Ich sehe den Begriff oder das Konzept der "Erinnerungskultur" längst nicht so positiv wie viele andere. Es kann gegen dieses Konzept bzw. die Art und Weise, wie es praktiziert wird, einiges vorgebracht werden. In der Summe schadet es vielleicht mehr als es nützt. Zudem stellt sich die Frage, welchen Nutzen die “Erinnerungskultur” überhaupt haben soll, außer in der Phantasie ihrer Verfechter.
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Natürlich ist gegen eine kontinuierliche geschichtliche Aufarbeitung der NS-Zeit überhaupt nichts einzuwenden. Die Frage ist nur, wie das geschieht: Sachlich oder fetischisiert? Soll heißen: Was steckt hinter den Bemühungen, die NS-Zeit und ihre herausragenden Persönlichkeiten immer und immer wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit hineinzutrommeln? Ich schreibe bewusst "hineintrommeln", weil die Überflutung der deutschen TV-Programme mit NS-Dokumentationen dieses Wort durchaus rechtfertigtz. Kein Gesicht sieht man beim Zappen durch die Kanäle so häufig wie das von Adolf Hitler. Wer das leugnet, versteht nichts vom TV.
Was folgt aus diesem statistischen Faktum? Dass Hitler die faszinierendste Persönlichkeit ist, die man der deutschen TV-Öffentlichkeit zu bieten hat. Einen anderen Schluss lässt diese traurige Statistik nicht zu. Hitler und sein TV-Antlitz sind ein Fetisch geworden, der wie alle Fetische zugleich fasziniert und abstößt. Man zeigt ihn ja nicht nur als schreienden Massenaufpeitscher, nein, meistens wirkt er auf den TV-Bildern nüchtern und souverän und auch humorvoll, ja sympathisch. Nicht zu vergessen die eine oder andere Doku über seine geliebte Eva Braun, die nette Blonde von nebenan, was Hitlers Sympathiewerte noch hochtreibt. Ihn als Menschen - und nicht als Monster - zu präsentieren im Verein mit der Dauerberieselung seiner TV-Präsenz, die ihn zum Stammgast in Millionen von deutschen Wohnzimmern macht, ist das Gegenteil dessen, was die Verfechter der "Erinnerungskultur" angeblich wollen, nämlich die NS-Zeit und ihre Protagonisten uneingeschränkt negativ im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern.
Das obige ist nur auf Nicht-Nazis gemünzt. Um wieviel fataler ist der Effekt dieser Dauerberieselung aber auf die deutsche Nazi-Szene, aus der sich - darauf kann man Gift nehmen - die enthusiastischsten Konsumenten der zahlreichen NS-Dokus rekrutieren? Wie müssen die sich wohl ins Fäustchen lachen? Brauchen sie doch nicht umständlich danach zu recherchieren, was ihn die Verfechter der "Erinnerungskultur" bereitwillig und mundgerecht Tag für Tag und freihaus ins Wohnzimmer strahlen. Was für ein Service! Es ist, als sei der Begriff der "Erinnerungskultur" genau für dieses Publikum erfunden worden, denn bei ihm entfaltet er sein Potential am intensivsten, die Erinnerung an den Führer wird im Bewusstsein seiner Bewunderer dadurch systematisch "kultiviert", d.h. gehegt und genährt. Das widerspricht der Zielsetzung der Verfechter der EK, denen es offiziell um "Aufklärung" geht, die in ihrem Eifer aber nicht merken, dass sie faktisch weniger auf-klären als vielmehr ver-klären.
Ich meine also, dass ein Nutzen der NS- und Hitler-TV-Dokus hauptsächlich für das rechtsextreme Publikum besteht: Es fühlt sich durch sie bestätigt, ernst genommen und gut informiert.
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Ein anderer Vorwurf gegen die "Erinnerungskultur" ist, dass sie in Wirklichkeit eine Kultur des künstlichen Schuldgefühls ist. Das Argument ist bekannt, wird von den EK-Verfechtern aber beharrlich ignoriert, vielleicht, weil es ihnen tatsächlich auch darum geht. Die Dauerberieselung der Öffentlichkeit mit den Schandtaten der NS-Zeit hat jedenfalls, ob es den EK-Verfechtern nun klar ist oder nicht, den Effekt, dem deutschen Publikum ein Schuldgefühl einzuprägen, also das Gefühl einer kollektiven (Mit-)Schuld an den NS-Verbrechen einfach aus dem Grund, weil das Publikum deutsche Personalausweise hat. Das klingt vielleicht komisch, hat aber diese Konsequenz. Welchen Sinn soll das nun machen? Der rechtsextreme Anteil der deutschen Öffentlichkeit liegt optimistisch eingeschätzt bei max. 5 % und pessimistisch bei max. 10 %. Er fühlt sich, wie gesagt, durch die Produkte der EK nur positiv bestätigt. Die restlichen ca. 90 % haben mit der NS-Zeit und ihren Protagonisten nichts am Hut und waren schon altersbedingt nie in irgendwelche NS-Verbrechen verwickelt. Besonders krass ist der zeitliche Abstand bei der heutigen deutschen Schüler- und Studentengeneration, die mit der NS-Zeit überhaupt nichts gemeinsam hat außer dem obenerwähnten banalen Faktum, dass auf ihren Personalausweisen das Wort "Deutschland" steht. Und weil dieses Wort auf ihren Personalausweisen steht, stehen sie - aus Sicht der Verfechter der "Erinnerungskultur" - in der Pflicht, ein Schuldgefühl wegen Verbrechen zu entwickeln (zu "kultivieren"!), die Jahrzehnte vor ihrer Geburt aus Motiven begangen wurden, die dieser Generation völlig fremd sind und für sie - mit oder ohne "Erinnerungskultur" - auch niemals eine Versuchung sein werden, der sie erliegen könnten, einfach weil sich die kulturellen und geschichtlichen Rahmenbedingungen unendlich geändert haben.
Auf diese Weise hat die "Erinnerungskultur" auch hier einen paradoxen Effekt: Es kultiviert ein nationales Identitätsempfinden, das bei vielen Menschen ansonsten weniger intensiv oder kaum oder gar nicht vorhanden wäre. Die Adressaten der "Erinnerungskultur" werden durch deren Bemühungen dazu gedrängt, ein viel schärferes (notabene: falsches) Bewusstsein dafür zu haben, dass sie "Deutsche" sind, als ohne solche Bemühungen. Die "Erinnerungskultur" steht damit im Widerspruch zu dem viel wichtigeren Ziel des gegenwärtigen Humanismus, den Schritt zum Kosmopolitismus zu machen, d.h. sich als Weltbürger zu definieren und zu empfinden. Wie aber kann ein Kosmopolit oder Weltbürger Schuldgefühle wegen seiner "Zugehörigkeit" zu einem Land empfinden, das für ihn nur ein Flecken auf dem Planeten ist, dem er sich in Wirklichkeit zugehörig fühlt?
Die "Erinnerungskultur" setzt also, um ihre Wirkung entfalten zu können, nicht nur voraus, dass ihre Adressaten auf der Stufe der nationalen Selbstidentifikation stehengeblieben sind, sondern fördert dieses Stehenbleiben auch noch.
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Das Argument der Verfechter der "Erinnerungskultur", immer wieder auf den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung hinweisen zu müssen, um der Gefahr vorzubeugen, dass Ähnliches wieder geschieht, ist zwar sympathisch, aber sehr oberflächlich und unwissenschaftlich. De facto wird durch die "aufklärerische" Dauerberieselung das omnipräsente Bedürfnis der Menschen nach Feindbildern eher noch bestätigt und bestärkt als negiert und gemindert. Umfragen von 2018 ergeben einen Anteil von 9-10 % der Befragten mit klar antisemitischer Einstellung, wobei diejenigen von diesen 9-10 %, die einen NS-gemäßen Umgang mit den Juden favorisieren, sicher in der Minderheit sind, woraus folgt, dass das faktische Ausmaß des Antisemitismus-Problems in der BRD durchaus überschaubar ist und nicht im entferntesten Anlass zur Sorge gibt, ein Holocaust könnte sich in der BRD irgendwann einmal wiederholen. Woraus folgt, dass die Bemühungen der "Erinnerungskultur", dem deutschen Antisemitismus entgegenzuwirken, bei den Rechtsextremen sowieso auf taube Ohren stoßen und beim Rest der Bevölkerung Gefahr laufen, antisemitische Tendenzen, die ansonsten schlimmstenfalls latent wären, durch die Dauerberieselung mit "Information" über Judenhass zum Keimen zu bringen und dann, ja genau, zu "kultivieren", eben weil dadurch ein gewisses Bedürfnis der Menschen nach Feindbildern angesprochen, bedient und genährt wird, die diesen Menschen sonst gar nicht bekannt wären.