Die Gründe des Wahnsinns römischer Kaiser

Dem damaligen Forschungsstand – oder dem davor oder meinetwegen dem vor einhundert Jahren – entsprach der Unterricht schon.
Du kennst doch den Forschungsstand überhaupt nicht. Auf Nachfrage konntest Du keinen einzigen Historiker benennen.
Du traust Dir aber zu, den Forschungsstand zu beurteilen?
 
Da hier Nero als Beispiel genommen wird: Mich würde interessieren, welche Historiker bezüglich Nero in wesentlichen Punkten gegensätzliche Standpunkte vertreten.
Ich konzentriere mich auf den Giftmord des Britannicus. (Allgemeine Überblicke von 24 Pro- und 18 Kontra-Statements kann ich nicht liefen.)
Über Jahrhunderte hinweg wurde akzeptiert, dass Nero bzw. Agrippina seinen Stiefbruder vergiften ließ.
Erst Georges Roux hat in seiner Biographie Néron, 1962, diese These mittels chemischer Experimente zu verschiedenen Giftsorten etc. zu überprüfen versucht. (Ihn kenne ich wiederum aus Jacques Robichon, Nero, der seine Ansichten übernimmt.) Ob man das akzeptieren muss oder nicht, ist herbei gleichgültig: jedenfalls hatte sich Roux gegen die herrschende Meinung gestellt, und zwar nicht einfach so, sondern mittels chemischer Überlegungen.
Dem gegenüber führe ich Ernst Kornemann an, der in seiner Römischen Geschichte Nero nur streift, indem er ihn als ein "entartetes Staatsoberhaupt" bezeichnet und den Tod des Britannicus kritiklos der Aggripina zuordnet.
Ich will nicht behaupten, dass die eine oder andere Darstellung richtig ist, mehr als plausible Gründe dafür / dagegen wird man nicht finden.
 
Sueton, Plinius und Cassius Dio auf der einen und Tacitus auf der anderen Seite ergeben schon die verschiedenen Ansichten zu Neros Brandstiftertum.

Die Frage ist hier also sowieso, wie die Geschichtsschreiber zu ihren Ansichten kamen und warum wir heute annehmen, dass Nero aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dahinter steckt.

Ganz einfach gesagt: Da ist schon die Quellenlage nicht eindeutig und es geht nur darum, welche Sicht bevorzugt wird.

Da ich gerade faul bin: Großer Brand Roms – Wikipedia
 
Dass Nero Rom in Brand gesetzt hat schreiben weder Tacitus noch Sueton. Tacitus lässt lediglich durchblicken, dass es "böse Gerüchte "gab, und dass auch Hilfsmaßnahmen des Kaisers, Spenden und Gelübde diese Gerüchte nicht zum Schweigen bringen konnten und Nero schlicht einen Sündenbock brauchte-den er in der christlichen Gemeinde fand.

Tacitus, Annales XV. 44:

Et haec quidam humanis consiliis providebantur. mox petita dias piacula aditique Sybillae libri, ex quibus supplicantm Volcano et Cereri Proserpinaque. Ac propitiata Juno per matronas, primum in Capitolio, deinde apud proxium mare, unde hausta aqua templum et simulacrum deae perspersum est: et sellisterna ac pervigilia celebravere feminae, quibus mariti erant, sed non ope humana, non largitionibus principis aut deum placamentis decebat infamia quin iussum incendium crederetur, ergo abolendo rumori Nero subdidit reos et quaesitissimis poenis affecit, quos per flagitia invisos vulgus Chrestianos apellabat. Auctor nominis eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontium Pilatum, suplicio affectus erat.

Diese fürsorglichen Maßnahmen waren jedenfalls das Ergebnis menschlicher Planung. Dann suchte man nach Sühnemitteln für die Götter und befragte die sibyllinischen Bücher. Nach ihrer Weisung wurden Gebete für Juno, Ceres und Proserpina gerichtet, und Juno wurde durch die Matronen versöhnt, zuerst auf dem Kapitol, dann an der nächstgelegenen Seite des Meeres. Mit dem dort geschöpften Wasser besprengte man Tempel und Götterbild. Auch feierte Frauen, deren , deren Ehemänner noch lebten, Speiseopfer und nächtliche Feste. Aber nicht durch menschliche Hilfeleistung, nicht durch Spenden des Kaisers oder die Maßnahmen zur Beschwichtigung der Götter ließ sich das böse Gerücht unterdrücken. Man glaubte vielmehr fest daran: befohlen worden sei der Brand. Daher schob Nero, um dem Gerede ein Ende zu machen, andere als Schuldige vor, die wegen ihrer Schandtaten verhasst, vom Volk Chrestianer genannt wurden. Der Mann, von dem sich det Name herleitet, Christus, war unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden."


Sueton schreibt nicht viel über den Brand und die Christenverfolgung. Erwähnt nur, dass Nero mit Todesstrafen gegen Christen vorging und zwar im Zusammenhang mit lobenswerten Regierungsmaßnahmen.

Brandkatastrophen waren durchaus nicht selten in Rom. Immer wieder wurde Rom durch Feuersbrünste in Mitleidenschaft gezogen. Im Jahre 79 wurde Rom von einer ähnlich verheerenden Feuersbrust ähnlich zerstört, ohne dass von Brandstiftung die Rede war. Eine gezielte Brandstiftung in einer antiken Stadt ließ sich kaum kontrollieren, das Risiko, dass der Brand sich ungezielt ausbreitet ausbreitet, auf Stadtviertel überspringt, wo ein Brand nicht erwünscht ist, ist viel zu groß. Es fehlt auch ein plausibles Motiv: Weil Rom im Sommer stinkt, als pyrotechnischen Special- Effekt bei einem Life-Konzert die Metropole des Reiches abzufackeln, Kulisse für eine Trojade-das ist doch einfach nur krank! Nero hatte, wenn man denn den Quellen einigermaßen vertrauen kann, ein feines Gespür für die Volksgunst, wollte beim Volk geliebt werden. Ein Virtuose, dem der Beifall der Menge anscheinend viel bedeutet hat, kann es sich doch nicht leisten, ausgerechnet sein Publikum umzubringen, auch wenn die Römer ein "Scheißpublikum" waren-aus Neros Sicht. Immer gemeine Pamphlete und Parodien auf Lager, mit diesem Vorurteil, dass man nicht selbst auftreten darf, ein Publikum spottlustig und anspruchsvoll- aber ein anderes gab es eben nicht. Als der Brand ausbrach, war Nero in Antium. Er reiste zurück, zeigte als Krisenmanager durchaus Kompetenz. So weit, dass sie Nero wirklich der mutwilligen Brandstiftung bezichtigen, gehen die antiken Historiographen nicht-zumindest nicht Tacitus und Sueton. Was sie tun, ist zu berichten, dass Neros Ruf so miserabel ist, dass man ihm so etwas zutraute und zu kritisieren, dass Nero aus dem Brand Nutzen zog, sich auf zerstörtem Baugrund ein Prunkschloss-die Domus aurea bauen ließ.

Ausdrücklich bezichtigt Henryk Sienkewiecz in seinem Roman "Quo Vadis", Nero der Brandstiftung, lässt durchblicken, dass Tigellinus auf Neros Befehl den Brand Roms legte, um Baugrund für seine Neropolis zu gewinnen. Nero rezitiert aus seiner Trojade und das Volk ist empört. Petronius wagt es, das Volk zu beschwichtigen und verspricht Spiele- aber gebraucht wird ein Sündenbock. In Quo Vadis sind es Juden, die Poppäa auf die Christen aufmerksam machen, die dann Nero die Christengemeinde als Sündenböcke vorschlägt, worauf Nero natürlich eingeht.

Sienkiewicz erhielt u. a. für Quo Vadis den Literaturnobelpreis, und man merkt dem Werk schon an, dass der Autor die Klassiker, Tacitus, Sueton, Plinius und Petronius gut kannte, aber der Roman war natürlich ein fiktives Werk, und das Sittengemälde, das Sienkiewicz vom neronischen Rom bildet die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, bildet Sienkiewicz Bild- dem Vergnügen an der Lektüre tut das keinen Abbruch.
 
Ich konzentriere mich auf den Giftmord des Britannicus. (Allgemeine Überblicke von 24 Pro- und 18 Kontra-Statements kann ich nicht liefen.)
Über Jahrhunderte hinweg wurde akzeptiert, dass Nero bzw. Agrippina seinen Stiefbruder vergiften ließ.
Erst Georges Roux hat in seiner Biographie Néron, 1962, diese These mittels chemischer Experimente zu verschiedenen Giftsorten etc. zu überprüfen versucht.

Damit beantwortest Du doch schon Deine Frage:
Ich finde das eine spannende Bemerkung. Welche Quellen zu den röm. Kaisern haben sich seitdem geändert? Vielleicht ein paar Münzfunde, eine Säuleninschrift o.ä., aber Wesentliches kam doch nicht hinzu.
Dann kann es doch nur die Interpretation sein, sprich: die Selektion der Quellen und ihre Bewertung, die heute als nicht mehr up-to-date empfunden wird.
Aber muss sich wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht einfach nur an die Fakten halten?

In diesem Fall hat sich die Faktenlage geändert. Neue (naturwissenschaftliche) Erkenntnisse sind dazugekommen, an den Quellen ändert sich natürlich nichts. Und auch deren Interpretation ändert sich, wie Du selber sagst, "nicht einfach so".


(Was von der Vergiftungsstory zu halten ist, ist meiner Meinung nach durchaus diskutabel, das tut dem Beispiel, wie Du richtig sagst, aber keinen Abbruch.)
 
Dass Nero Rom in Brand gesetzt hat schreiben weder Tacitus noch Sueton.

Schau einfach mal bei Sueton, Nero in Kapitel 38. Aufgrund seiner schematischen Stoffanordnung findet sich die Christenverfolgung unter den 'guten' Taten und die Brandstiftung unter den Schlechten.

Du kannst davon ausgehen, dass ich Tacitus und Sueton sowie die gängigen "historischen Romane" gelesen habe und ich Wikipedia-Artikel zumindest nochmal überfliege, wenn ich sie hier verlinke, statt mich auszubreiten.

Kaiserbiographien
 
Ganz einfach gesagt: Da ist schon die Quellenlage nicht eindeutig und es geht nur darum, welche Sicht bevorzugt wird.
Eben.

Danke, hätte ich ja selbst darauf kommen können – und müsste mich nicht als Ahnungsloser bezeichnen lassen. :D


… und das Sittengemälde, das Sienkiewicz vom neronischen Rom bildet die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts …
.. die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts vom neronischen Rom – woher kamen sie? Oder konkreter gefragt: Waren es vielleicht Historiker, die sie in den Umlauf gebracht? :D
 
(Was von der Vergiftungsstory zu halten ist, ist meiner Meinung nach durchaus diskutabel...)

Zur Sache selbst:

Über Jahrhunderte hinweg wurde akzeptiert, dass Nero bzw. Agrippina seinen Stiefbruder vergiften ließ.
Erst Georges Roux hat in seiner Biographie Néron, 1962...

Die antiken Schriftsteller überliefern sowohl die offizielle Version, Britannicus sei in Folge eines epileptischen Anfalls gestorben, wie auch die von ihnen favorisierte Version des Giftmords.

Letztere wurde aber nicht erst von Roux angezweifelt, sondern auch schon viel früher, siehe z. B. Adolf Stahr (1868): "... der ganze an Britannikus verübte Giftmord ist verdächtig."
'Agrippina, die Mutter Nero's' - Digitalisat | MDZ
 
Schau einfach mal bei Sueton, Nero in Kapitel 38. Aufgrund seiner schematischen Stoffanordnung findet sich die Christenverfolgung unter den 'guten' Taten und die Brandstiftung unter den Schlechten.

Du kannst davon ausgehen, dass ich Tacitus und Sueton sowie die gängigen "historischen Romane" gelesen habe und ich Wikipedia-Artikel zumindest nochmal überfliege, wenn ich sie hier verlinke, statt mich auszubreiten.

Kaiserbiographien

Stimmt, Sueton schreibt:

"Unter dem Vorwand, dass ihm die Hässlichkeit der alten Bauwerke und die engen und krummen Straßen zuwider seien, zündete er die Stadt an und zwar so offenkundig, dass viele Konsulare seine Kammerdiener, welche sie mit Pechkränzen und Fackeln in ihren Häusern antrafen nicht anzurühren wagten ( Suet, Nero 38)
 
Ich konzentriere mich auf den Giftmord des Britannicus. (Allgemeine Überblicke von 24 Pro- und 18 Kontra-Statements kann ich nicht liefen.)
Über Jahrhunderte hinweg wurde akzeptiert, dass Nero bzw. Agrippina seinen Stiefbruder vergiften ließ.
Erst Georges Roux hat in seiner Biographie Néron, 1962, diese These mittels chemischer Experimente zu verschiedenen Giftsorten etc. zu überprüfen versucht. (Ihn kenne ich wiederum aus Jacques Robichon, Nero, der seine Ansichten übernimmt.) Ob man das akzeptieren muss oder nicht, ist herbei gleichgültig: jedenfalls hatte sich Roux gegen die herrschende Meinung gestellt, und zwar nicht einfach so, sondern mittels chemischer Überlegungen.
Interessant an dieser Stelle wäre ja, inwiefern G. Roux darauf kommt mit chemischen Experimenten die Vergiftung des Britannicus widerlegen zu können.
Natürlich kann man die Vergiftung in Abrede stellen. Offensichtlich gab es diesen Verdacht und dieser Verdacht wurde von Tacitus und Sueton ausgeschrieben. De facto gab es ja aber keine Untersuchung dazu. Vielleicht die Auffälligkeit, dass Locusta amnestiert wurde. Aber alle Details über die Vergiftung sollten uns erst mal skeptisch vorkommen: Denn die können ja nur von Mitwissern stammen. Aber die Mitwisser haben ja nichts gesagt - oder hat man im Rahmen der Aufhebung der Amnestie Locustas unter Galba und etwaiger weiterer Untersuchungen ihr das entlockt?
Was wissen wir über den Tod des Britannicus?
  • er fand während eines Festmahls statt
  • die Anwesenden waren sehr erschrocken, während sich Nero, seine Mutter und Britannicus' Schwester auffallend "cool" verhielten. Nero sprach von epileptischen Anfällen
  • Britannicus soll Luft und Stimme verloren haben.
Ich habe keine Ahnung von epileptischen Anfällen und bin auch bisher nicht gut informiert über geeignete Mordmethoden. Aber dass Gifte die Atmung lähmen können, ist ja durchaus der Fall. Nun ist die Frage, ob das auch für Gifte gilt, die man im 1. Jhdt. bereits mischen konnte, oder ob diese - Claudius soll ja mittels eines Pilzgerichtes ermordet worden sein - vielleicht sogar in der Natur vorkamen (dann wäre freilich zu fragen, warum Locusta und Nero so lange experimentieren mussten, Sueton, Nero, 33). Wenn es Gifte gab, die Locusta hätte mischen können bzw. die in der Natur vorkamen, welche die Syptomatik auslösen, dass Britannicus sofort Atem und Stimme verlor (Tacitus) und die offensichtlich Spuren hinterließen (Dio, wobei der ja wirklich gerne fabuliert), dann sehe ich nicht, dass da ein Chemiker wirklich etwas gegen die Vergiftung sagen kann - was nicht heißt, dass zwingend eine Vergiftung stattgefunden hat. Mich erinnert das so ein wenig an die Doku mit einem italienischen Polizsten, der Caesars Mord untersuchen wollte (ohne Leiche, ohne Tatwaffen)´.
 
Mir schwante, dass ich hier nicht so billig wegkomme. Also habe ich den entsprechenden Text noch einmal gelesen.
Wir haben also bei Sueton 2 Feste, wenn ich das richtig interpretiere: einmal wurde Britannicus auf Veranlassung Neros durch Locuste vergiftet, erlitt aber nur einen Durchfall, beim 2. Mal hat's dann geklappt.
Den Britannicus vergiftete er ebenso aus Neid. ... Als das Gift, das er von einer gewissen Lucusta, einer berüchtigten Giftmischerin empfangen hatte, allzu langsam wirkte und bei Britannicus bloß Durchfall bewirkte, ließ er das Weib vor sich bringen und prügelte sie mit eigener Hand, indem er sie beschuldigte, statt des Giftes ein Heilmittel gegeben zu haben.
Nero lässt von Locuste das Gift verstärken, bis endlich ein Schwein davon umkippt:
Als dieses unmittelbar darauf verendete, gebot er, das Gift ins Speisezimmer zu bringen und es dem mit ihm speisenden Britannicus zu reichen. Als dieser nach dem ersten Schluck zu Boden stürzte, log er den Gästen vor, es sei dies ein bei ihm gewöhnlicher Fall von Epilepsie, und ließ ihn tags darauf in großer Eile bei strömendem Regen ohne allen Aufwand bestatten.
Der 1. Einwand von Roux: dieser Mord hat etwas von einer theatralischen Inszenierung, unter allen Leuten, auch noch in jenem Festsaal, wo Claudius umgekommen war. Es wäre einfacher gegangen, Britannicus zu verbannen und ihn dort in aller Stille umzubringen.
Der 2. Einwand betrifft das Gift bzw. die Umstände des Todes. Dafür hat Roux alle Kandidaten untersucht bzw. von Experten untersuchen lassen: Schierling, Muskarin, Oxalsäure, Akonitin, Tollkirsche, Strychnin, Curare, Cyanid.
  • Mit Ausnahme von Curare und Cyanid wirken alle binnen eines Zeitraumes von circa zwanzig Minuten (Strychnin) bis zu zwei Stunden oder mehr (oder sogar mehrere Tage, wie das Muskarin).
  • Das Curare ist praktisch wirkungslos im Verdauungstrakt und muß, um wirksam werden zu können, durch eine intramuskuläre Injektion verabreicht werden (Pfeilgift). Dann allerdings tritt sofortiger Tod ein.
  • Bleibt das Cyanid, das nach einer Einwirkzeit von etwa zwei oder drei Minuten einen fast augenblicklichen Tod zur Folge hat. Allerdings wurde es erst 1782 entdeckt.
Robichon schreibt:
Georges-Roux hat ... eine Kapazität der modernen Toxikologie, Herrn Prof. Kohn-Abrest, befragt. Dieser hat ihm bestätigt, daß es keine Gifte gibt, „deren Einnahme in nicht massiver Dosierung den sofortigen Tod hervorrufen könne". Was nun die Einnahme in hoher Dosis, die den sofortigen Tod nach sich zöge, angeht, so stellt sich dem im Fall des Britannicus eine große Schwierigkeit entgegen: „Das Aussehen der Mischung und ihre anderen organoleptischen Eigenschaften", so sagt Kohn-Abrest, „können nicht unbemerkt bleiben".
So dass er schließt, dass dieser Gifttod sehr unwahrscheinlich ist. Claudius etwa sei wesentlich langsamer gestorben.
Woran könnte Britannicus nun wirklich gestorben sein? Hier vermuten Neurologen einen Gefäßbruch im Hirnhautbereich, hervorgerufen durch arterielle Aneurismen, wie es bei Epileptikern durchaus vorkommen könne.
Zu guter Letzt noch eine Anmerkung von mir: Britannicus hatte ja am Abend zuvor (oder wann?) schon einen Vergiftungsversuch hinter sich, der nur zum Durchfall geführt hatte. Dann geht er arglos am nächsten Abend wieder zu seinem Mörder? War er einfältig (nun ja, er war gerade 14 Jahre alt)?
 
Mir schwante, dass ich hier nicht so billig wegkomme. Also habe ich den entsprechenden Text noch einmal gelesen.
Wir haben also bei Sueton 2 Feste, wenn ich das richtig interpretiere: einmal wurde Britannicus auf Veranlassung Neros durch Locuste vergiftet, erlitt aber nur einen Durchfall, beim 2. Mal hat's dann geklappt.

Nero lässt von Locuste das Gift verstärken, bis endlich ein Schwein davon umkippt:

Der 1. Einwand von Roux: dieser Mord hat etwas von einer theatralischen Inszenierung, unter allen Leuten, auch noch in jenem Festsaal, wo Claudius umgekommen war. Es wäre einfacher gegangen, Britannicus zu verbannen und ihn dort in aller Stille umzubringen.
Der 2. Einwand betrifft das Gift bzw. die Umstände des Todes. Dafür hat Roux alle Kandidaten untersucht bzw. von Experten untersuchen lassen: Schierling, Muskarin, Oxalsäure, Akonitin, Tollkirsche, Strychnin, Curare, Cyanid.
  • Mit Ausnahme von Curare und Cyanid wirken alle binnen eines Zeitraumes von circa zwanzig Minuten (Strychnin) bis zu zwei Stunden oder mehr (oder sogar mehrere Tage, wie das Muskarin).
  • Das Curare ist praktisch wirkungslos im Verdauungstrakt und muß, um wirksam werden zu können, durch eine intramuskuläre Injektion verabreicht werden (Pfeilgift). Dann allerdings tritt sofortiger Tod ein.
  • Bleibt das Cyanid, das nach einer Einwirkzeit von etwa zwei oder drei Minuten einen fast augenblicklichen Tod zur Folge hat. Allerdings wurde es erst 1782 entdeckt.
Robichon schreibt:

So dass er schließt, dass dieser Gifttod sehr unwahrscheinlich ist. Claudius etwa sei wesentlich langsamer gestorben.
Woran könnte Britannicus nun wirklich gestorben sein? Hier vermuten Neurologen einen Gefäßbruch im Hirnhautbereich, hervorgerufen durch arterielle Aneurismen, wie es bei Epileptikern durchaus vorkommen könne.
Zu guter Letzt noch eine Anmerkung von mir: Britannicus hatte ja am Abend zuvor (oder wann?) schon einen Vergiftungsversuch hinter sich, der nur zum Durchfall geführt hatte. Dann geht er arglos am nächsten Abend wieder zu seinem Mörder? War er einfältig (nun ja, er war gerade 14 Jahre alt)?
Das ist eine sehr naturwissenschaftliche Herangehensweise, die erst mal die gesamte Darstellung der antiken Historiker als gegeben nimmt und a priori keine Q-Kritik übt, um dann festzustellen, dass es so, wie dargestellt, nicht gewesen sein kann.
Dabei werden dann aber Dinge außer Acht gelassen, wie die, dass die Historiographen eben ein halbes Jahrhundert später schrieben.
Folgendes Szenario: Britannicus erhält Muscarin, bekommt davon Durchfall und verstirbt am nächsten Abend an der Vergiftung des Vorabends, ist also kein zweites Mal vergiftet worden. Was sagen die Pharmazeuten unter uns dazu?
Szenario 2: Der Durchfall war nur zufällig und hatte nichts mit der Vergiftung zu tun.
Das Problem ist, Roux geht offenbar davon aus das die Schilderung mit der List, die Nero angewandt habe, stimmt:
Britannicus bekommt ein Getränk, an dem er sich verbrühen muss, und scheinbar um ihm Linderung zu verschaffen, das vergiftete Kaltgetränk und kippt sofort tot um. Er lässt also mögliche andere Varianten, eben dass die Schilderung, das Gift habe sofort gewirkt nicht stimmt, aus.
 
Wir, die wir nur über senatorische Quellen verfügen, also mit diesen Quellen äußerst vorsichtig umgehen müssen.
Sueton war allerdings kein Senator, sondern gehörte zum (traditionell mit dem Senatorenstand rivalisierenden) Ritterstand, der von etlichen Kaisern (auch als Gegengewicht zu den Senatoren) gefördert wurde. Er selbst entstammte einer politisch unbedeutenden Familie und machte Karriere, während er im republikanischen Rom vermutlich ein Niemand gewesen und geblieben wäre.

dieser Mord hat etwas von einer theatralischen Inszenierung, unter allen Leuten, auch noch in jenem Festsaal, wo Claudius umgekommen war. Es wäre einfacher gegangen, Britannicus zu verbannen und ihn dort in aller Stille umzubringen.
Zweiteres wäre aber auffälliger gewesen. Wenn der Sohn des vorigen und Adoptivbruder des jetzigen Kaisers verschwindet und man nie mehr von ihm hört, hätte das wohl mehr Verdacht erregt als wenn er vor Zeugen an einem „epileptischen Anfall“ verstirbt. Nero konnte ja hoffen, dass man ihm die Inszenierung abnehmen würde. (So manche moderne Historiker tun es anscheinend …)

Zu guter Letzt noch eine Anmerkung von mir: Britannicus hatte ja am Abend zuvor (oder wann?) schon einen Vergiftungsversuch hinter sich, der nur zum Durchfall geführt hatte. Dann geht er arglos am nächsten Abend wieder zu seinem Mörder? War er einfältig (nun ja, er war gerade 14 Jahre alt)?
Warum? Wenn der erste Versuch nur zu Durchfall führte, musste Britannicus doch nicht erkennen, dass er vergiftet wurde. Wer, der Durchfall hat, schließt daraus, dass er vergiftet wurde?
 
Sueton war allerdings kein Senator, sondern gehörte zum (traditionell mit dem Senatorenstand rivalisierenden) Ritterstand

Ich behaupte ja auch nicht, das jegliche Überlieferung der Geschichtsschreibung hier falsch sein muss.

Zum Tod des Britannicus könnte man allerdings auch anmerken, dass die uns bekannten Überlieferungen 50 Jahre später niedergeschrieben wurden, möglicherweise auf der gleichen Quelle beruhen, die uns nicht überliefert ist.
Ob die Details des besagten Festmahls genau so stattfanden? Oder war das Fantasie eines Chronisten?
Es sind eigentlich zu viele Details genannt, bei denen man sich fragt, woher der Autor dieses Wissen haben sollte.

Eine weitere Anmerkung allerdings zu Roux und Kohn-Abrest: Bei allem Respekt vor der heutigen Toxikologie, mit solch entschiedenen Aussagen über die Gifte der Antike sollte man etwas zurückhaltender sein.
 
Warum? Wenn der erste Versuch nur zu Durchfall führte, musste Britannicus doch nicht erkennen, dass er vergiftet wurde. Wer, der Durchfall hat, schließt daraus, dass er vergiftet wurde?
Nun ja, der Vater des Jungen war gerade vergiftet worden, außerdem lebte man in einer sehr umtriebigen Familie, in der es schon öfter Morde gegeben hatte, zudem soll Britannicus, wenn man Tacitus glauben darf, kurz zuvor von Nero schon Gewalt erfahren haben (Annales XIII.17, gemeint ist Vergewaltigung). Und dann, während der Mahlzeit bei diesem Bruderherz, Durchfall...
Nun gut, ich will die Vorkoster dagegen halten und das Alter des Britannicus.
Ob die Details des besagten Festmahls genau so stattfanden? Oder war das Fantasie eines Chronisten? ... Bei allem Respekt vor der heutigen Toxikologie, mit solch entschiedenen Aussagen über die Gifte der Antike sollte man etwas zurückhaltender sein.
Warum soll man die Erkenntnisse der Toxikologie (falls sie denn so stimmen) nicht zu Rate ziehen? Natürlich weiß man nicht, ob dies - rein phänomal - so passiert ist, oder ob es sich hier um rhetorische Ergüsse handelt, um die Sache dramatischer zu gestalten. Aber immerhin eines kann man sagen: so, wie es Tacitus erzählt, kann es nicht gewesen sein (immer unter der Voraussetzung, dass Roux' Einwände korrekt sind). Dass dennoch Britannicus vergiftet wurde, in einer anderen Art und Weise, schließt das nicht aus, aber eine solche These ist natürlich noch weitaus unbestimmter als das, was Tacitus / Sueton erzählen (weil es nämlich niemand erzählt) und verliert sich vollends im Spekulativen.
 
Ob die Details des besagten Festmahls genau so stattfanden? Oder war das Fantasie eines Chronisten?
Eines ist mir im Nachgang zur Mordtat noch eingefallen (ich komme mir beinahe wie ein Tatort-Kommissar vor): wenn es stimmt, dass Nero vorhatte, den Stiefbruder zu vergiften, die Tat aber als epileptischen Anfall darzustellen, dann musste das Gift sofort wirken, anderenfalls hätte man eine solche Verwechslung nicht glaubhaft machen können.
Damit fallen alternative Vergiftungs-Verläufe des Abends weitgehend aus.
 
Zweiteres wäre aber auffälliger gewesen. Wenn der Sohn des vorigen und Adoptivbruder des jetzigen Kaisers verschwindet und man nie mehr von ihm hört, hätte das wohl mehr Verdacht erregt als wenn er vor Zeugen an einem „epileptischen Anfall“ verstirbt. Nero konnte ja hoffen, dass man ihm die Inszenierung abnehmen würde. (So manche moderne Historiker tun es anscheinend …)
Das ist eben unser Quellenproblem. Wir haben Quellen, die Nero nicht wohl gesonnen sind. Die spiegeln aller Wahrscheinlichkeit ein gängiges Gerücht wieder (Nero hat seinen Stiefbruder vergiften lassen). Der moderne Historiker kann nur die Wahrscheinlichkeit ermessen, ob die Vergiftung stattgefunden hat. Ich habe obne Roux wegen seiner rein naturwissenschaftlichen jede Q-Kritik beseitelassende Herangehensweise kritisiert. Eben weil er die Überlieferung erst mal a priori als gegeben nimmt und danach durchspielt, um welches Gift es sich gehandelt haben könnte, um dann festzustellen, dass die Gifte entweder zu langsam wirken oder andere Symptome aufwiesen.
Er vergisst dabei, dass die Quellen einen Narrativ aufgreifen und redaktionell bearbeiten und dass zwischen dem Anschlag auf Britannicus und den überlieferten Quellen Jahrzehnte liegen.

Britannicus starb 55. Sueton wurde erst 15 Jahre später überhaupt geboren. Mit etwa 50 Jahren hat er an den Kaiserbiographien gearbeitet. Tacitus wurde immerhin bereits 3 Jahre nach Britannicus' Tod geboren. Seine Annalen erschienen kurz vor Suetons Kaiserbiographien, der sich bei Tacitus oder bei den gleichen Quellen oft bedient hat.
Also 55 bis 65 Jahre nach Britannicus' Tod haben wir Quellen.
Es ist unwahrscheinlich, dass Tacitus und Sueton etwas behaupteten, was völlig abwegig gewesen wäre. Also es muss so etwas wie ein gängiger Narrativ gewesen sein, dass Nero Britannicus hat vergiften lassen. Vielleicht sogar bereits mit den Details, die Sueton erzählt.
Dass Nero Locusta amnestierte und Galba das rückgängig machte und Locusta wiederum hinrichten ließ, spricht dafür, dass an der Geschichte "was dran" ist. Die Erzählung "Nero ließ Britannicus vergiften" ist also nach dem uns bekannten Faktenstand mutmaßlich wahr. Ob die Rekonstruktion der Vergiftung, wie sie Sueton uns schildert "wahr" ist, ist eher fraglich.
 
Ich habe obne Roux wegen seiner rein naturwissenschaftlichen jede Q-Kritik beseitelassende Herangehensweise kritisiert. Eben weil er die Überlieferung erst mal a priori als gegeben nimmt und danach durchspielt, um welches Gift es sich gehandelt haben könnte, um dann festzustellen, dass die Gifte entweder zu langsam wirken oder andere Symptome aufwiesen.
Ja sicher, aber was er hätte er sonst machen können? Er hat die Geschichte ernst genommen, so wie sie da geschrieben steht, und hat überprüft, ob das stimmen kann. Wenn er dann zum Schluss kommt: das ist aus den und den Gründen nicht möglich, dann muss daran etwas faul sein. Narrativ hin oder her.
 
Roux überprüfte das schlicht wie ein Naturwissenschaftler: kann das geschilderte 'Experiment' so abgelaufen sein?

Schluss: Nach heutigen Kenntnissen über damalige Gifte stimmt die Schilderung Suetons nicht.*

Aber: Das wurde ja auch schon vorher angenommen, es ist nur eine Bestätigung.
Und: Das heißt nur, dass es anders abgelaufen sein muss, nicht, dass Nero unschuldig am Tod seines Stiefbruders ist. Es kann auch Gift gewesen sein. Es ist nur anders abgelaufen.

Sodann kommen die Überlegungen zur Zuverlässigkeit der Nachricht über einen Giftmord ins Spiel, wie El Quijote sie darstellt.

*Hier stehen zu bleiben, wäre natürlich naiv-technokratischer Blödsinn.
 
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