Zunächst einmal muß man im Bereich des griechischen Götterglaubens vorsichtig mit dem Begriff Religion umgehen, insofern dieser Terminus eine gefaßte rituelle Handlungspraxis vorgibt, die im heterogenen antiken Griechenland keineswegs vorlag. Zwar werden die meisten Kultpraktiken einander geähnelt haben - auf wieviele verschiedene Arten kann man schon einen Stier schlachten - aber inwiefern sich derartige Handlungen normiert haben, entzieht sich in der Regel unserer Kenntnis.
Die Kultpraktiken halte ich in diesem Zusammenhang nicht für relevant, da die Fragestellung des Threads vermutlich vor allem auf den Götterglauben abzielt, also auf die Vorstellung von übernatürlichen Wesenheiten. Mit diesem stehen und fallen dann die Kultpraktiken.
Vielleicht machen ein paar Definitionen Sinn (im theistischen Kontext wohlgemerkt, also unter Absehung vom atheistischen Buddhismus):
Religion setzt sich zusammen aus a) Theologie, b) Kult und c) Mythologie. Theologie ist die Lehre von den Göttern oder von Gott. Dabei wird das Verhältnis der Götter zur Welt, zu den Menschen und ggf. zu anderen Göttern bestimmt. Kult ist das System aller menschlichen Praktiken mit dem Zweck, eine Beziehung zu den Göttern oder zu Gott herzustellen, um ihr Verhalten den Menschen gegenüber zu beeinflussen (Rituale, Gebete, Opfer, Orakel usw.). Mythologie - der dritte Faktor - bezweckt, narrativ ein Kontext herzustellen, der den Sinn der Rituale (nachträglich) verständlich macht. Darüber hinaus sind der Mythologie, wie natürlich auch der Theologie, eine ideologisch-politische Komponente zuzusprechen, d.h. sie legitimiert irdische Machtverhältnisse, sowie eine explanatorische, d.h. welterklärerische Komponente, an deren Stelle ab der griechischen Klassik zunehmend die Naturwissenschaften traten, die durch das wissenschaftsfeindliche Christentum bis zur Neuzeit temporär außer Kraft gesetzt wurden.
"Griechische Religion" umfasst den Glauben an ein nach und nach etabliertes Pantheon, deren Gottheiten in Griechenland allgemein akzeptiert waren, wobei lokal und regional unterschiedliche Akzente und Vorlieben galten.
Die Zusammensetzung des Allgemeinpantheons war das Produkt eines jahrhundertelangen Prozesses der Durchmischung externer Traditionen (z.B. Achäer, Ionier, Dorer mit Akzent auf männlichen Gottheiten) mit indigenen Magna-Mater-Traditionen, deren älteste der Kult um die parthenogenetische Urmutter Gaia war. Diese indigenen Traditionen erfuhren durch kulturelle Kontakte auch Einflüsse aus dem orientalischen Bereich. Vor allem der phrygische Kybele-Kult mit seinen neolithischen Wurzeln hat die Göttinnenkulte in Hellas geprägt. Er drang über Nordionien nach Hellas ein und führte z.B. zu Identifikationen Kybeles mit der späteren Dionysos-Mutter Demeter und der späteren Zeus-Mutter Rheia; altorientalische Einflüsse formten auch das Erscheinungsbild griechischer Göttinnen (thronend, parakletisch, von männlichen Kindern begleitet, identisches Beiwerk: hoher Kopfschmuck, Zepter, Mondsichel, Granatapfel, Schlangen usw.).
Man kann also von einem altorientalisch inspirierten indigenen Grundbestand mit Akzent auf weiblichen Gottheiten sprechen, der durch Einwanderungswellen mit männlichen Göttern ergänzt wurde. Beispiele sind der achäische, Anfang des 2. Jt. BCE importierte Himmelsgott Zeus, worauf schon Dieter hinwies, und der noch früher importierte Rauschgott Dionysos, den in chalkolithischer Zeit Einwanderer bzw. Eroberer nach Thrakien brachten, welche der Usatovo-Kultur zuzurechnen sind, die laut David Anthony (The Horse, the Wheel, and Language), "von einer Kriegeraristokratie angeführt" wurde (led by a warrior aristocracy). Die mythologischen Kombinationen Zeus-Hera und Dionysos-Demeter sind Beispiele für eine Synthese importierter und authochtoner Gottheiten, denn Hera und Demeter waren ursprünglich Varianten der autochthonen Magna Mater, was sich bei Demeter, die auch im dionysischen Mysterienkult eine zentrale Rolle spielt, weitgehend erhalten hat.
Dann ist die Frage, was man unter Schwächung oder Niedergang versteht. Es ist ja nicht so, daß die Menschen plötzlich gar nicht mehr an Götter glauben und dadurch eine "Leerzeit" entsteht, sie wenden sich nur mitunter anderen Göttern zu, was aber innerhalb des Polyreligion diesem ja wesensimmanent ist, weshalb also beispielsweise Mysterienkulte, unabhängig von der Frage ihrer Exklusivität, eher Ausdruck des Polytheismus als Zeichen seines Niedergangs sind.
Ich habe das anders dargestellt. Mir geht es um einen schleichenden Prozess, der im 5. Jh. BCE mit dem Einsetzen des philosophischen Denkens (vor allem die Sophisten) seinen Ausgang nahm und nach und nach, im Zusammenspiel mehrerer Faktoren, zu einer Aushöhlung des konventionellen Glaubens führte, an dessen Stelle zunehmend andere religiöse Überzeugungen traten, vor allem die mysterienkultischen und schließlich die christlichen.
Ich versuche in einem weiteren Post (innerhalb der nächsten 2 Tage) eine detaillierte historische Chronologie des Prozesses darzustellen, die auch Faktoren umfasst, die bisher nicht zur Sprache kamen.
Vorher ist, um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, etwas anderes zu klären:
Dass Mysterienkulte ein "Ausdruck des Polytheismus" sind, stimmt nur bedingt, denn sie gehören nicht zum Mainstream der griechischen Religion, sondern sind ein Sonderfall, der in wesentlichen Punkten im Gegensatz zur Mainstreamreligion steht. Zunächst ist zu beachten, dass Mysterienkulte nicht automatisch ein Bestandteil polytheistischer Religionen, sondern in organisierter und öffentlich zugänglicher Form ein spätes kulturelles Produkt sind. Ich schrieb schon, dass der Schamanismus als ihr Vorläufer anzusehen ist. In prähistorischer Zeit waren schamanische Praktiken ein integraler Bestandteil religiöser Kulte. Ihr Wesen bestand vor allem darin, in unmittelbaren Kontakt mit der übernatürlichen Welt zu treten, was zu unterscheiden ist vom ritualistischen, symbolisch vermittelten Kontakt. Diese Differenz ist sehr wichtig, denn der unmittelbare Kontakt beinhaltet zumindest subjektiv reale Erfahrungen des Übernatürlichen, während der vermittelte Kontakt sich im Illusionären erschöpft - natürlich unter Voraussetzung der illusionären Natur der Götter.
Es führt an dieser Stelle zu weit, im Detail auf die Charakteristika des Schamanismus einzugehen; festzuhalten ist, dass es dabei um einen zumindest subjektiv realen Eintritt in eine höhere Wirklichkeit geht. In der Bronzezeit, als sich staatliche oder proto-staatliche Strukturen herausbildeten und das Religiöse zunehmend politisch kontrolliert wurde, d.h. als das oberste Priesteramt auf den König überging oder ihm zumindest unterstand, wurden schamanische Praktiken, weil sie mit dem beanspruchten exklusiven Zugang des Königs zu den Göttern kollidierten, aus dem öffentlichen Raum verdrängt, lebten inoffiziell aber fort, vor allem in Ägypten, wo priesterliche Mysterienkulte die älteste Tradition hatten und sicher auch Pharaonen an ihren Praktiken teilnahmen. Die durch Jan Assmann bekannt gewordene Unterscheidung zwischen ´exoterischer´ und ´esoterischer´ Religion rührt daher.
Die wesentlichen Unterschiede zwischen exoterischer griechischer Religion und ´esoterischem´, dennoch (eine Zeitlang) staatlich gefördertem Mysterienkult sind also:
(1) Das Individuum tritt in direkten Kontakt mit der göttlichen Sphäre, indem es am Wesen eines Gottes (Dionysos) partizipiert. Partizipation heißt: Das Individuum verschmilzt mit dem Gott im Prozess seines Sterbens und seiner Wiedergeburt. Effekt: Das Individuum erringt die Unsterblichkeit.
(2) Konkret folgt daraus: Das Individuum erlangt die Garantie für ein glückliches jenseitiges Leben. Das steht in scharfem Kontrast zu den Bedingungen der exoterischen Religion, deren kultische Observanz dem Individuum maximal ein glückliches Leben im Diesseits als Effekt des guten Willens der Götter ermöglicht.
Der Hades und der Tartaros, welche die exoterische Religion für die jenseitige Existenz in Aussicht stellt, sind wegen ihrer Unattraktivität kein Ziel religiöser Bemühungen. Ihre Diesseitsorientierung auf Kosten eines Jenseitsoptimismus hat die exoterische griechische Religion mit der mesopotamischen Religion gemeinsam, während in Ägypten die Vorstellung des Sechet-Iaru, der seligen Jenseitsgefilde, vorherrscht, in welche jene Toten eintreten, die das Totengericht bestanden haben. Dieses Gefilde ist die exoterische Entsprechung der viel sublimeren Jenseitsvorstellung der ägyptischen Mysterienkulte. Ein betont positives Jenseitsdenken kennzeichnet dann auch die von den Ägyptern inspirierten griechischen Mysterienkulte.
Von daher ist wohl klar, dass die Unterschiede zwischen exoterischer und esoterischer Religion ihre Gemeinsamkeiten weit übertreffen. Im Zentrum des mysterienkultischen Bemühens steht letztlich ein Prozess, der die Bedingungen des exoterischen Polytheismus radikal sprengt: Das Individuum steht nicht einem Gott gegenüber, dessen Gnade es ausgeliefert ist, sondern hat Anteil an seiner Identität. Dieses ´Mysterium´ ist in ein polytheistisches Konzept verpackt, steht aber zugleich im diametralen Gegensatz zum Grundprinzip des exoterischen Polytheismus, dass zwischen Göttern und Menschen ein Abgrund klafft, der für die Menschen unüberbrückbar ist.
Damit ist denn auch der Typ der Erlösungsreligion entstanden, in welchem das Christentum eine seiner Wurzeln hat - die andere Wurzel ist das messianische Judentum.
Aus dem Ausgeführten ist vielleicht klar geworden, dass deine prima facie einleuchtende Behauptung, der Übergang zu den Mysterienkulten bedeute keinen Niedergang des Polytheismus, auf einer unzureichenden Differenzierung zwischen exoterischer und ´esoterischer´ Religion beruht.
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Auf der Basis obiger Begriffsklärungen sowie des nächsten Posts mit einer detaillierten Chronologie von der klassischen Zeit bis zum 4. Jhd. CE können wir das Thema dann vielleicht weiterdiskutieren. Auf deine anderen Kommentare werde ich teilweise auch noch eingehen.
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