Die skandinavische Herkunft der Langobarden ist ebenso fiktiv wie die
Siebenschläferlegende oder die Erzählung von der Namensherkunft: Gott Wotan schaute eines Morgens aus dem Fenster und fragte: "Was sind denn das für Langbärte?"
Mich überrascht diese Entschiedenheit in Deiner Bewertung ein wenig.
Es stimmt schon: Betrachtet man den frühesten gentilen Vertreter skandinavischer Herkunftserzählungen, so begegnet man bei Jordanes – beziehungsweise Cassiodor – einer regelrechten Kompilation klassischer griechisch-römischer Topoi. Die Idee, den Ursprung zahlreicher
gentes, die auch von Zeitgenossen als „germanisch" klassifiziert wurden, im hohen Norden zu verorten, ist in der antiken Literatur früh belegt. Bevölkerungsüberschuss, ein raues Klima, das die Bewohner „barbarisiert“, sowie die Gleichsetzung von Umwelt und Habitus – all dies bildet ein vertrautes Repertoire klassischer Stereotypen.
Besonders augenfällig wird das in der Rezeption der
Getica, die in der Forschung teils regelrecht seziert wurde – mitunter bis zur völligen Auflösung. Die oft scharf formulierte Kritik von Althistorikern und Philologen wurde dabei nicht selten ohne nennenswerten Widerspruch übernommen. Über die genuin
gentilen Elemente der Überlieferung hingegen wird meist nur am Rande gesprochen – ebenso wie über die überraschend präzisen geographischen Angaben einschließlich der Nennung spezifischer Toponyme und Ethnonyme Skandinaviens, die Jordanes als erster überliefert und die im Frühmittelalter tatsächlich dort belegt sind. Für eine vermeintlich „fiktive Erzählung“ ohne Bezug zur historischen Realität ist dies eine bemerkenswert sorgfältige Konstruktion, die durchaus einer kritischen Überprüfung standhält. Es scheint, als hätten Jordanes und/oder Cassiodor beträchtlichen Aufwand betrieben, um die tatsächlichen Gegebenheiten im Norden so genau wie möglich zu erfassen – wohl auch deshalb, weil diese Herkunftserzählung spätestens seit dem Regierungsantritt Theoderichs für die ostgotische Oberschicht identitätsstiftende Bedeutung erlangt hatte, unabhängig davon, ob sich die beschriebene Wanderung historisch im Detail nachweisen lässt.
Ein vergleichbares Muster zeigt sich bei den Langobarden: Noch vor Paulus Diaconus findet sich in der Präambel des
Edictum Rothari aus dem Jahr 643 n. Chr. eine knappe, jedoch aufschlussreiche Herkunftsschilderung. Demnach seien die Winniler von der Insel
Scadan(an) ausgezogen, hätten mit der Hilfe Godans und Freas einen Sieg über die Vandalen errungen und von Godan selbst den Namen „Langobarden“ erhalten. Die hier – wenn auch latinisiert – überlieferten Götternamen lassen zudem klare Parallelen zum späteren nordgermanischen Pantheon erkennen.
Spätestens zur Mitte des 7. Jahrhunderts scheint die skandinavische Herkunft in der langobardischen Oberschicht zu einem zentralen Element kollektiver Identitätsbildung avanciert zu sein. Diese Herkunftslegitimation bezog sich dabei nicht allein auf die Königsdynastie, sondern umfasste ausdrücklich auch das Kollektiv der langobardischen Elite. Dies wird durch König Rotharis Hinweis deutlich, dass die
Origo Gentis als Teil der Edictums auf dem
consilium und dem
consensus des
Gairethinx – der Versammlung eben jener Elite – beruhe. Es ließen sich weitere – oft verbrämte – Parallelen zum zugegebenermaßen späteren, frühmittelalterlichen Norden ziehen, die schlicht nicht dadurch erklärt werden können, dass eine skandinavische Herkunft mal eben ad hoc und situativ entstanden sein soll.
Als wirklich „fiktiv“ ließe sich vielmehr Gregors Darstellung bezeichnen, wenn er den Ursprung der Franken auf die Trojaner zurückführt. Denn hier fehlen jegliche Hinweise auf tiefere Parallelen in Mythologie, Sprache oder geographischer Verortung, die einen solchen Ursprung als mehr denn eine bloße Übernahme der römischen Herkunftstradition erscheinen ließen.