Geschichte der Handschrift:
Entstehung der Handschrift: Sang. 342 ist eine wichtige, nicht leicht durchschaubare Hs. Als erster hat sie Turner aufgeschlüsselt. Entscheidend ist die Beobachtung, dass die beiden ältesten Teile, nämlich das Graduale (IV) u. das Sakramentar (V) wahrscheinlich nicht von Anfang an (Rankin, S. 385), sondern erst im 11. Jh. zusammengebracht u. mit einem Kalendar eingeleitet wurden. Auch die Ergänzungen für das Sakramentar (II) u. die Lektionen für das Offizium scheinen damals incorporiert worden zu sein. Sie stammen aus verschiedenen Zeiten, die Lektionen dürften noch dem 10., die Messtexte dagegen dem 11. Jh. angehören. Wahrscheinlich war der Kalenderschreiber der entscheidende Kompilator der Hs., die er auch im Sakramentar-Teil (V) ergänzte. Wie die vielen Randergänzungen dort zeigen, war die Hs. im 12. Jh. noch im Gebrauch. In der neueren Musikgeschichte nimmt das Graduale (IV) durch die Frühdatierung um 920 zusammen mit dem Cantatorium Sang. 359 (Nr. 131) eine bedeutende Stellung ein. Rankin (S. 379) datiert es in das 1. Drittel, Arlt (S. 142) in das 2. Viertel d. 10. Jh. Jedenfalls ist es das früheste vollständig erhaltene St. Galler Graduale, dessen Betonung der Feste Weihnachten, Ostern, Christi Himmelfahrt u. Pfingsten durch Initialen zukünftig Allgemeingültigkeit erhalten wird. Wahrscheinlich ist es wie Sang. 359 in der Abtzeit Hartmanns (922-925) entstanden. Das Sakramentar (V) wurde von Merton (S. 54) mit dem Gundis-Codex Sang. 54 (Nr. 107) in einen künstlerischen Zusammenhang gebracht u. auch früh um 920 angesetzt. Der Illuminator des Sakramentars (V) steht noch in der Nachfolge Sintrams, was etwa die Initiälchen des Titels In natale Dni. p. 298 zur 3. Weihnachtsmesse bekunden. Er greift die zoomorphe Bilderwelt seiner Vorfahren von Wolfcoz bis Sintram auf u. übernimmt sie in seinen Formenschatz. Selbst das Motiv des Caput trifrons kennt er u. verwendet es an der Initiale M(isericordia) p. 564 , ein frappanter Beweis dafür, dass es nicht nur im rätischen Liber Viventium Fabariensis (St. Gallen, Stiftsarchiv, Cod. Fab. 1, p. 40 - 41 - vgl. von Euw, Liber Viventium, S. 114 Fig. 34, S. 119, 144), sondern auch in St. Gallen noch im 10. Jh. nachweisbar ist (vgl. Nr. 136). Die alte künstlerische Tradition des Einbauens von Tiergestalten in die Konstruktion der Initialen (Sang. 20, Vadiana 292 - Nr. 33-34) erlebt hier einerseits durch den Realitätscharakter der Tiere, andererseits durch ihren absoluten Anspruch auf Verkörperung des Buchstabens einen Höhepunkt, der gleichsam in eine neue Epoche hineinragt. Reiher (p. 453 , 596 ), Pfauen (p. 363 , 604 ), Enten (p. 563 ) oder Kampfhunde (p. 561 ) dienen nicht mehr der Lineatur, sondern sind der Buchstabe. Der in St. Gallen schwer definierbare Übergang zur ottonischen Kunst zeigt sich hier an der Gleichbehandlung der Bänderung an den Buchstabenkörpern etwa der Initialen im Canon missae (p. 277 , 279 , 281 ) u. ihres Beiwerks zu einem ausgewogenen Gesamtbild. Ich datiere diese Vorgänge u. damit den Sakramentarteil (V) nach dem Ungarneinfall (926) u. dem Klosterbrand (937) in die Abtzeit Crahlos (942-958). Eine besondere Stellung innerhalb der Hs. nimmt der Lektionar-Teil (III) ein. Seine eindrucksvollen Initialen in Minium-Zeichnung sind in gewisser Weise Vorläufer der Kunst Hartkers (vgl. Nr. 143). Stilistisch nicht weit davon entfernt stehen auch die Initialen im ergänzenden Sakramentar-Teil (II), dessen Inhalt Turner verdienstvoll aufzählt. Das Kalendar (I) mit seinen durch Varianten imponierenden Kl-Ligaturen in Minium wurde von Munding (S. 13, 27) in die Jahre 1031-1034 angesetzt. Er wertete den Eintrag des Todestages Erzbischofs Aribo von Mainz zum 6. IV. (1031) als entscheidenden Eintrag von erster Hand (dagegen Rankin, S. 377 Anm.12) u. setzte damit einen Terminus post quem, die obere Grenze gab für ihn der Nachtrag des hl. Remaklus zum 31. IX. ab, dessen Verehrung in St. Gallen 1034 durch Abt Nortpert (1034-1072) eingeführt wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Spätdatierung des Kalendars richtig ist. Der Marburger Kunsthistoriker Herbert Köllner folgte Munding in dieser Datierung (vgl. Graepler-Diehl, S. 180 Anm.80) u. identifizierte die Schreiberhand des Kalendars mit jenem Schreiber, der auf p. 281 die Begleitverse zu den Randzeichnungen schrieb. Diese in Purpurfeder ausgeführten Zeichnungen (vgl. Nr. 165) entspringen, wie Graepler-Diehl überzeugend darlegte, der Geisteswelt Ekkeharts IV. (um 980-1060), der auf Wunsch Erzbischofs Aribo von Mainz (1021-1031) für den damals sich im Bau befindlichen Mainzer Dom Versus ad picturas dichtete u. in seinen Benedictiones super lectores im Liber Benedictionum Sang. 393 zur Passion Jesu Christi jene typologischen Bilder einfließen ließ, die wir am Rand des Canon missae von Sang. 342 wiederfinden (vgl. Ed. Egli, St. Gallen 1909, S. 95). Damit läge es nahe, Ekkehart IV. als Spiritus rector dieses Corpus anzusehen.