Bolivar und die verlorene Einheit Lateinamerikas

Nimm zum Beispiel [...] das spanische Reich am Anfang des 17. Jahrhunderts.

[...] nicht unbedingt schwere krisenhafte Niedergangssymptome [...] reichte allerdings der Tod eines Herrschers ohne in Europa allgemein anerkannte Nachfolger aus, um Erbfolgekriege unter den europäischen Großmächten auszulösen,
Anfang des 18. Jhdt.! (Tippfehler oder Erratum, egal)

Ich bin mir nicht sicher, es gab schon die ein oder andere krisenhafte Entwicklung im habsburgischen Spanien.

Die Empörung in den ehemaligen 13 Kolonien hatte ja durchaus damit zu tun, dass das britische Parlament versucht hatte hier Besteuerung einzuführen und zwar auf sehr sehr moderatem Level.
Das es am Ende dazu kam, dass der Regierung das Recht zur Besteuerung zuerkannt wurde, hatte durchaus mit den Kosten zu tun, die der Unabhängigkeitskrieg produzierte und die sich in Form von Staatsschulden, die zurückgezahlt werden wollten anhäuften.
Vielleicht erinnere ich mich ja falsch, aber handelte es sich nicht a) un eine Sondersteuer und b) bei fehlenden Mitspracherecht im Parlament zu London?
 
Da unterschätzt du Washington aber gewaltig. Ich weiß schon, in unseren modernen postheroischen Zeiten, negiert man gerne denn Einfluss, denn Einzelpersonen auf den Lauf der Geschichte haben. Aber das die USA alle ihre oft heftigen Kinderkrankheiten überstehen konnte war, nicht nur aber im großen Washington zu verdanken. Das es überhaupt einen Bundestaat, eine Verfassung, ein stehendes Heer und vor allem einen durchsätzungsfähige Regierung gab, ist vor allem dem geschuldet, dass die Menschen so großes Vertrauen in Washington hatten. Washington tat auch viel dafür, er reiste durch das Land. Machte den neuen Staat erlebbar, erzeugte eine emotionale Bindung, verbreitete Vertrauen.

Es stimmt, zwar das Hamilton, die Grundlage für ein fiskalisch und wirtschaftlich Fundament der USA legten. Dies hätte Hamilton aber nie und nimmer durchsetzen können, wäre nicht Washington hinter ihm gestanden. Da hätte er noch so viele schöne Abendessen mit Jefferson haben können. Washington hatte eine einmalige Stellung inne, man konnte Hamilton kritisieren, man konnte auch Adams kritisieren, sogar bekämpfen, aber vor Washington musste man einen Rückzieher machen, wenn man nicht alles an politischen Kapital verlieren wollte. Das darf man nicht unterschätzen.

Und Land gab es in Lateinamerika auch, in Mexiko, Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Chile usw. gab es im 19. Jahrhundert auch eine Siedlerbewegung. Stimmt, nicht in dem Ausmaße wie in den USA, aber dadurch wäre doch erst recht Dampf aus dem Kessel genommen worden.

Was den Indianertribut betrifft. Dies war in den ersten Jahrzehnten in den neuen Staaten in Südamerika ein enormes Thema. Durchaus ähnlich wie die Sklaverei in den USA. Vor allem natürlich in Ländern, in denen es eine große indigene Bevölkerung gab: Kolumbien, Peru, Ecuador, Bolivien. Das ewige Ja/Nein destabilisierte diese Staaten enorm. Was die Abgaben nach Spanien betraf. Das war wohl mehr psychosomatischer Schmerz. Es ist ähnlich wie mit dem Brexit: Was man sich an Abgaben an die Zentrale erspart, kann nicht den Verlust der Absatzmärkte und der durch die Zentrale garantierten Rechtssicherheit kompensieren.
 
Anfang des 18. Jhdt.! (Tippfehler oder Erratum, egal)
Selbstredend, mea culpa. Da habe ich wohl auf der Tastatur danebengehauen.

Ich bin mir nicht sicher, es gab schon die ein oder andere krisenhafte Entwicklung im habsburgischen Spanien.
Natürlich war die Herrschaft mindestens der der letzten beiden Habsburger (sofern man bei Carlos II. mit seinen Einschränkungen davon sprechen kann) sehr unglücklich und trug schon erheblich zum Verlust der Machtstellung des Landes bei.
Auch das ausbleiben eines legitimen Erben, aus der Linie der spanischen Habsburger war sicherlich schon länger absehbar. Aber die Teilung des Spanischen Reiches, bei der die Iberische Halbinsel an und das überseeische Reich an die Bourbonen, die italienischen und niederländischen Besitzungen an die österreichischen Habsburger gingen die war doch nicht unbedingt absehbar.

Die Teilung war ja am Ende mehr ein Produkt des Erbfolgekrieges und des vorzeitigen Todes Kaiser Joseph I. nachdem ein Sieg Habsburgs auf eine erneute Vereinigung des spanischen Reiches mit dem österreichischen Territorialkomplex und der Vormacht im Heiligen Römischen Reich hinausgelaufen wäre, was die Verbündeten Habsburgs in Großbritannien und den Niederlanden abspringen und den Kompromiss mit den Bourbonen suchen ließ.
Wäre Joseph I. am Leben geblieben und hätte weiterhin im Heiligen Römischen Reich und in Ungarn regieren können, wäre eine Übernahme der Herrschaft auf der iberischen Halbinsel durch Carlos III. für die verbündeten doch viel akzeptabler gewesen und eine Teilung hätte, wenn der Krieg gegen Frankreich gut gelaufen wäre (was er bis hierhin ja durchaus tat) durchaus vermieden werden können.

Vielleicht erinnere ich mich ja falsch, aber handelte es sich nicht a) un eine Sondersteuer und b) bei fehlenden Mitspracherecht im Parlament zu London?

Was "no taxation without representation" betrifft ist der Witz daran, dass a) anscheinend (vgl. Darstellung bei Hochgeschwender) gar nicht so klar ist, ob es sich überhaupt um eine Steuer handelte und dass b) ein Großteil der Bevölkerung in den Kolonien weder von der bewussten Abgabe noch der fehlenden Repräsentation im londoner Parlament besonders betroffen war.

Es waren zuvor mal in den 1760er Jahren mit dem "stamp act" und mit dem "sugar act" mal versuche unternommen worden Besteuerung in den nordamerikanischen Kolonien einzuführen, die scheiterten am Widerstand der Bevölkerung und mussten zurückgenommen werden.

Die Problematik mit den Nordamerikanischen Kolonien insgesamt war ja, dass ihre Gründung auf königliche Charters/Privilegien zurückging und somit der König Gouverneure einsetzen und in beschränktem Maße auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen konnte, während dass Parlament aber außen vor war, weil die Kolonien rechtlich gesehen kein Teil Großbritanniens waren.
Somit waren beim "stamp act" und beim "sugar act" die faktisch den Versuch einer Besteuerung und damit übergriffiges Verhalten des Parlaments, dass dabei versuchte in die Belange der Kolonien hinein zu regieren, über die es gar keine Jurisdiktion hatte verständlich.

Das man das nicht durchbekam, registrierte man in London und versuchte deswegen auf einem anderen Weg die Kolonien finanziell anzuzapfen, nämlich in dem man Zoll für die Einfuhr (oder die Ausfuhr, je nachdem, wie man das betrachten möchte) von Tee in die Kolonien erfand.

Das hatte, wenn man der Darstellung bei Hochgeschwender folgt, zwei Hintergedanken: Erstens war es zwar im bisherigen Verhältnis zwischen den Kolonien und Grißbritannien ein no-go, dass das londoner Parlament Steuern erfand, demgegenüber war es aber durchaus akzeptiert, dass Zölle bestanden, zumal den amerikanischen Kolonisten wohl auch klar war, dass die die britische Navy auch zum Schutz ihrer Küsten benötigten und auf britischen Schiffsraum zur Abwicklung des eigenen Handels angewiesen waren.
Hier versuchte London also die legalistische Schiene zu fahren und fehlendes Steueraufkommen aus den Kolonien auf anderem Wege zu ersetzen.

Gleichzeitig hatte man sich mit Tee als Ware auf die sich das bezog ein (relatives) Luxusgut ausgewählt, dass von den Unterschichten in den Kolonien in dieser Zeit kaum konsumiert wurde. Dahinter stand wahrscheinlich die Idee mit einem Luxusgut, für dass sich große Teile der Kolonisten nicht wirklich interessierten, weil sie es nicht konsumierten zunächst einen Präzedenzfall zu schaffen um die Legalität dieses Schritts vollständig abzusichern und Praxis nach und nach auf andere Güter auszuweiten.
In der britischen Lesart handelte es sich also gar nicht um eine Besteuerung. In den Kolonien wurde das teilweise anders gesehen und von Gegnern der Maßnahme der Vorwurf erhoben, es handle sich in Wirklichkeit um eine versteckte Besteuerung und das Ausgeben der Maßnahme als Zoll sei nur eine Art scheinlegaler Anstrich, womit sich Teile der Einwohnerschaft mobilisieren ließen, weil die Anerkennung von Besteuerung als rechtens natürlich zu deren Ausweitung führen konnte.

Was die Sache mit der Repräsentation angeht: Wer konnte sich denn in der Tat darüber beschweren im Londoner Parlament nicht repräsentiert zu sein?
Großbritannien hatte zwar ein Parlament, aber eben auch ein Zensuswahlrecht, dass politische Teilhaberechte an Landbesitz, bzw. Steueraufkommen band und dass dafür sorgte, dass der tatsächlich wahlberechtigte Teil der Bewohner vor den Reformen des 19. Jahrhunderts im deutlich einstelligen Prozentbereich lag.

Mit fehlender Repräsentation der Kolonien, als Slogan konnte man den Widerstand der kolonialen Eliten, die tatsächlich Aussicht gehabt hätten politische Rechte wahrnehmen zu können, zusammentrommeln. Aber warum hätten sich die über 90%, die auch wenn die Kolonien Sitze im londoner Parlament bekommen hätten, trotzdem von der Teilhabe ausgeschlossen geblieben wären groß dafür interessieren sollten?
Letztlich konnte es dem Durchschnittskolonisten doch egal sein, ob er keine politischen Rechte hatte, weil seine Kolonie keinen Sitz im Parlament hatte oder ob er keine politischen Rechte hatte, weil das restriktive Zensuswahlrecht ihn ausschloss.
Das lief auf's gleiche hinaus.
Den Unterschied dürfte bei den Massen eher die Angst vor drohender Besteuerung, als den Ärger über fehldende Repräsentation ausgemacht haben.

Worauf lief es am Ende mit dem Unabhängigkeitskrieg hinaus? Darauf, dass die Unterschichten zunächst weiterhin keine Repräsentation hatten, weil die neu entstandenen Vereinigten Staaten, (das Wahlrecht wurde auf der Ebene der Einzelstaaten geregelt), zunächst weitgehend beim Zensuswahlrecht blieben (das wurde bis in die 1820er Jahre langsam abgeschafft, aber die erste Generation unabhängiger US-Amerikaner hatte in weiten Teilen wenig von der neuen Demokratie), während die aus London drohende Besteuerung um die finanziellen Folgen der Kriege mit Frankreich zu bewältigen jetzt durch eine US-Amerikanische Besteuerung abgelöst wurde um die finanziellen Folgen des Krieges mit Großbritannien zu bewältigen.
Aus Sicht der ersten Generation unabhängiger US-Amerikaner hatte man also nur eine Oligarchie, gegen eine Andere getauscht. In der zweiten und dritten Generation änderte sich das dann.
 
Mit fehlender Repräsentation der Kolonien, als Slogan konnte man den Widerstand der kolonialen Eliten, die tatsächlich Aussicht gehabt hätten politische Rechte wahrnehmen zu können, zusammentrommeln. Aber warum hätten sich die über 90%, die auch wenn die Kolonien Sitze im londoner Parlament bekommen hätten, trotzdem von der Teilhabe ausgeschlossen geblieben wären groß dafür interessieren sollten?
Letztlich konnte es dem Durchschnittskolonisten doch egal sein, ob er keine politischen Rechte hatte, weil seine Kolonie keinen Sitz im Parlament hatte oder ob er keine politischen Rechte hatte, weil das restriktive Zensuswahlrecht ihn ausschloss.
Naja, weil man so zumindest indirekt Einfluss hatte, weil man Leuten, die repräsentiert wurden, direkt auf die Füße treten konnte. Ebenso wurde Geld, dass den Reichen in den Kolonien aus der Tasche gezogen wurde, halt nicht mehr in den Kolonien ausgegeben, sondern (überwiegend) in England, und bezahlte da Tagelöhner oder was auch immer. Ich würde also der These, dass es dem Durchschnittskolonisten einfach egal sein konnte, nicht zustimmen, auch nicht bei der Frage der Besteuerung und Repräsentation (im Gegensatz zu den anderen Fragen, die zur Unabhängigkeitserklärung führten).

Klar kann man sagen, dass in der Argumentation "No taxation without represantation" was nicht stimmt, wenn die Mehrheit ohnehin nicht im Parlament repräsentiert ist. Würd ich auch. Haben danach ja auch genug, dass es sich im Laufe des 19. Jh. geändert hat; und das, ohne das man da noch nach London schauen musste, oder auch nur (wenns nicht grad Frauen oder Schwarze oder so betraf) nach Washington, wenn ich das richtig erinnere.

Es ist immer gut, (Geschichts-) Mythen zu hinterfragen, und der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ist voll von Mythen. Genau das ist nation building: Der Aufbau von Institutionen, und das Erfinden von Geschichten. Aber man sollte das Kind mE auch mit dem Bade ausschütten. Das ganze Projekt war (wie auch die Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika) va ein Projekt der Eliten, die Herr im eigenen Haus sein wollten, aber das heißt nicht, das es nicht auch für die anderen ein Gewinn sein konnte, sich nun nur noch mit dem Hausherrn vor Ort auseinandersetzen zu müssen, und nicht mit Machthabern zigtausend Meilen weit weg.
 
Da unterschätzt du Washington aber gewaltig. Ich weiß schon, in unseren modernen postheroischen Zeiten, negiert man gerne denn Einfluss, denn Einzelpersonen auf den Lauf der Geschichte haben. Aber das die USA alle ihre oft heftigen Kinderkrankheiten überstehen konnte war, nicht nur aber im großen Washington zu verdanken.
Es geht nicht um das Negieren der Einflüsse von Einzeplersonen, sondern darum, dass wichtige Weichen durch andere Leute, als durch Washington gestellt wurden.
Das es überhaupt einen Bundestaat, eine Verfassung, ein stehendes Heer und vor allem einen durchsätzungsfähige Regierung gab, ist vor allem dem geschuldet, dass die Menschen so großes Vertrauen in Washington hatten. Washington tat auch viel dafür, er reiste durch das Land. Machte den neuen Staat erlebbar, erzeugte eine emotionale Bindung, verbreitete Vertrauen.

Es stimmt, zwar das Hamilton, die Grundlage für ein fiskalisch und wirtschaftlich Fundament der USA legten. Dies hätte Hamilton aber nie und nimmer durchsetzen können, wäre nicht Washington hinter ihm gestanden. Da hätte er noch so viele schöne Abendessen mit Jefferson haben können. Washington hatte eine einmalige Stellung inne, man konnte Hamilton kritisieren, man konnte auch Adams kritisieren, sogar bekämpfen, aber vor Washington musste man einen Rückzieher machen, wenn man nicht alles an politischen Kapital verlieren wollte. Das darf man nicht unterschätze

Du hast absolut recht damit, dass alles das ohne Washington nicht möglich gewesen wäre und Washington aus sein Ansehen und seinen Einfluss nutzte um ihm nahestehende Positionen auf dem Kontinentalkongress und bei der Ausarbeitung der Verfassung zu pushen und dass das durchaus das eine oder andere Mal den Ausschlag gab.
Man darf aber nicht übersehen, dass gerade auch die militärischen- und die Repräsentationsaufgaben immer wieder dafür sorgten, dass Washington bei den politischen Debatten oft nicht in persona anwesend sein und häufig nur Dinge, die sich bereits vollzogen hatten aus der Ferne kommentieren konnte.
Gerade der Umstand, dass er nicht so sehr in die politischen Grabenkämpfe hineingezogen wurde und sich darin aufreiben musste, dürfte in nicht unerheblichem Maße dazu beigetragen haben, dass er sich diesen Nimbus, als große Integrationsfigur überhaupt zulegen und bewahren konnte, denn gerade durch seine Abstinenz vom politischen Geschäft während der Feldzüge, konnte er es natürlich vermeiden, dass unpopuläre Schritte allzu stark mit seinem Namen verbunden wurde.

Das funktionierte aber natürlich nur deswegen, weil er Leute vor Ort hatte, die einigermaßen in seinem Sinne aggierten und in seiner Abwesenheit die Grundlagen dafür schufen, dass er überhaupt weitermachen konnte.

Das Problem bei großen Überfiguren, wie Washington ist halt, dass sie nur so lange als solche funktionieren, wie sie einer möglichst breiten Masse als Projektionsfläche für ihre Vorstellungen dienen können.
Das bedeutet aber glechzeitig die Notwendigkeit sich weitgehend aus dem politischen Tagesgeschäft herauszuhalten um keine Entscheidungen treffen zu müssen, die allgemein unpopulär sind oder den Eindruck machen eine Partei allzu sehr zu begünstigen, weil es für solche Figuren notwendig ist die Illusion aufrecht zu erhalten über den Parteien zu stehen, sonst nutzt sich der Mythos ab.

Hätte es in Washingtons Abwesenheit während des Krieges keine vernünftigen Leute an den Schaltstellen der politischen Macht gegeben, die tatsächlich in die Zukunft dachten, wären, während Washington im Feld glänzte und seine militärischen Siege einfuhr möglicherweise die Weichen für die Zukunft in Philadelphia und New York in fatal falsche Richtungen gestellt worden und ob Washington das allein rückwirkend hätte korrigieren können, halte ich für mehr als fraglich.

Wären in Washingtons Abwesenheit andere Ansichten und Parteien stärker geworden, hätte z.B. Jefferson, mit seinen eher antimodernen Ansichten größeres Gewicht gewinnen oder sich statt Hamilton in der Finanzfrage mehr populistische Strömungen durchsetzen können, die Auf dem Standpunkt standen, Besteuerung sollte illegal sein, hätte es durchaus passieren können, dass in der Gründungsphase der Vereinigten Staaten früh Schlüsselentscheidungen gefallen wären, die in eine deutlich weniger erfolgreiche Zukunft hätten führen können.

Und Land gab es in Lateinamerika auch, in Mexiko, Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Chile usw. gab es im 19. Jahrhundert auch eine Siedlerbewegung. Stimmt, nicht in dem Ausmaße wie in den USA, aber dadurch wäre doch erst recht Dampf aus dem Kessel genommen worden.
Der Punkt auf den ich hinauswollte, ist mehr, dass am Beginn des Unabhängigkeitskrieges der soziale Druck in Teilen der 13 Kolonien ja bereits so groß war, dass der Kessel nicht mehr weit von der Explosion war.

Neben der Frage von Besteuerung/Zöllen, war ja die zweite höcht unpopuläre Maßnahme, die aus Großbritannien kam und in den Kolonien für mächtigen Ärger sorgte die Etablierung der "Royal Proclamation line", die ja den europäischen Kolonisten das Siedeln westlich der Appalachen und den Erwerb von Land dort praktisch verbot.
Auch wenn die wohl nicht als dauerhafte Barriere gedacht war, erzeugte dass doch Probleme, weil die Zuwanderung in die Kolonien aus Europa anhielt, das fruchtbarste Land aber bereits verteilt war und vielen Neuankömmlingen nur noch die wirtschaftlich mäßig ertragreichen Randlagen im Einzugsgebiet der Appalachen und im klimatisch eher strengen Norden übrig blieben.

Indem das mit der Unabhängigkeit gekippt wurde, und die neuen US-Regierungen bei gewalttätiger Landnahme gegenüber der indianischen Bevölkerung beide Augen zudrückten, wurden sie dieses Problem zeitweise los, hätten sie an der britischen Politik und den Abkommen mit den indigenen Gruppen festgehalten, hätten sie in kurzer Zeit in einigen Regionen an der Ostküste eine dermaßen starke soziale Frage und zunehmende Verteilungskämpfe gehabt, dass das ganze System wahrscheinlich ziemlich schnell instabil geworden wäre.
Im Besonderen dann, wenn sich das noch mit den anderen durch die Gründergeneration vertagten Fragen und halbgaren Kompromisse in der Sklavenfrage und in der frage der Rechte der Einzelstaaten verbunden hätte.
Wäre nämlich durch zunehmende Verarmung der neuen nachströmenden Einwanderer, die vor allen in den Norden gingen, dort irgendwann eine Neuregelung der Eigentumsverhältnisse oder die Etablierung von sozialen Sicherungssystemen auf die politische Tagesordnung gekommen, wie das anderswo im 19. Jahrhundert passierte, hätte das die Zentrifugalkräfte, die den noch relativ jungen Staat wieder zerreißen hätten können, deutlich verstärkt.

Diese Option die sozialen Probleme einfach an die "Frontier" abzuschieben ergab sich allersings nur deswegen, weil jenseits der vorhandenen abgesteckten Grenzen keine Nachbarn vorhanden waren, deren Besitzansprüche man meinte achten zu müssen und weil die Franzosen und Spanier sich teilweise in prekären Situationen befanden, die es möglicht machten, dass das Louisiana-Territorium und Florida an die USA verkauft/abgetreten wurden.

Diese Möglichkeit soziale Probleme in den stärker besidelten Küstengegenden einfach durch ständige Expansion ins Binnenland abzuschieben, stand in den Nachfolgestaaten des spanischen Kolonialreiches ja schon deswegen nicht zur Verfügung, weil man ja überall an die anderen ehemaligen Vizekönigreiche und an Brasilien grenzte, deren Territorialansprüche man anerkannte.


Im Hinblick auf die Problematik, die El Quijote schonmal angesprochen hatte, die Rivalität darum, wer politische Metropole und wer Peripherie würde und die damit verbundenen zentrifugalen Kräfte wäre darauf hinzuweisen, dass in den USA auch hier ein nicht unkulger Kompromiss gefunden wurde.

Erste Hauptstadt der Vereinigten Staaten, wenn auch nur für 2 Jahre war New York, dann folgte zunächst der Umzug nach Phaliadelphia. Das war insofern ein nicht ungeschickter zug, als dass man damit die politische Hauptstadt und das Finanzzentrum des Landes von einander trennte und so dem Sentiment, die Regierung könne leicht unter den Einfluss des Bankenkapitals geraten, dass es vor allem in der kleinbäuerlichen Landbevölkerung früh gab etwas vorbauen.

Im zweiten Schritt, war die Errichtung einer neuen Hauptstadt, ungefähr im Zentrum des neuen Staates in der Nord-Süd-Ausdehnung, und in einem gesondertem Gebiet, dass keinem Bundesstaat angehörte insofern ein interessanter Kompromiss, als dass damit solchen Eifersüchteleien darum wohin das neue Zentrum kommen würde insofern ein Riegel vorgeschoben wurde, als dass alle traditionellen Zentren eine Absage erhielten.
Auch das hat möglicherweise Spannungen herausgenommen.
 
Naja, weil man so zumindest indirekt Einfluss hatte, weil man Leuten, die repräsentiert wurden, direkt auf die Füße treten konnte.
Mit was denn, wenn man ihnen nicht drohen konnte sie abzuwählen, weil man vom Wahlrecht ausgeschlossen war? Mit offenen Gewaltdrohungen? Da dürfte der sich verarscht fühlende Kleinfarmer gegen den Großgrundbesitzer, der möglicherweise ein paar dutzend Sklaven jederzeit zur Disposition hatte, die er auch anders einsetzen konnte, der mit den anderen Offiziellen des Territoriums auf "du" stand, weil die alle aus dem gleichen Topf der Grundbesitzer-Elite kamen und längst miteinander versippt waren und deren Großbetriebe möglicherweise der wichtigste Arbeit- (auch für das von der Landwirtschaft abhängige Kleinhandwerk) und der wichtigste Kreditgeber (für kleinere Bauern, die den Transport ihrer Ernteerzeugnisse zu den größeren Märkten zum Teil finanzieren mussten) war, eher den kürzeren gezogen haben, meinst du nicht?

Ebenso wurde Geld, dass den Reichen in den Kolonien aus der Tasche gezogen wurde, halt nicht mehr in den Kolonien ausgegeben, sondern (überwiegend) in England, und bezahlte da Tagelöhner oder was auch immer.
Bei Lichte betrachtet: Würde der Abfluss von Geld, also de facto Edelmetall, denn weithin akzeptierte Papierwährung gab es damals in den Staaten ja noch nicht, so lange er qua "Luxussteuern" nur die Oberschicht betraf nicht durch die negative Beeinflussung der im Umlauf befindlichen Geldmenge die Kaufkraft der relativ kleinen Ersparnisse der Unterschichten aufgewertet und ihnen mehr Konsummöglichkeiten verschafft haben?

Es ist immer gut, (Geschichts-) Mythen zu hinterfragen, und der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ist voll von Mythen. Genau das ist nation building: Der Aufbau von Institutionen, und das Erfinden von Geschichten. Aber man sollte das Kind mE auch mit dem Bade ausschütten. Das ganze Projekt war (wie auch die Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika) va ein Projekt der Eliten, die Herr im eigenen Haus sein wollten, aber das heißt nicht, das es nicht auch für die anderen ein Gewinn sein konnte, sich nun nur noch mit dem Hausherrn vor Ort auseinandersetzen zu müssen, und nicht mit Machthabern zigtausend Meilen weit weg.
Man darf ja dabei nicht übersehen, dass die Zeitgenossen nicht wissen konnten, was am Ende dabei heraus kommt.

Machen wir mal ein Gedeankenexperiment, stellen wir uns mal vor, am Vorabend der "Boston Tea Party" wäre in der Stadt selbst ein Zeitreisender aus dem Jahr 1790 erschienen, und hätte die Bevölkerung darüber aufgeklärt, was passieren würde, wenn sie sich jetzt mit der englischen Obrigkeit anlegten.
Das der Lohn so aussehen würde, dass drohende Besteuerung von Großbritannien aus durch sichere Besteuerung aus New York/Philadelpiha ersetzt würde, dass in Sachen nicht vorhandener Partizipation für die einfache Bevölkerung alles beim alten bleiben und dafür die königlichen Gouverneure, an die man bei vorliegenden Rechtsbrüchen der eigenen Oberschichten immerhin noch appellieren konnte, auch verschwinden würden.

Wie viele hätten bei der Aussicht auf diese Zukunft sich trotzdem der Revolte angeschlossen?

Setzen wir das Gedankenexperiment fort: Nehmen wir an, es folgt ein zweiter Zeitreisender aus dem Jahr 1820, der der Bevölkerung eröffnet, dass alles besser wird und die Zukunft zummindest für die weiße männliche Bevölkerung die vollen politischen Rechte bringen wird, während er der gleichen Menge aber eröffnet, dass bis dahin 90% der Anwesenden längst versorben sein werden und das nicht mehr erleben.

Wer viele hätten dann mitgemacht?

Mittelfristig, darüber brauchen wir nicht diskutieren, profitierte die Bevölkerung und in der mittelfristigen Entwicklung war der neue amerikanische Staat im Hinblick auf politische Rechte ein enorm wichtiges und durchaus das umfangreichste Emanzipationsprojekt seiner Zeit.
Darüber brauchen wir uns nicht unterhalten.
Aber kurzfristig war es das nicht.
Und die wenigsten Menschen haben das Zeug zu einem Moses, der bereit ist 40 Jahre durch die Wüste zu rennen und dann an seinem Lebensabend noch mitzubekommen, wie die jüngeren Generationen in eine bessere Zukunft ziehen, an der sie selbst keinen Anteil mehr haben.
Der Mensch will die Verbesserung im eigenen Leben und um die ist die Erste Generation der US-Amerikaner, in weiten Teilen, um es plakativ auszudrücken, von der eigenen Elite beschissen worden.
 
Machen wir mal ein Gedeankenexperiment, stellen wir uns mal vor, am Vorabend der "Boston Tea Party" wäre in der Stadt selbst ein Zeitreisender aus dem Jahr 1790 erschienen, und hätte die Bevölkerung darüber aufgeklärt, was passieren würde, wenn sie sich jetzt mit der englischen Obrigkeit anlegten.
"Hey, du, Zeitreisender, was wird denn aus diesem Staat, den die Revoluzzer da gründen wollen?"
"Ähh, es wird die reichste und militärisch stärkste Nation, die die Welt je gesehen hat?"
"Yeah, wo sind die Fackeln und Mistgabeln? Den Tommies werden wirs zeigen!"...

Der Mensch will die Verbesserung im eigenen Leben und um die ist die Erste Generation der US-Amerikaner, in weiten Teilen, um es plakativ auszudrücken, von der eigenen Elite beschissen worden.
„Die ersten fanden den Tod, die zweiten hatten die Not, und die dritten erst das Brot.“ Der Auswandererspruch traf auch auf Nordamerika zu. Hat Millionen auch nicht davon abgehalten, dabei ihr Leben zu riskieren.

Später vielleicht noch mehr inhaltliches. ;)
 
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