Da hier viel von "Etymologie" gesprochen wird: Was sind Etymologie und Historiolinguistik?
Etymologie und HIstoriolinguistik sind zwei Teilgebiete der historischen Sprachwissenschaft.
Die
Etymologie untersucht die Bedeutungsveränderung eines Wortes.
Indoeuropäisches *
ghosti würde man etwa mit 'Fremder', 'Fremdling' übersetzen.
Das germanische
gast(
i) und das lateinische
hostis haben diese Wortbedeutung semantisch in gegenteiliger Richtung reduziert (Semantische Reduktion). Der
Gast im Germanischen ist derjenige, der freundlich empfangen wird, der
hostis hingegen ist der 'Feind'.
Aus diesem lateinischen
hostis ist wiederum im Katalanischen/Spanischen/Italienischen durch semantische Verschiebung
host/hueste/oste 'Heer' geworden.
Im Englischen existiert neben der germanischen Form (
guest) auch die romanische Form (
hostile). Natürlich ist Englischsprechern, wenn sie sagen:
The guest turned hostile i.d.R. nicht bewusst, dass
guest und
hostile von demselben indoeuropäischen Etymon herrühren.
Soviel also erst mal zur Etymologie.
Die
Historiolinguistik untersucht den Lautwandel und die Verwandtschaftsverhältnisse der Sprachen untereinander.
Also etwa - um im Bsp. (
ghosti) zu bleiben - wie idg.
gh sich zu germ.
g bzw. lat.
h entwicklete (das dann phonetisch ganz ausfiel [graphisch nur im Italienischen
oste abgebildet, wohingegen Spanisch und Katalanisch re-etymologisierend
hueste und
Host schreiben, aber ohne /h/ sprechen] oder wie aus dem idg.
o ein germanisches
a und englisches
ue /ɛ/ wurde, bzw. aus dem lateinischen
o ein Spanisches
ue /w̝e/.
Natürlich ist es in Wirklichkeit sehr viel komplizierter (und ich habe die Historiolinguistik zudem jetzt sehr stark auf ihren Ursprung eingeengt).
Um nun also den
Turn zum Thema zu bekommen:
Etymologie und Historiolinguistik sind zwei schöne Wissenschaften. Aber sie helfen uns bei der Fragestellung hier überhaupt nicht weiter.
Natürlich kann ich feststellen, dass die von Lelgemann/Knobloch/Marx/Kleineberg vorgeschlagene Etymologie von Tulifurdum als Hybridnamen aus dem Lateinischen (
tuli - ich habe getragen) und
furdum > Furt zu "ich habe über die Furt getragen" und das das als Ortsname, ziemlich unwahrscheinlich ist. Hybridnamen gibt es grundsätzlich zwar, sie sind aber eher selten und setzen voraus, dass vor Ort zwei Sprachen gesprochen werden. Tuli ist also nicht aus dem Lateinischen zu erklären, sondern aus dem Germanischen - oder einer vorgermanischen indoeuropäischen oder nichtindoeuropäischen Sprache. Zumal konjugierte Verben i.d.R. nicht das Material sind, aus dem Ortsnamen gebildet werden.
Die Etymologie hilft mir hier nur insofern weiter, als dass Tuli-furd-um
wahrscheinlich eine Furt oder eine Siedlung bei einer Furt bezeichnete. Das könnte die Furt über einen Fluss gewesen sein, der *Tuli hieß. Oder vielleicht steckt darin ein Personenname. Oder eine Qualität der Furt....
In Spanien gibt es eine Debatte um die Identität Iliberris' mit Granada. Antonio Malpica Cuello (damals Lehrstuhlinhaber für Mittelalterarchäologie an der Uni Granada) bezichtigte vor ca. 25 Jahren mal diejenigen, welche Granada mit Iliberris gleichsetzten eines
interés científico prácticamente nulo (also eines wissenschaftlichen Interesses, dass gleichsam bei Null läge). Wenige Meter entfernt lag das Büro von Mauricio Pastor Muñoz, der ebenfalls archäologisch arbeitete, allerdings Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte Spaniens war. Ich habe bei beiden Seminare besucht. Mauricio Pastor Muñoz war natürlich genau der gegenteiligen Meinung wie Antonio Malpica Cuello und berief sich auf epigraphische Quellen, die in Granada gefunden wurden, die Iliberris nannten.
Nun, ich bin da eher bei Malpica Cuello als bei Pastor Muñoz. Es gibt Belege römischer Anwesenheit in Granada (Villen, eine Goldmine). Aber wir haben deutliche Hinweise darauf, dass Iliberris in Sierra Elvira (Illiberis > Ilbîra > Elvira) lag, ca. 15 km von Granada entfernt.
- Wir haben Berichte, dass die Ziriden Anfang des 11. Jhdts. die Bevölkerung der Madîna Ilbîra ins nahe Granada (Gharnâta al-Yahûd) umsiedelten, das leichter zu verteidigen war. Und wir haben in Sierra Elvira die Überreste einer Stadt (die Grabungsleitung hatte Antonio Malpica Cuello, mittlerweile hat sie Bilal Sarr Marroco). Städtische Strukturen hat man aus der Römerzeit bisher in Granada nicht nachweisen können, nur eben Goldbergbau und Villen. Auch Thermen, aber villae rusticae verfügten nun mal über eigene Thermen.
- der Ortsname Sierra Elvira (Illiberis > Ilbîra > Elvira)
- in Granda gibt es die Calle Elvira an deren Ende das Stadttor Puerta Elvira liegt: hier beginnt die historische Straße, die nach Sierra Elvira führt.
Die von Mauricio Pastor Muñoz angeführten epigraphischen Zeugnisse sind nicht
in situ gefunden worden, sondern als Spolien, ein Sockel wurde im Mittelalter vermutlich auf dem Sûq von Granada als Verkaufstisch verwendet, ein anderer dient als Stufe in der Alhambra.
Nichtsdestotrotz, obwohl die Argumente eher bein Malpica Cuello als bei Pastor Muñoz liegen, scheint derzeit, nach allem, was ich so lese, die Mehrheit der Althistoriker in Granada sich eher der nationalkatholisch motivierten Kontinuitätshypothese anzuschließen, als der auf arabischen Quellen basierenden Diskontinuitätshypothese.
Warum dieser Exkurs? Ganz einfach deswegen, weil weder Etymologie noch Historiolinguistik wirklich bei der Frage helfen, ob Iliberris Granada ist, oder eben nicht. Auch die Vertreter der Kontinuitätshypothese erkennen selbstverständlich an, dass sich in Sierra Elvira der alte Name von Iliberris fortsetzt. Also, Forderungen zu stellen, Ortsnamen etymologisch herzuleiten kann uns allenfalls - wenn Namen etwas über die Qualität (-burg-/-furd-) eines Ortes verraten - etwas über die Umwelt erzählen, aber nicht festlegen, wo der Ort war.
Nur dort, wo wir Fortsetzer haben (Novaesium = Neuss, Asciburgium = Asberg, Phleoum = Velsen, Mattium = Metze) können wir Historiolinguistik heranziehen und bei Asciburgium etymologisch mit einiger Wahrscheinlichkeit ein germanisches Eschenburg rekonsturieren. Aber schon bei Alisus versagt diese Kunst. Wir wissen, dass Aliso ein Lager an der Lippe bei einem Zufluss war. Wahrscheinlich war es Haltern und der Zufluss die Stever. Aber da können wir den Namen Alisus hin und herwenden, er gibt uns keine Auskunft darüber ob das Römerlager Haltern mit Aliso identisch ist, oder nicht.