Gab es das "Pogrom" in Erfurt 1974?

E

Elli

Gast
Sehr geehrtes Forum,

ich schreibe gerade eine Facharbeit im Zuge meiner 5.Abikomponente. Zum Thema "Zwischen Willkommen und Ablehnung" berichte ich über Arbeitsmigration in BRD und DDR. Bezüglich Ausländerfeindlichkeit in der DDR-Bevölkerung traf ich hier auf die genannten Ausschreitungen in Erfurt.

- Pogromstimmung in Erfurt: "Gebt sie uns heraus, wir wollen sie hängen" | MDR.DE
- https://www.deutschlandfunkkultur.de/rassismus-in-der-ddr-das-verdraengte-pogrom-in-erfurt- 1975.1001.de.html?dram:article_id=482069
- Pogrom in der DDR: Als DDR-Bürger Jagd auf Algerier machten - WELT

Da sie aber auch sonst in der Sekundärliteratur nicht erwähnt werden und meinem Umfeld sonst vollkommen unbekannt sind, wollte ich fragen, ob Erfurt 1974 sonst hier jemandem bekannt ist? Oder jemand die Glaubhaftigkeit der Quelle einschätzen könnte.

Vielen Dank für eure Hilfe
 
Danke für die schnellen Antworten! Ja das war wohl ein Zahlendreher, ich meine die Ereignisse 1975. Vielen Dank für den Hinweis auf den Thread, dort wird aber leider nicht drauf eingegangen wie glaubwürdig die Quellen sind. Sie scheinen nur auf Untersuchungen eines Historikers, Harry Waibel , zu basieren. Zu ihm hab ich jedoch mehrere Artikel gefunden wo stünde, dass er "Geschichte umschreibt" . Was meint ihr dazu? Ist 1975 dennoch so passiert?
 
Nicht nur Harry Weibel schreibt über das Pogrom von Erfurt. Es gibt einen wiki-Artikel dazu, in dem mehrere Quellen verlinkt sind, u.a. auch der mdr hat darüber berichtet.
Ausschreitungen in Erfurt 1975 – Wikipedia
Wobei der mdr auf den Forschungen Waibels aufgesetzt hat. Kritisiert wird Waibel in der Berliner Zeitung bei H|soz|kult und der Rosa Luxemburg-Stiftung, es wiederholt sich der Vorwurf des unsauberen Arbeitens bzw. der Nutzung dubioser Literatur (Wikipedia, Wissen.de). Bei der Luxemburg-Stiftung mag man an Kritik aus der Ecke der beißenden oder bellenden getroffenen Hunde denken, aber bei h|soz|kult kann man dieselben Kritiken i.d.R. schon ernster nehmen.
Die relevanten Artikel der BZ liegen hinter einer Paywall, bei der Luxemburg-Stiftung und h|soz|kult werden weniger (neben seinem unsauberen Arbeiten) seine Ergebnisse als seine Bewertungen kritisiert.
 
Die relevanten Artikel der BZ liegen hinter einer Paywall, bei der Luxemburg-Stiftung und h|soz|kult werden weniger (neben seinem unsauberen Arbeiten) seine Ergebnisse als seine Bewertungen kritisiert.
Wenn ich das richtig verstanden habe, wird also auch von kritischer Seite nicht in Zweifel gezogen, dass es 1975 in Erfurt Ausschreitungen gab, sondern es geht um methodische Mängel und Waibels Bewertung des Ereignisses wird kritisiert.
 
Ich wohne seit 1967 in Erfurt.
Nach Beendigung meines Maschinenbaustudiums hat es mich nach Thüringen/Erfurt verschlagen.

Was ich seinerzeit im ähnlichen Thread geschrieben habe könnte ich weiderholen.
Vorrang ging es da um Algerier und die dachten, unsere Mädels sind so eine Art Freiwild nach dem Motto jetzt komme ich und die Mädels haben die Beine breitzumachen.
So wie ich das weiß ging es in aller Regel auch noch um minderjährige Mädels.

Von einem Pogrom würde ich aber nicht sprechen.
Unter einen Pogrom verstehe ich was anderes.

Unruhe entstand in Teilen der Erfurter, so würde ich das nennen.
Die Behörden reagierten allerdings besser, schneller und nachhaltiger als heutzutage.

Einige wurden zu Herrn Houari Boumedienne zurück geschickt, und der konnte gemäß den Vertrag die Rücknahme dieser Heißsporns nicht verweigern.

Nachtrag:

Pogrome in dem Sinne das sich irgendwelche Menschen zusammenrotten und auf irgendwelche Menschen reinschlagen gleich welchen Motiv.

Unruhen ja, weil man sich in der Bevölkerung das von diesen >Vertragsarbeitern< nicht gefallen lies was die dachten mit Mädels anstellen zu können/zu dürfen.
 
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und meinem Umfeld sonst vollkommen unbekannt
Ganz unabhängig von der Frage, ob wahr oder falsch: In einem Staat, in dem die Presse über gewisse Vorfälle nicht berichtet, weil z.B. Rechtsradikalismus/-extremismus tabuisiert wird (Krenz widerspricht der Tabuisierung des Rechtsradikalismus/-extremismus in der DDR, aber der hat gute Gründe, dem zu widersprechen) bekommt man so etwas natürlich nicht mit, wenn man nicht Täter, Opfer oder Augenzeuge war.
 
1. Die Frage der Ursachen für einen Rassismus / Antisemitismus in der DDR ist ein zentraler Punkt, der zunächst zu klären wäre.

Und deutlich wird aus dem Beitrag von Kellerhoff, dass sich schnell latente rassistische Stimmungen von "Gerüchten" mobilisieren lassen.

Pogrom in der DDR: Als DDR-Bürger Jagd auf Algerier machten - WELT

2. Die Frage, welche Strategie die DDR gegen die politische Seite, also den sich rechtsextremistisch organisierenden "DDR-Bürger", verfolgte, wäre die nächste Frage. Um dann die Frage nach den Ursachen des Scheiterns zu stellen.

3. Das ganze methodisch in seinen Quellen zu hinterfragen ist sicherlich hilfreich, allerdings frei von irgendwelchen ideologischen Vorurteilen.

4. In diesem Kontext ist es angemessen, sich über den politischen Standort von Waibel klar zu werden. Waibel zeigt dabei einen derben, teils an die Grenzen zur "Stigmatisierung" gehenden, verbalen Umgang mit der DDR und ihren Bürgern. "Rassisten und Anti-Semiten waren Teil einer sozialen Realität, die ich als Bestandteil der dunklen Seite der DDR bezeichnen möchte und sie bildeten die Kerne einer ansonsten amorph strukturierten reaktionären Masse, die den sozialen und politischen Verhältnissen kritisch gegenüber standen." (Einleitung in: Der gescheiterte Anti-Faschismus....)

Zur "dunklen Seite" und zur "reaktionären Masse" mag sich jeder sein Teil denken, bei jemandem, der sich offensichtlich als verspäteter "Kalter Krieger" inszeniert.

5. Das zentrale Problem, aus meiner Sicht, bei Waibel ist, dass er der DDR aufgrund ihrer "Faschismustheorie" ein komplettes Versagen bei der Bekämpfung der Ursachen des manifesten oder latenten Neo-Nationalsozialismus bescheinigt.

Das Urteil ist vermutlich zutreffend. Allerdings leistet er im Rahmen seiner Analyse zwei Dinge nicht. 1. Die Ursachen für die Affinität zu rechten Ideologien in der DDR schlüssig zu erklären und sich mit dem NS-System als ein wichtiger historischer Hintergrund zu beschäftigen und 2. zu erklären, warum nach der Vereinigung es einem demokratischen Staatswesen nicht gelungen ist, diese negativen Entwicklungen effektiver in den Griff zu bekommen. Aus der Sicht von Waibel hätte das eigentlich problemlos geschafft werden können, da in dem post-Wende-Deutschland die "DDR-Faschismustheorie" nicht mehr wirkungsmächtig war. Und die war ja, so Waibel, eigentlich an allem Schuld.
 
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Von einem Pogrom würde ich aber nicht sprechen.
Unter einen Pogrom verstehe ich was anderes.

Ich gehe davon aus, dass du bei Pogrom an die Novemberpogrome denkst.

Nun unter Pogrom versteht man noch mehr. Das Wort selber kommt aus dem Russischen und bedeutet eine gewalttätige Ausschreitung gegen bestimmte Minderheiten.

Hier noch ein Zitat aus dem Wiki-Artikel:

Der oder das Pogrom steht für die gewaltsame Ausschreitung gegen Menschen, die entweder einer abgrenzbaren gesellschaftlichen Gruppe angehören oder aber von den Tätern einer realen bzw. vermeintlichen gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet werden. Im Regelfall handelt es sich dabei um ethnische, politische oder religiöse Minderheiten, z. B. Mitglieder einer bestimmten Partei oder Religionsgemeinschaft.

Früher verwendete man den Begriff nur, um durch Antisemitismus ausgelöste Ausschreitungen gegen Juden (Judenpogrome) zu benennen; der Sprachgebrauch hat sich seither aber ausgeweitet.

https://de.wikipedia.org/wiki/Pogrom
 
Zu den Vorfällen von Erfurt eine Aussage von Nassima Bougherara, Germanistin an der Universität Stendhal-Grenoble 3, damals Dolmetscherin für die algerischen Gastarbeiter von 1974-1975 Seite 143 Fussnote

Nassima Bougherara (2011): Die Rolle von Betreuern und Dolmetschern aus den Herkunftsländern, in: Almut Zwengel (Hg.): Die „Gastarbeiter“ der DDR. Politischer Kontext und Lebenswelt. Berlin/Münster, S. 137-152.
 
Man sollte Neonazis und Rechtsextremismus in der DDR immer im Zusammenhang damit sehen, dass die DDR als antifaschistischer Staat z.T. von Verfolgten des NS-Regimes gegründet wurde und der verordnete Antifaschismus jeden DDR-Bürger vom Aufstehen bis zum Zubettgehen begleitete. D.h. Motivation für das Abdriften in dieses Lager konnte meiner Erfahrung nach als Kind/Jugendlicher Ende der 80er bei bestimmten Leuten aus Maximalopposition zum herrschenden System geschehen. Auf der anderen Seite habe ich auch Erinnerungen an maximale Härte des Staates gegenüber rechtsextremen Umtrieben.
 
@Naresuan: Ein interessanter Hinweis. Ab S. 155 führt er direkt auch auf das Thema Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit
Die 'Gastarbeiter' der DDR

Und auch hier zur allgemeinen Einschätzung des Rechtsextremismus in der DDR
Rechtsextremismus - ein ostdeutsches Phänomen? | APuZ

Und zur Arbeitsmigration in die DDR
Arbeiten im Bruderland. Arbeitsmigranten in der DDR und ihr Zusammenleben mit der deutschen Bevölkerung | bpb

Entsprechende Forschung werden geleistet.
Migration in die DDR (und BRD) - Interdependente Machtverhältnisse sichtbar machen — Migration in die DDR (und BRD)

Und eine Diss zu den möglichen Folgen der politischen Sozialisation in der DDR für Personen, die "anfällig" sind gegenüber autoritärem Denken.
https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/17282/gorzolka.pdf?sequence=1&isAllowed=y

in diesem Sinne formuliert Gorzala (S.11)
"Rechtsextremismus ist kein Jugendphänomen, sondern in allen Bevölkerungsschichten vertreten. Davor warnte bereits Bernd Wagener. In seiner Rechtsextremismusstudie fand er heraus, dass in vielen ostdeutschen Städten eine „kulturelle Hegemonie rechter Jugendlicher“ besteht. In der restlichen Bevölkerung sowie bei den Gemeindevertretern herrscht Hilflosigkeit, Toleranz und oftmals auch Akzeptanz. Eine demokratische Gegenwehr bleibt in der Regel aus. Die Realität wird oft aus Angst vor negativen Reaktionen der Presse und/oder anderer Gemeinden - als aus Imagegründen - geleugnet. (Wagner: 1998a, S.23)"

Und man muss aber auch deutlich machen, dass es nur für Teile der Bevölkerung zutrifft. Und dass es ähnliche Zustände auch in den "alten Bundesländern" gab und gibt, wie beispielsweise im Ruhrgebiet und dass in den siebziger Jahren die NPD in einzelnen Gebieten veritable Wahlergebnisse verzeichnen konnte.
 
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Wenn man den Begriff „Pogrom“ verwendet sollte man schon wissen, dass dies im deutschen Volk auch sicher anders wo mit den Ereignissen der Kristallnacht im Gedächtnis ist und deshalb damit oft auch verbunden wird.

Man sollte deshalb mit solchen Begriffen sehr verantwortungsbewusst umgehen. Jedenfalls ist die m. M.

Und m. W. solche Art Ereignisse hatten wir bisher, und ich hoffe es bleibt auch so, nach 1945 weder in der Bundesrepublik noch in der DDR.

Ich selbst hatte keinen Kontakt zu den Vertragsarbeitern in Erfurt.
Diese waren ja auch nur m.W. zur Ausbildung in der DDR. In Mitteldeutschland hatte ich durch meinem Vater mal einen direkten Kontakt zu einem Ingenieur.

Ich ordnete dies damals in den Höhenflug der Gewaltigen ein.

Man glaubte ja damals der Sozialismus sowjetischer Prägung breite sich immer weiter auf dem afrikanischen Kontinent aus.

Was war das damals für ein Rummel/Höhenflug als G.-SEKR > W.U.< 1965 eingeladen wurde von >Gamal Abdel Nasser<. Und teuer war’s auch. Die DDR wurde Lieferant für Zement des Staudamms den die Russen bauten.

Dann hatten wir >Ben Bella< 1965 in Algerien und dann Libyen >Muammar al Gaddafi< so ende 1969.

Dann kam mal die Zeit von >Erichs Afrikakorps< und die Zeit kubanischer Freiwilliger. Und, und, und.

Und dann noch...

H. Axen (AM der DDR) wurde mal gefragt was er denn von Angola halte?

Der Hermann hatte wohl da was falsch verstanden und antwortete: „An Cola (gola) könnte ich mich dumm und dämlich saufen.“
 
Danke @Naresuan Somit haben wir mit Nassima Bougherara eine weitere Quelle, ganz unabhängig von Waibel, die die xenophoben Ausschreitungen in Erfurt 1975 belegt. Sie erwähnt explizit "viele Verletzte".

@Ralf.M Die "Ausschreitungen" von Hoyerswerda ("Im Jahr 2006 verkündete der damalige Oberbürgermeister Horst-Dieter Brähmig als Reaktion auf eine antirassistische Demonstration zum 15. Jahrestag des Pogroms von Hoyerswerda:...") werden beispielsweise ebenfalls Pogrom genannt.
Edit: In Rostock-Lichtenhagen trifft das auch zu "Die Übergriffe in Lichtenhagen werden auch als Pogrom bezeichnet".
 
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@Naresuan:
https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/17282/gorzolka.pdf?sequence=1&isAllowed=y

In seiner Rechtsextremismusstudie fand er heraus, dass in vielen ostdeutschen Städten eine „kulturelle Hegemonie rechter Jugendlicher“ besteht. In der restlichen Bevölkerung sowie bei den Gemeindevertretern herrscht Hilflosigkeit, Toleranz und oftmals auch Akzeptanz. Eine demokratische Gegenwehr bleibt in der Regel aus. Die Realität wird oft aus Angst vor negativen Reaktionen der Presse und/oder anderer Gemeinden - als aus Imagegründen - geleugnet. (Wagner: 1998a, S.23)"

Bei aller Sympathie sollte man doch nie vergessen, in welcher Funktion der genannte Herr W. in der DDR tätig war.
 
Bei aller Sympathie sollte man doch nie vergessen, in welcher Funktion der genannte Herr W. in der DDR tätig war.
Wagner schrieb einen Aufsatz für das "Zentrum für Demokratische Kultur", dessen Geschäftsführer der ehemalige Kriminalist ist. Als Anlaufstelle für Aussteiger aus dem Rechtsextremismus wurde er vom ehemaligen Bundespräsidenten Gauck 2014 mit dem Verdienstkreuz ausgezeichnet. Dieses Zentrum wurde erst 2003 - bzw. 1997 - gegründet und war somit nicht in der DDR tätig. Ist es die Organisationform einer gGmbH, die dein Mißfallen erregt?
 
Nein. Es gab mal einen hauptamtlichen MFS-Mitarbeiter dieses Namens, der offen im TV erklärte, dass er wegen Verletzung des Geheimnisschutzes in Ungnade gefallen wäre. Ich halte es, sollte er identisch sein, nicht für gerade schicklich, Informationen zu empfehlen, die vermutlich schon im Auftrag des Herrn Mielke gesammelt wurden.
 
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