' Frage angesprochen ist, ob bzw. in welchem Fall man sich scheiden lassen darf, finde ich in Gittin IX, x:
Die Schule Schammajs* sagt, man dürfe sich von seiner Frau nur dann scheiden lassen, wenn man an ihr etwas Schändliches gefunden hat, denn es heißt: „denn er fand an ihr etwas S c h ä n d l i c h e s“**. Die Schule Hillels* sagt, selbst wenn sie ihm die Suppe versalzen hat, denn es heißt: „denn er fand an ihr e t w a s Schändliches“. R. Aqiba sagt, selbst wenn er eine andere schöner als sie findet, denn es heißt: „wenn sie keine Gunst in seinen Augen findet“**.
(* Soweit mir bekannt, haben Schammaj u. Hillel übrigens noch im1. Jh. v. Chr. zur Zeit Herodes d. Gr. als Rabbiner gewirkt.| ** Die Zitate stammen aus Dtn. 24, 1.)
Mein Fazit:
Jene Lehre zur Ehescheidung u. Wiederheirat, die 1. Kor. 7, 10f und Matth. 5, 31f/ Luk. 16, 18 auf Jesus selbst zurückführen, widerspricht der sonstigen zeitgenössischen jüdischen Lehre (auf jeden Fall der pharisäischen). Paulus und Q werden jene Lehre Jesu also kaum aus ihrer jüdischen (im Sinne von nicht-christlichen) Umwelt übernommen haben und wohl auch kaum unabhängig voneinander ersonnen haben. Beide kannten diese sich von der sonstigen zeitgenössischen jüd. Lehre zur Ehescheidung stark unterscheidende Lehre als eine Lehre des Kyrios bzw. Jesu (und es spricht m. E. auch nichts dagegen, sie auf den historischen Jesus selbst zurückzuführen.) Jedenfalls liegt es somit nahe, dass Paulus mit Kyrios denselben Jesus meint, den Q und die Evangelisten als menschlichen Prediger und Rabbi durch die jüdischen Lande ziehen lassen.