Ich will gar nicht abstreiten, dass eine Niederlage eine Schwächung der Religiosität bewirken kann, aber zwingend ist diese Folge nicht. In Ephesos hörte man nicht auf, Artemis zu verehren, als sie ihren Tempel nicht gegen Brandstiftung schützen konnte; in Delphi hörte trotz zweimaliger Zerstörung durch Katastrophen nicht der Orakelkult auf.
Es ging mir nur darum, ein paar - sicher nicht alle - Faktoren zu benennen, die faktisch oder hypothetisch zur Schwächung der Polisreligion beitrugen. Ich habe nicht behauptet, dass diese Faktoren an einem präzise bestimmbaren Zeitpunkt oder Zeitrahmen zum Niedergang führten, weshalb auch von einem "zu frühen Ansetzen" (dein letzter Satz) keine Rede sein kann. Vielmehr setzte der Effekt dieser und weiterer, nicht genannter Faktoren erst in the long run ein. Das ist wie ein Defekt in einem Motor, der zunächst nicht spürbar ist, irgendwann aber zum Stillstand führt. Allerdings wäre der Stillstand sicher sehr viel später eingetreten, wenn das zu staatlicher Macht gelangte Christentum dem Polytheismus nicht gewaltsam ein Ende gesetzt hätte.
Von daher ist die Frage nach dem Niedergang der griechischen Religion unabhängig von ihrem erzwungenen Ende gar nicht beantwortbar - thematisieren kann man nur Faktoren, die in the long run zu ihrer Schwächung führten. Mit Sicherheit gehören dazu:
(1) die Philosophie
(2) die Mysterienkulte
und
(3) ein philosophisch aufgepepptes und mutmaßlich ursprünglich mysterienkultisches Christentum
Ohne Philosophie und Mysterienkulte also kein Christentum = das bedeutet: Ohne diese Faktoren gibt kein bestimmbares Ende der griechischen Religion.
Was die Bedeutung des verlorenen Peloponnesischen Krieges für die athenische Religiosität betrifft, zitiere ich einen Kommentar aus einer Vielzahl von Ausführungen zu diesem Thema, die mir bekannt sind:
Claude Mossé, Athens in Decline (Routledge Revivals): 404-86 B.C., Seite 17
Unquestionably, the Peloponnesian war gave rise to a grave moral and religious crisis in Athens responsible for altering the ethical code of the city-state and which explains certain aspects of Athenian life in the 4th century (...) As for the gods, it seemed to be the same thing whether one worshipped them or not (...).
Eine praktische Folge war, dass neue Götter importiert wurden, insbesondere Asklepios samt seinem Kult. Das erinnert an die Transferpolitik im Profifußball. Auf die komplexen Details der pantheonstechnischen Nachbesserungen Athens einzugehen, führt an dieser Stelle aber zu weit. Ein wichtiges literarisches Produkt des Aufarbeitungsprozesses ist übrigens das Werk von Aristophanes, in dem viel über die Götter gespottet wird, was kaum denkbar wäre ohne die Erfahrungen der Niederlage.
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Deine Beispiele, welche die ungebrochene Kraft von Kulten nach Zerstörungsakten belegen sollen, sind zwar interessant, können mich im gegebenen Zusammenhang aber nicht überzeugen.
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Der Brand des Artemistempels in Ephesos steht in keiner Entsprechung zur gravierenden militärischen Niederlage einer Polis mit dem weitreichenden Machtanspruch, wie Athen ihn hegte. Die Kontexte sind einfach zu verschieden. Als Stadt- und damit Schutzgöttin von Ephesos hatte Artemis (und der Rest des städtischen Pantheons) bereits "versagt", als die Stadt den Persern in die Hände fiel, die Ephesos zum Zeitpunkt des Brandes schon lange besetzt hielten. Auffällig ist Artemis´ im Vergleich zu anderen Göttern des städtischen Pantheons absolut herausragende Stellung bzw. die geringe Bedeutung dieser anderen Götter (Zeus, Apollo, Dionysos usw.), was mit dem langfristigen Verlust der städtischen Souveränität zusammenhängen, also gerade als Beleg für die von dir bezweifelte These gewertet werden könnte, dass eine militärische Niederlage zur Schwächung eines städtischen Pantheons bzw. des Glaubens daran führen kann. Der Artemiskult war zum fraglichen Zeitpunkt ein Muttergöttin-Kult in der Tradition der altorientalischen Magna-Mater-Kulte, dessen Intensität und Glaubwürdigkeit weder durch eine militärische Niederlage gegen die Perser noch später durch die Tat eines ruhmsüchtigen Brandstifters tangiert wurde, und zwar vermutlich deswegen, weil dieser Magna-Mater-Kult aus religiösem ´Urgestein´ bestand, d.h. in Zeiten wurzelte, als kriegerische Konflikte noch nicht gang und gäbe waren und damit auch keine göttliche Involvierung in und Verantwortung für solche Konflikte.
Man könnte die Situation also so sehen (das sind Hypothesen, wohlgemerkt):
(1) Das Pantheon von Ephesos wurde durch die persische Besetzung nachhaltig geschwächt (ersichtlich an der schwachen Stellung aller anderen Götter außer Artemis), und (2) die ungebrochen starke Stellung der Artemis verdankte sich ihrer Verwurzelung in religiösen Ideen aus Zeiten vor der Konventionalisierung von Kriegen (also vor der Bronzezeit), weswegen - in Ephesos - eine militärische Niederlage ihr Charisma nicht beeinträchtigen konnte.
In diesem Forum wird die These einer prähistorischen Dominanz von Muttergöttinnen stark tabuisiert (außer in meinen Beiträgen), was die objektive Situation in der Wissenschaftsszene allerdings nicht widerspiegelt, wo nicht nur patriarchatskritische ForscherInnen, sondern auch konventionelle Akademiker wie z.B. die Altorientalisten Prof. Selz, Prof. Steinkeller und Dr. Espak dem Muttergöttin-Kult die Wahrscheinlichkeit zusprechen, als primäres Phänomen am Beginn des religiösen Denkens zu stehen. Beispielhaft zitiere ich Espak, ohne aber das Thema hier weiter vertiefen zu wollen, erstens weil es das Threadthema überschreitet und zweitens weil das in diesem Forum erfahrungsgemaß zu nichts führt.
Espak, The God Enki in Sumerian Royal Ideology and Mythology, 215-16:
Several archaic societies and religions have the mother-earth cult as one of their central forces behind religion. It seems highly probable that in ancient Sumerian (or pre-Sumerian) societies the situation must have been similar – the Mother Earth was seen as a dominant figure. When the society became more complex, collective communal building projects were undertaken, and it is possible that conflicts between different tribal groups started to become more frequent; the emergence of the male element in religion seems to be a natural development.
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Auch die Zerstörungen des delphischen Apollotempels stehen in keinem analogen Verhältnis zur militärischen Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg. Das delphische Heiligtum war religiöser Mittelpunkt einer griechischen Amphiktyonie, d.h. es stand unter dem Schutz einer Pluralität von griechischen Staaten. Die Zerstörungen konnten also weder auf eine Schwäche des Apollo noch eines speziellen Pantheons zurückgeführt werden. Zudem war die Priesterschaft in Delphi politisch engagiert und wird in Krisenfällen dafür gesorgt haben, dass ihr Einfluss erhalten blieb. Bereits dadurch, dass die Priester begannen, die gestammelten Orakel der Pythia zu ´übersetzen´, d.h. zu interpretieren, wodurch das Orakel käuflich geworden war (was die Athener während des Krieges gegen Philipp von Mazedonien den Priestern vorwarfen), verlor Delphi an Glaubwürdigkeit. Als Sulla dann Delphi plündern ließ und das Orakelwesen durch philosophische Theorien obsolet zu werden begann, ging es mit der religiösen Bedeutung von Delphi, das in der Kaiserzeit nur noch für Touristen attraktiv war, endgültig bergab.
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Worin eine überzeugende Analogie zwischen "gescheiterten" christlichen Kreuzzügen und besagter Niederlage Athens bestehen soll, bleibt dein Geheimnis. Übrigens waren diese Feldzüge keineswegs rundum gescheitert, der erste und auch der letzte waren relativ ´erfolgreich´.
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Den Holocaust in Analogie zur athenischen Niederlage im Peloponnesischen Krieg zu setzen, ist gleichfalls ganz unberechtigt, und zwar wegen der völlig veränderten Glaubenssituation, die im 20. Jhd. in einen irreversibel säkularen Kontext eingebettet ist, und weil der Holocaust individuelle Juden in der Diaspora betraf, also kein geografisch klar definiertes Machtzentrum wie Athen mit seiner Population. Hinzu kommt, noch wichtiger, der gravierende Unterschied zwischen dem Jahweglauben und dem attischen Polytheismus. Auf die Zerstörung des 1. Tempels und Jerusalems hatten maßgebende israelitische Propagandisten wie Jesaja, Ezechiel und Deuterojesaja gefolgert, dass Jahwe sich vom israelitischen Volk ab- und seinen Feinden zugewendet habe, um Israel für mangelndes monotheistisches Engagement zu bestrafen. Erst aufgrund dieser ´Logik´ und der diese ´Logik´ begründenden Katastrophe bildete sich der endgültige jüdische Monotheismus überhaupt heraus. Die Katastrophe im 6. Jdh. BCE hatte das Judentum also erst erzeugt, d.h. den jüdischen Monotheismus begründet.
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Die Pest und der Dreißigjährige Krieg können gleichfalls nicht als Analogie herhalten. Du übersiehst auch hier, dass im monotheistischen Denken Katastrophen immer als ´von Gott gewollt´ interpretiert werden (können), also keine Schwächung der Religiosität notwendig implizieren. Allerdings hast du auch vergessen, auf das Erdbeben von Lissabon im 18. Jhd. hinzuweisen (vermutlich weil es deiner Argumentation widerspricht), das eine europaweite Glaubenskrise forciert hat, freilich in Zeiten, als durch die Aufklärer an den Pfeilern des Glaubens bereits gesägt wurde.
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Wie einflussreich und vital die Mysterienkulte wirklich waren, wäre auch zu hinterfragen. Zum einen waren sie mehr oder weniger exklusiv, standen sich insofern also selbst im Wege.
Falsch - sie waren nicht "exklusiv". Die Mysterien standen Kaisern, Bürgern (auch Frauen) und Sklaven offen. Nur im stark soldatisch frequentierten Mithras-Kult war Frauen der Zugang untersagt, welche aber alternativ im Kybele-Kult aufgenommen wurden, der mit dem Mithras-Kult organisatorisch vernetzt war.
Die Teilnahme am Mithras-Kult schloss die Teilnahme an anderen Kulten nicht aus.
Übrigens basieren die antiken Mysterienkulte abgesehen vom Mithras-Kult auf dem archaischen Muttergöttin-Glauben (Demeter-Mysterien in Eleusis, Kybele-Mysterien im RR/ in Ägypten: Isis-, Hathor-Mysterien), was natürlich kein Zufall ist.
Zum anderen waren sie teilweise auch eher eine Lifestyle-Angelegenheit; zumindest galt es als "hip", z. B. in die Eleusinischen Mysterien eingeweiht zu werden. Mit echter Religiosität (die mit dem klassischen Polytheismus rivalisieren konnte) hatte das nicht zwingend zu tun.
Auch hier liegst du daneben. Erstens ist der Begriff "hip" - wie so viele deiner anderen Argumente - völlig anachronistisch. Es ging ja nicht um den Einlass in einen angesagten Club. Die psychologischen und physischen Anforderungen, die an Initianden gestellt wurden, waren so gravierend, dass ein nur oberflächlich motivierter Adept das nicht mal im Ansatz bewältigt hätte. Manche Adepten drangen gar nicht in die höheren Grade der Einweihung vor, weil sie die obligatorischen Angstprüfungen - vermutlich unter halluzinogenem Einfluss - nicht bestanden. Über die konkreten Erfahrungen in Eleusis musste strengstes Stillschweigen bewahrt werden, ansonsten drohte staatlicherseits die Todesstrafe. Keiner, der nur "hip" sein wollte, hätte sich solchen Bedingungen ausgesetzt bzw. sie lange ertragen.
Dein Begriff von "echter Religiosität" ist zudem sehr fragwürdig. Dir scheint unbekannt zu sein, dass der Schamanismus, der mit den Mysterienpraktiken Griechenlands und Ägyptens unendlich viel mehr gemeinsam hat als mit konventionell-offizieller Kultpraxis, historisch am Beginn des religiösen Denkens stand (vermutlich eingebettet in einen Urmutterkult). Man könnte schamanistische bzw., in seiner historischen Nachfolge, die Muttergöttin-orientierte mysterienkultische Praxis, die ein starkes seelisches Engagement erforderte, dementsprechend als "primäre Religiosität" und die offiziellen formalen Kulte, die kein seelisches Engagement erforderten, als "sekundäre Religiosität" bezeichnen.
Hier stellst du die wirklichen Verhältnisse aus Unkenntnis also auf den Kopf.
Im Übrigen waren gerade Mysterienkulte oft eher formalistisch mit fixen (und für die meisten wohl eher unverständlichen) Ritualen, also das Gegenteil von "vital".
Auch damit zeigst du nur, wie uninformiert du über dieses Thema bist.
Zu (3): Man sollte schon zwischen ein paar "aufklärerischen" Philosophen und der breiten Masse des Volkes differenzieren.
In the long run hat die Philosophie selbstverständlich zur Schwächung des Polytheismus beigetragen, daran besteht kein Zweifel, und zwar auf verschiedene Weise: Sie prägte zunehmend das Denken der Eliten (und nicht nur von "ein paar Philosophen", wie du seltsamerweise behauptest), bereitete via Platonismus ein über das Judentum hinausgehendes monotheistisches Konzept vor und schuf auch andere Konzepte, an denen sich das Christentum fleißig bediente, z.B. durch Übernahme des Hypostasebegriffs, mit dem, wenn auch nur an der Oberfläche, ein gravierendes konzeptuelles Problem (Mono-Theismus trotz Göttlichkeit zweier Instanzen - Vater und Sohn) gelöst werden konnte. Philosophische Tricks dieser Art entzogen dem (auch griechischen) Polytheismus immer mehr Anhänger. Ohne die Aneignung griechischer Philosophie hätte das Christentum niemals zur Staatsreligion aufsteigen und den (auch griechischen) Polytheismus verdrängen können, letzteres leider auch mit den Mitteln brutaler Gewalt.