Ad Boias, qui nunc Baioarii vocantur

Jetzt referiere ich mal wieder, hoffentlich nicht zu ausführlich, einen neuen wissenschaftlichen Artikel, der, denke ich, unseren Blick auf die Entstehung des Baiernstamms schärfen kann. Er ist noch gar nicht in einer Fachzeitschrift erschienen, sondern nur als Preprint erschienen, könnte also noch verändert oder sogar von den Fachzeitschriften abgelehnt werden. Der Titel: Historic Genomes Uncover Demographic Shifts and Kinship Structures in Post-Roman Central Europe.

Man sieht da, wie Wissenschaft auf dem Gebiet der Paläogenetik heutzutage funktioniert. Es gibt 55 (!) Autoren, wichtig sind aber vor allem vier: die beiden Erstgenannten, die wohl die Hauptarbeit geleistet haben (Jens Blöcher und Leonardo Vallini), und die „corresponding authors“ Steffen Patzold (Uni Tübingen) und Joachim Burger (Uni Mainz), arrivierte Lehrstuhlinhaber, die sicher die Forschungsrichtung vorgaben und mit ihrem Namen dafür stehen, dass in dem großen Team sauber gearbeitet wurde. Schließlich sind nicht alle Koautoren Genetiker, etwa mit dem Historiker Mischa Meier und dem Archäologen Jochen Haberstroh auch Leute, die sicher nicht alle Teile des Aufsatzes gut beurteilen können.

Der Artikel dreht sich um paläogenetische Untersuchungen von Erbgut aus verschiedenen süddeutschen Reihengräbern in der Zeit zwischen den letzten Jahrzehnten des 5.Jahrhunderts und dem 7. Jahrhundert, mit insgesamt etwas über 100 untersuchten Individuen. Es werden Verwandtschaftsverhältnissen aufgeschlüsselt und aus den Ergebnissen Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Verhältnisse und Umbrüche in der Zeit vor und nach dem Ende des Imperiums abgeleitet.
 
Eine Erkenntnis, nicht so neu: Die Individuen in den Reihgengräbern in der Zeit vor 500 hatten Vorfahren, die aus Nord- und Zentraleuropa kamen. Begriffe wie Germanen oder Romanen verwendet der Artikel übrigens nicht. Interessant dann: Im 6. Jahrhundert wird die Gruppe der Bestatteten genetisch diverser. Zu den Leuten aus dem Norden kommen vor allem Personen, deren Vorfahren aus Mittelmehrgebiet stammen (und auch einige wenige, die von östlichen Steppengegenden gekommen sind). Die Autoren denken, hier seien nach dem Ende des Reiches römische Besatzungen der Grenzkastelle hinzugezogen. Die Gruppen scheinen sofort untereinander geheiratet haben, vor allem haben mediterrane Männer (wohl ehemalige Grenzsoldaten) nordeuropäische Frauen geheiratet. Was die Grabbeigaben betrifft, lassen sich keine Unterschiede feststellen, eine kulturelle Kluft scheint nicht bestanden zu haben. Im 7. Jahrhundert dominieren aber wieder deutlich die Leute mit norddeutscher Abstammung.

Bemerkenswert: Von den reichlich 100 Individuen konnte für vierzehn gezeigt werden, dass sie mit Personen verwandt waren (im Sinn von Cousins oder Cousinen zwischen zweiten und sechsten Grades), deren Genome ganz woanders gefunden worden sind: in England, Österreich, Ungarn, Serbien. Das waren alles Leute mit nord-mitteleuropäischen Vorfahren; Leute, die die Völkerwanderung mitgemacht haben. Und für mich noch bemerkenswerter: In drei bairischen Reihengräberfeldern fanden sich Personen, die mit Leuten aus einem Gräberfeld in Szolad am Balaton verwandt waren. Im Artikel heißt es: „The ancestral ties between Szolad and the Danube-Isar region endured until shortly before the establishment of the cemeteries in southern Germany, so that the common ancestors were surely still remembered.”
 
Was nicht gesagt wird, weil den Autoren anderes als Entstehungsgeschichten von Germanenstämmen wichtig ist: Das Gräberfeld in Szolad gilt als langobardisch, und die Szolad-Leute waren wiederum verwandt mit Leuten von italienischen Grabstätten der Langobarden. Was aber nahegelegt wird: Die Leute in den frühbairischen Reihengräbern hatten mit den Szolad-Langobarden im 5. Jahrhundert gemeinsame Vorfahren in der Germania libera. Für diese Zeit werden die Langobarden in Böhmen vermutet, das nach den viel früher dort beheimateten Boiern Baia genannt wurde, Baia, das auch im Baiuvaren-Namen steckt.

Eine Hypothese zur Entstehung des Baiernstamms, vorgebracht etwa von Herwig Wolfram und Irmtraut Heitmeier, besagt, dass die ersten Baiuvaren eine kleine Abspaltung der Langobarden waren, als diese um 500 nach Südosten wanderten. Nicht so schön an der Hypothese ist, dass es keine Spuren für eine Einwanderung in Rätien und Noricum aus dieser Zeit gibt. Der Artikel scheint mir nun nahezulegen, dass sich von den langobardischen Personengruppen schon früher einige nach Süddeutschland aufgemacht haben, noch zur Zeit des Imperiums. Das entspricht auch den in den 80er Jahren ausformulierten Überlegungen von Thomas Fischer, der aber noch keine Verbindung zu den Langobarden gesehen hatte. Es ist dann denkbar, dass die alten Verwandtschaftsbande weiter im Bewusstsein blieben und in den Bündnissen und verwandtschaftlichen Banden zwischen den bairischen Herzogs- und langobardischen Königsfamilien ab Mitte des 6. Jahrhunderts ihre Fortsetzung fanden.

Schließlich, was die Autoren eigentlich interessiert: Die Analyse der Verwandtschaftsverhältnisse im Gräberfeld legt nahe, dass für die damalige Gesellschaft monogame Kernfamilien die Norm waren, und dass Verwandtenheirat vermieden wurde; ganz so, wie es sich die Kirche damals wünschte (was wir im Faden zum Buch „Das Geschenk des Orests“ von Bernhard Jussen schon mal diskutiert haben). Und das, obwohl zweifelhaft ist, ob die Reihengräber-Leute mit christlichen Vorstellungen irgendetwas am Hut hatten.
 
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