Eine nicht ausreichend aufgearbeitet NS-Vergangenheit und -Tradition scheint mir dabei nur eine weitere, womöglich problematische Konstante zu sein.
In meinen Augen handelt es sich um das zentrale Problem.
Die Wiederaufbaubestrebungen beider deutscher Staaten und der heraufdräuende Kalte Krieg rechtfertigten ihnen die Eingliederung ehemaliger Nazi-Funktionäre in den Staatsapparat und ließen wenig Zeit für eine ernstliche Aufarbeitung der eigenen Geschichte, die im Folgenden natürlich noch von den einstmaligen braunen Honoratioren hintertrieben wurde.
Doch während in Westdeutschland an den Wohnzimmertischen der Biedermeier Wiedereinzug hielt und das Nazi-Erbe vor allem aus dem jämmerlichen Grund verdrängt wurde, dass der Gedanke an Dachau den Genuss des Wirtschaftswunders trübte, hatte die SED in der DDR ein viel grundlegenderes Problem: Sie musste die Legende der vom Volke ausgegangenen moralischen Erneuerungsbewegung aufrechterhalten.
Jegliche „faschistische Wiederbetätigung“ kam nicht nur einer inhaltlichen Ablehnung der DDR gleich, sondern karikierte auch den universellen Machtanspruch der Partei. Insofern verwundert es nicht, wie vergleichsweise ungenutzt das Potential des Vorwurfs der Wiederbetätigung zum Zwecke politischer Repression blieb, jedenfalls im Großen und Ganzen.
Den fortwährenden Lockungen des jenseits der Grenze agierenden Klassenfeindes mochte der ungenügend ideologisch geschulte Genosse ja erliegen; geschenkt. Aber Hitler war besiegt! Der Anspruch darauf, das neue Deutschland zu verkörpern, konnte nicht auf einem von alten Steinen durchsetzten Fundament gründen.
Man mag mir jetzt die 68er entgegenhalten, aber ich würde dennoch behaupten, dass die Bonner Republik durch Alt- und Neo-Nazis nicht ganz so arg zu erschüttern war wie die DDR. Dem Westen war dieses Erbe peinlich, es fehlte die erst später (vielleicht sogar erst nach 1990) erstandene Auffassung, dass faschistisches Gedankengut nicht bloß eine Kampfansage an den freiheitlichen Staat unter vielen darstellte, sondern vielmehr die
zentrale.
Aus all dem mag folgen, dass z.B. fremdenfeindliche Denkmuster in der DDR in gewisser Weise einen leichteren Stand hatten als im Westen; wo es nämlich keine Faschisten gab, waren faschistische Denkmuster von ihrem wichtigsten Stigma befreit.
Mir scheint, dass die Gesellschaft auf diese Begriffspaare angewiesen ist, um sich überhaupt zu rühren. Als bspw. Oskar Lafontaine Ende der Nullerjahre etwas von Ausländern erzählte, die Deutschen den Job wegnähmen, kümmerte das so lange niemanden, bis der Vorwurf erhoben war, er fische am "rechten Rand" nach Wählerstimmen.
Sicherlich einer Überlegung wert ist noch der Gedanke, dass die breite Unterstützung, die der Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft fand, vor allem aus preußisch-protestantischer Obrigkeitshörigkeit und Illiberalität erwuchs; und dieses Erbe war (allein geographisch) eher in der DDR konzentriert als im Westen, wo die stärksten Wurzeln der Bewegung (z.B. München) doch mehr vom Radikalismus der Neophyten kündeten als jahrhundertealten Denkmustern, und somit leichter zu kappen waren.