Das verdrängte Pogrom von Erfurt 1975

Ein Arbeitskollege von mir, der in der DDR, genauer gesagt in Sachsen, aufgewachsen ist, hat mir mal erklärt, dass damals alle neidisch auf die Algerier in der DDR warenoder weil sie mit Westgeld die tollsten Sachen kaufen konnten und damit angegeben hätten. Als Entschuldigung ist das natürlich nicht gemeint.

Mehrere rassistisch motivierte Gewalttaten in der DDR in späten 70ern und 80ern wurde von den Behörden mehr oder weniger unter den Teppich gekehrt, weil es in der DDR keinen Rassismus geben durfte.
Eine Reportage des mdr verwies auf insgesamt 700 Vorfälle mit insgesamt 12 Toten.
https://www.mdr.de/unternehmen/kommunikation/presseinformation-rassismus-ddr-100.html

Meiner Meinung nach lässt sich das regionale Phänomen Ausländerfeindlichkeit bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Das völkische Feindbild damals waren die "Sachsengänger", Saisonarbeiter aus Polen wurden als Bedrohung wahrgenommen. Ein anderes Schlagwort war die "Polonisierung" oder "Verpolung". Die Angst vor "Überfremdung" hat eine über 100 Jahre lange Tradition - länger zurück reicht nur noch die sorbisch-wendische Vergangenheit der Region.
 
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In der DDR durfte es keinen Rassismus geben und was den meisten ideologischen Diktaturen eigen ist, keine Verbrechen mehr, da der Ideologie zufolge ja das System derart perfekt ist, dass die Notwendigkeit Verbrechen zu begehen nicht mehr gegeben.
 
Ich habe es gelesen und finde auch bei Tante WIKI etwas dazu. Z.B.: (Ausschreitungen in Erfurt 1975 – Wikipedia ).

Danke fürs Einstellen.

Mus ja dann – wie man so sagt – direkt vor meiner Haustür passiert sein.

Das stimmt da war etwas, aber so dramatisch wie es in den Bericht von „Deutschland Kultur“ steht haben wir dies damals nicht wahrgenommen.
Habe meine Frau gefragt, aber auch die kann sich da nicht so recht erinnern.
Meine Söhne waren da noch zu jung.

Jedenfalls, die Polizei und auch die Stasi waren in der Spur.

Aber sehr diskret!

1975 hat es sich wohl vor allem um Algerier gehandelt. Diese waren vor allem im Kombinat Robotron zur Ausbildung.

Algerier – das war die Zeit der „sozialistischen Volksrepublik“. In Gedächtnis sind mir da vor allem Boumedienne (Verteidigungsminister, Dienstgrad Oberst) und Ben Bella (Staatspräsident).

Ich glaube die Ungarn – an die kann ich mich überhaupt nicht erinnern – müssten in der Bekleidungsindustrie gearbeitet haben.

Später, so ab 1983 hatten wir im Betonwerk meines Kombinats Angolaner, Mosambikaner, Vietnamesen.

Was die Algerier anbelangt. Da machte in der Stadt die Runde, die vergriffen sich an junge, sehr junge Mädels. Das war allerdings Stadtgespräch!

In meinen damaligen Bekanntenkreis war eine junge Frau die heiratete einen Algerier. Sie zog nach Algerien. Wie ich später hörte, hat sie das wohl bereut.
 
Meiner Meinung nach lässt sich das regionale Phänomen Ausländerfeindlichkeit bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Das völkische Feindbild damals waren die "Sachsengänger", Saisonarbeiter aus Polen wurden als Bedrohung wahrgenommen. Ein anderes Schlagwort war die "Polonisierung" oder "Verpolung". Die Angst vor "Überfremdung" hat eine über 100 Jahre lange Tradition - länger zurück reicht nur noch die sorbisch-wendische Vergangenheit der Region.

Bei den "Sachsengängern" handelte es sich um eine Binnenwanderung aus den östlichen preußischen Gebieten in die westlichen industrialisierten Gebiete, wie z.B. Sachsen und den Ruhrpott, seit Mitte/Ende des 19. Jh. Das schlimme im Eingangspost beschriebene Ereignis in den 1970er Jahren in Erfurt damit in Zusammenhang zu bringen, ist m.E nicht angebracht. Auch die Sorben haben damit nichts zu tun.

Deutsches Historisches Museum Berlin - Zuwanderungsland Deutschland - Migrationen 1500 - 2005
 
In der DDR durfte es keinen Rassismus geben und was den meisten ideologischen Diktaturen eigen ist, keine Verbrechen mehr, da der Ideologie zufolge ja das System derart perfekt ist, dass die Notwendigkeit Verbrechen zu begehen nicht mehr gegeben.

Die DDR hat sich selbst als sozialisitisch definiert. Der Sozialismus war aber nach marxisitisch-leninistischer Definition alles andere als perfekt, sondern nur ein Übergangsstadium vom Kapitalismus zum Kommunismus. Wenn die DDR ihr System als perfekt angesehen hätte, wäre ja auch eine Polizei oder gar die Stasi überflüssig gewesen. Man war sich also einer gewissen Imperfektion bewusst, die sich aber natürlich möglichst nicht rumsprechen sollte.
 
Die DDR hat sich selbst als sozialisitisch definiert. Der Sozialismus war aber nach marxistisch-leninistischer Definition alles andere als perfekt, sondern nur ein Übergangsstadium vom Kapitalismus zum Kommunismus.
Das ist richtig, allerdings ging in der Rhetorik Ulbrichts und Honeckers das alles ziemlich durcheinander.
 
Die DDR hat sich selbst als sozialisitisch definiert. Der Sozialismus war aber nach marxisitisch-leninistischer Definition alles andere als perfekt, sondern nur ein Übergangsstadium vom Kapitalismus zum Kommunismus. Wenn die DDR ihr System als perfekt angesehen hätte, wäre ja auch eine Polizei oder gar die Stasi überflüssig gewesen. Man war sich also einer gewissen Imperfektion bewusst, die sich aber natürlich möglichst nicht rumsprechen sollte.



Richtig! Übergangsphase.

Genauso steht es bei Karl Marx. Siehe dazu Abschnitt IV/28 bei „Kritik des Gothaer Programms“.

Gotha/Thüringen -> Vereinigungsparteitag ADAV und SDAP zur SAP am 22.06 – 27.05.1875.

Die kommunistischen Führer hatten es aber allesamt sehr eilig mit dem Kommunismus. Meister „Matz“ war da der Russe L.I. der gern mit Erich sich im Jagdhaus Hubertusstock/Schorfheide traf und dort jagte.

Gothaer Programm, genauer: „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ ...
Ein Brief an den Braunschweiger Wilhelm Bracke (1842 – 1880).
 
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Auch wenn Euch die Ideologie der DDR nicht gefällt, dennoch sollte man auch ihr, wie jedem anderen Forschungsgegenstand, doch einen ausreichenden Respekt gegenüber aufbringen.

Und nicht - weil es ideologisch opportun erscheint - Dönikes, und Tatsachenbehauptungen vom Hörensagen zur Grundlage der Bewertung eines eventuellen rassistischen Weltbildes von Teilen der Gesellschaft in der DDR machen.

Das Thema ist wichtig und wenn man sich - oberflächlich und schnell - die Literatur ansieht, ist es eher "übersehen" worden. Im "DDR-Handbuch" des Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen gibt es beispielweise noch nicht einmal als Verweis den Begriff "Fremdenfeindlichkeit", aber immerhin "Menschenhandel".

Und die "einflussreichen" Publikationen von Stefan Wolle thematisieren es auch nicht.

Man wird präzise bestimmen müssen, aus welchen ideologischen, sozialpsychologischen oder gruppendynamischen Quellen sich die damalige Aggression gespeist hat. Und für die BRD wurde es ja auch bereits versucht.

https://www.geschichtsforum.de/them...ellungen-in-der-deutschen-gesellschaft.35073/
 
Auch wenn Euch die Ideologie der DDR nicht gefällt, dennoch sollte man auch ihr, wie jedem anderen Forschungsgegenstand, doch einen ausreichenden Respekt gegenüber aufbringen.

Und nicht - weil es ideologisch opportun erscheint - Dönikes, und Tatsachenbehauptungen vom Hörensagen zur Grundlage der Bewertung eines eventuellen rassistischen Weltbildes von Teilen der Gesellschaft in der DDR machen.

Das Thema ist wichtig und wenn man sich - oberflächlich und schnell - die Literatur ansieht, ist es eher "übersehen" worden. Im "DDR-Handbuch" des Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen gibt es beispielweise noch nicht einmal als Verweis den Begriff "Fremdenfeindlichkeit", aber immerhin "Menschenhandel".

Und die "einflussreichen" Publikationen von Stefan Wolle thematisieren es auch nicht.

Man wird präzise bestimmen müssen, aus welchen ideologischen, sozialpsychologischen oder gruppendynamischen Quellen sich die damalige Aggression gespeist hat. Und für die BRD wurde es ja auch bereits versucht.

https://www.geschichtsforum.de/them...ellungen-in-der-deutschen-gesellschaft.35073/
Du behauptest also, es gab keine fremdenfeindlichen Angriffe in der DDR? Da habe ich dich bestimmt falsch verstanden.
Oder falls du eher meinst, dass das bisher in der Wissenschaft eher keine Rolle spielte, ja, das scheint wirklich so. Inwieweit das DDR-Handbuch hier weiterhilft, verstehe ich nicht so richtig.
 
Du behauptest also, es gab keine fremdenfeindlichen Angriffe in der DDR? Da habe ich dich bestimmt falsch verstanden.
Ja, das hast Du bestimmt falsch verstanden. So eine Behauptung lese ich hier nicht.

Inwieweit das DDR-Handbuch hier weiterhilft, verstehe ich nicht so richtig.
Anscheinend hilft es ja gerade nicht weiter - obwohl Handbücher normalerweise dazu da sind, dass sie weiterhelfen...
 
Du behauptest also, es gab keine fremdenfeindlichen Angriffe in der DDR? Da habe ich dich bestimmt falsch verstanden.
Oder falls du eher meinst, dass das bisher in der Wissenschaft eher keine Rolle spielte, ja, das scheint wirklich so.

Waibel (2014) kommt zu folgendem Ergebnis: "Über 8600 neo-nazistische, rassistische und antisemitische Propaganda- und Gewalttaten sind für die DDR belegt, bei denen es tausende Verletzte und mindestens zehn Tote gab. ......Rassismus, Neop-Nazismus und Antisemitismus waren Bestandteile des öffentlichen Lebens und sie wurden von der SED konsequent geheim gehalten. Die Ursachen dafür wurden geleugnet und verdrängt....oder es wurden die Opfer selbst dafür verantwortlich gemacht."

Das Problem, so Waibel war, dass der "Anti-Faschismus" keine Voraussetzung schuf, um dieses gesellschaftliche Phänomen zu bekämpfen. Es gab beispielsweise keine "politisch motivierte - kleine - Kulturrevolution wie im Westen, bei der die "68er" in Kombination mit einer "Hippi-Underground-Gegenkultur" tradierte NS-Milieus in Frage gestellt haben. Und parallel zu "Wir wollen mehr Demokratie" wagen auftrat.

Und so die Voraussetzung für einen Wertewandel sorgten, der als Mehrheitssicht die politische Kultur in der BRD nachhaltig beeinflußt hat.

Waibel, Harry (2014): Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR. Frankfurt am Main: P. Lang.
Waibel, Harry (2017): Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR. Stuttgart: Schmetterling Verlag.
 
Das Problem, so Waibel war, dass der "Anti-Faschismus" keine Voraussetzung schuf, um dieses gesellschaftliche Phänomen zu bekämpfen. Es gab beispielsweise keine "politisch motivierte - kleine - Kulturrevolution wie im Westen, bei der die "68er" in Kombination mit einer "Hippi-Underground-Gegenkultur" tradierte NS-Milieus in Frage gestellt haben. Und parallel zu "Wir wollen mehr Demokratie" wagen auftrat.

Und so die Voraussetzung für einen Wertewandel sorgten, der als Mehrheitssicht die politische Kultur in der BRD nachhaltig beeinflußt hat.

Dass langfristige, umfassend autoritäre, diktatorische Staatsstrukturen in Verbindung mit Homogenisierung/ kultureller, wirtschaftlicher wie politischer Abschottung/umfassenden vorgegebenen sozialen Absicherungen, die ebenso der Kontrolle dienen konnten /praktisch nicht vorhandener Ein- oder Zuwanderung fremdenfeindliche Einstellungen fördern können, ist nachvollziehbar. Dass ein sich als sozialistisch verstehender diktatorischer Staat zudem vermehrt Gegnerschaft von 'rechts' teilweise selbst induziert, halte ich für plausibel, gerade wenn es um Jugendliche oder junge Erwachsene geht.

Eine nicht ausreichend aufgearbeitet NS-Vergangenheit und -Tradition scheint mir dabei nur eine weitere, womöglich problematische Konstante zu sein.

Deswegen greift es auch zu kurz, einerseits Weibel hier nur mit den Segnungen der 68er, die Du sehr gerne und vielfach anbringst, in Zusammenhang zu bringen, andererseits die 68er als den entscheidenden Unterschied zu DDR-Gesellschaft zu markieren, was fremdenfeindliche Potentiale angeht, denn darum ging es ja bei diesem Faden.

Die Zahlen Zuwanderungen/Zugewanderte BRD-DDR sind ziemlich aussagekräftig, nimmt man beispielsweise das Jahr 1970. Die weltwirtschaftliche Verzahnung und Prosperität, die kulturelle 'Verwestlichung', Liberalisierung in den 1960er Jahren, man denke nur an die Rock- und Pop-Musik-Bewegung von UK, den USA her, sind nicht die Folge einer deutschen, besonders 'linken' 1968er Bewegung, es war ein westlich-globales Phänomen, bei dem die 1968er-Bewegung ein Teil davon war, und mehrheitlich zu einer linksliberalen, in der Masse wohl eher sogar unpolitischen Pluralisierung führte.
 
Eine nicht ausreichend aufgearbeitet NS-Vergangenheit und -Tradition scheint mir dabei nur eine weitere, womöglich problematische Konstante zu sein.
Was sich in dem bemerkenswerten Begriff "Antifaschistischer Schutzwall" ausdrückte.
Eine frechere Verharmlosung der NS-Zeit ist schwer vorstellbar.
 
Eine nicht ausreichend aufgearbeitet NS-Vergangenheit und -Tradition scheint mir dabei nur eine weitere, womöglich problematische Konstante zu sein.
In meinen Augen handelt es sich um das zentrale Problem.

Die Wiederaufbaubestrebungen beider deutscher Staaten und der heraufdräuende Kalte Krieg rechtfertigten ihnen die Eingliederung ehemaliger Nazi-Funktionäre in den Staatsapparat und ließen wenig Zeit für eine ernstliche Aufarbeitung der eigenen Geschichte, die im Folgenden natürlich noch von den einstmaligen braunen Honoratioren hintertrieben wurde.

Doch während in Westdeutschland an den Wohnzimmertischen der Biedermeier Wiedereinzug hielt und das Nazi-Erbe vor allem aus dem jämmerlichen Grund verdrängt wurde, dass der Gedanke an Dachau den Genuss des Wirtschaftswunders trübte, hatte die SED in der DDR ein viel grundlegenderes Problem: Sie musste die Legende der vom Volke ausgegangenen moralischen Erneuerungsbewegung aufrechterhalten.

Jegliche „faschistische Wiederbetätigung“ kam nicht nur einer inhaltlichen Ablehnung der DDR gleich, sondern karikierte auch den universellen Machtanspruch der Partei. Insofern verwundert es nicht, wie vergleichsweise ungenutzt das Potential des Vorwurfs der Wiederbetätigung zum Zwecke politischer Repression blieb, jedenfalls im Großen und Ganzen.

Den fortwährenden Lockungen des jenseits der Grenze agierenden Klassenfeindes mochte der ungenügend ideologisch geschulte Genosse ja erliegen; geschenkt. Aber Hitler war besiegt! Der Anspruch darauf, das neue Deutschland zu verkörpern, konnte nicht auf einem von alten Steinen durchsetzten Fundament gründen.

Man mag mir jetzt die 68er entgegenhalten, aber ich würde dennoch behaupten, dass die Bonner Republik durch Alt- und Neo-Nazis nicht ganz so arg zu erschüttern war wie die DDR. Dem Westen war dieses Erbe peinlich, es fehlte die erst später (vielleicht sogar erst nach 1990) erstandene Auffassung, dass faschistisches Gedankengut nicht bloß eine Kampfansage an den freiheitlichen Staat unter vielen darstellte, sondern vielmehr die zentrale.

Aus all dem mag folgen, dass z.B. fremdenfeindliche Denkmuster in der DDR in gewisser Weise einen leichteren Stand hatten als im Westen; wo es nämlich keine Faschisten gab, waren faschistische Denkmuster von ihrem wichtigsten Stigma befreit.

Mir scheint, dass die Gesellschaft auf diese Begriffspaare angewiesen ist, um sich überhaupt zu rühren. Als bspw. Oskar Lafontaine Ende der Nullerjahre etwas von Ausländern erzählte, die Deutschen den Job wegnähmen, kümmerte das so lange niemanden, bis der Vorwurf erhoben war, er fische am "rechten Rand" nach Wählerstimmen.

Sicherlich einer Überlegung wert ist noch der Gedanke, dass die breite Unterstützung, die der Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft fand, vor allem aus preußisch-protestantischer Obrigkeitshörigkeit und Illiberalität erwuchs; und dieses Erbe war (allein geographisch) eher in der DDR konzentriert als im Westen, wo die stärksten Wurzeln der Bewegung (z.B. München) doch mehr vom Radikalismus der Neophyten kündeten als jahrhundertealten Denkmustern, und somit leichter zu kappen waren.
 
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