Alle 4 Gebiete waren Teil des Deutschen Reiches und somit auch alle Bewohner (automatisch?) deutsche Staatsangehörige, oder?
Nein, 1939 sah das anders aus.
Die Konstruktion, dass es keine direkte Deutsche Staatsangehörigkeit, sondern nur die Staatsbürgerschaft der Einzelstaaten gab, aus der sich die Reichsangehörigkeit ergab, war ein spezifisches Modell des Kaiserreiches, und der Weimarer Republik.
Als die Nazis an die Macht kamen, wurden die Einzelstaaten zerschlagen und die föderalen Elemente des deutschen Staates beseitigt ("Gleichschaltung").
In diesem Zuge, wurde auch das Konzept "Staatsangehörigkeit" reformiert.
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Die Nazis definierten die deutsche Staatsbürgerschaft nach ihren eigenen (rassistischen) Kriterien.
Aber das geht etwas an der Thematik vorbei.
Der Punkt ist, dass es um den ersten Weltkrieg und vor allem auch im Zuge der Debatte um die Gebietsabtretungen durch den Versailler Friedensvertrag, und die Vorstellung des "Selbstbestimmungsrechts der Völker" etc. eine gewisse Relevanz bekam zu belegen, welche Bevölkerungsanteile in den betreffenden Gebieten eigentlich als "deutsch" und welche als "polnisch" aufzufassen waren.
Bei anderen politischen Themen war das bereits vor dem 1. Weltkrieg in geringerem Maß gegeben.
Formalrechtlich gesehen, hatten die Einwohner dieser Gebiete im Kaiserreich alle die preußische Staatsbürgerschaft, nur passte das Konzept des multinationalen Preußen und die Konstruktion einer preußischen Staatsbürgeschaft, unbeachtlich der Nationalität bzw. ethnischen Zugehörigkeit ihrer Träger nicht in der Konzept der europäischen Nachkriegsordnung nach dem 1. Weltkrieg.
Diese sah gemäß den Forderungen der Entente- und Assoziierten Mächte ein eigenständiges Polen unter Einschluss aller eindeutig polnischen Gebiete vor, gleichzeitig den verbleib der eindeutig deutschen Territorien bei Deutschland.
Nur welche Gebiete waren dass und was definierte das "Polnische" oder das Deutsche? Hier wurde es dann knifflig.
Das Konzept "Staatsbürgeschaft" half nicht weiter, weil es weder eine deutsche, noch eine polnische Staatsbürgerschaft gab, sondern eben nur die Preußische, die die für die Nachkriegsordnung erwünschte Abgrenzung zwischen "deutsch" und "polnisch" aber nicht leisten konnte.
In geringerem Maßge gab es das Problem auch bereits vor dem 1. Weltkrieg. Stichwort "Ansiedlungskommission", Germanisierungspolitik, Argumentationen der polnischen Interessenvertreter im Reichstag und so weiter.
Das bedeutet, dass es bei statistischen Erhebungen, bei denen dann am Ende zusammengefasst wurde, wie viele "Deutsche" oder "Polen" in einem Gebiet lebten, Interpretationsmöglichkeiten gab.
Man konnte statistisch zur Maßgabe machen, ob sich die Personen, wenn man sie befragte selbst als "Deutsche" oder "Polen" identifizierten, gleich welche Sprache sie sprachen, man konnte sie unabhängig ihrer Selbstdefinition an Hand ihrer Sprachlichkeit einer dieser Gruppen zuordnen und oder nach anderen Modellen verfahren oder Kriterien mischen, und je nachdem, welche Kritieren angelegt wurden, ließen sich verschiedene Ergebnisse erzielen.
Z.B. konnten Vertreter der polnischen Nationalbwegung, die einen eigenständigen und möglichst großen polnischen Staat wünschten, sich darauf kaprizieren, als Definition dafür, wer alles "Pole/Polin" sei, vollständig auf die Sprachlichkeit unabhängig von der Selbstdefinition abstellen, was es ermöglichte einen Anspruch eines polnischen Staates auch auf Masuren zu konstruieren, mit dem Argument, dass die Bewohner der Sprache nach eindeutig mehrheitlich polnisch seien.
Personen, Funktionsträger und Parteien/Institutionen, die ein Interesse daran hatten solchen Ansprüchen entgegenzutreten konnten dann zu zwei verschiedenen Strategien greifen um solche Ansprüche abzuwehren:
1. Sie konnten die Gültigkeit einer solchen Definition anfechten und etwa im Bezug auf Masuren damit argumentieren, dass sich die Bevölkerung zum Großteil nicht als "polnisch" betrachtete.
2. Sie konnten die Argumentation dadurch angreifen zu bezweifeln, dass das Masurische überhaupt eine Form des Polnischen sei, denn wenn Masurisch eine eigene Sprache darstellte, hebelte das die Argumentation mit der polnischen Sprache an anderer Stelle aus.
Beide Abwehrstraegien sind im Fall Masurens duchaus bemüht worden, so dass in den Statistiken zum Teil die Sprecher des Masurischen aus der Gruppe der polnischsprachigen Personen und damit auch der Polen (wenn die Statistiken die Definition polnischsprachige Person = Pole zu Grunde legten) herausgerechnet wurden.
Diese Gemengelage sorgt dafür, dass zeitgenössische Angaben die so und so viel % Polen oder Sprecher des Polnischen für die genannten Gebiete ausweisen durchaus mit Vorsicht zu genießen sind und dass da zu hinterfragen ist, welche Definition von polnischer Nationalität oder Sprache dem eigentlich zu Grunde liegt.