Eine erzwungene Konvertierung hätte das Ende der Gruppenidentität der chinesischen Christen bedeutet, was einem Genozid ohne Massaker gleichkommt.
Die unklare Nutzung des Begriffs des "Genozids" wird fortgesetzt. Das ist insofern mehr als problematisch, weil der Begriff seine Bedeutung verliert.
Und es trifft der Befund zu, den Barth (Genozid) in Hinblick auf eine Aufweichung der Definition formuliert hat: "Auch ist diese Definition so allgemein, dass sie auf faktisch jedes Massaker und jeden Massenmord zutrifft." (S 23).
Dieses vor allem auch vor dem Hintergrund, dass ein Genozid aus der Sicht des handelnden Täters eine staatliche Gruppierung / Organisation vorausgesetzt hat und damit zusammenhängend eine Handlungsabsicht. Um die Zielgerichtetheit einer Handlung zu verdeutlichen.
Und um die Kategorie des "Genozids" gegenüber Massakern oder anderen Formen des Massenmords abzugrenzen.
In diesem Sinne war die Tötung der chinesischen Christen sicherlich kein Genozid im klassischen Verständnis des Konstrukt. Wobei ich anerkennen muss, dass es Theoretiker gibt, die für fast jede Form von - massenhafter und / oder gezielter - Tötung auch gerne den Begriff des Genozids verwenden. Was ich persönlich weiterhin für sinnfrei halte, da ein "Massenmord" oder ein "Massaker" m.E. in seiner grundsätzlichen Abscheulichkeit auf einer Ebene mit einem Genozid steht.
Dennoch: Man sollte sich zumindest rudimentär mit der Rolle des Christentums in China beschäftigen. Das seit dem frühesten Aufbau immer auch durch die autoritäre Forderung der imperialistischen Mächte gegenüber den chinesischen Kaisern bestimmt war und somit ein Instrument der Politik war.
Zur Beschreibung der Situation ist anzumerken, dass bis 1949 (vgl. Klein, S. 280) lediglich 0,2 Prozent der Chinesen Christen waren. Es sich somit um eine sehr kleine Gruppe handelte, die geographisch relativ nahe an den Missionen anzutreffen war. Es ist somit auch unter soziologischen Gesichtspunkten schwer, sie zu beschreiben und ihre eigenständige Kultur zu fassen.
Zur Situation vor den Boxerkriegen schreibt Klein: „ Das oftmals aggressive Auftreten der Missionare und ihrer chinesischen Mitarbeiter, besonders ihre Unduldsamkeit gegenüber allen Formen chinesischer Religion führte zu Spannungen zwischen Christen und Nichtchristen, die sich häufig in in gewaltsamen antichristlichen Ausschreitungen, den sogenannten Missionszwischenfällen entlud. Deren politische Instrumentalisierung [durch die imperialistischen Großmächte], insbesondere in den Jahren 1890er Jahren, verschärfte die Auseinandersetzung noch…“
Ähnlich wird die Situation bei Vogelsang beschrieben, der die Intervention der Missionare zugunsten der christlichen Chinesen bei Streitigkeiten als einen zentralen Punkt der direkten Unzufriedenheit benennt. (vgl. ähnlich Fenby)
Eingebunden ist diese Situation, so die Arbeiten von Cohen und Esherick in einen „Modernisierungskonflikt“, bei dem traditionelle und teils archaische bzw. schamanistische Vorstellungen über das Leben und die Natur eine Rolle gespielt haben. Dieses Gleichgewicht, so die Sicht der „Boxer“ auf die christlichen Missionen wurde durch die Fremden gestört und war eine der zentralen Gründe für die Erklärung bzw. Schuldzuweisungen der teils verheerenden Dürren in China zu der Zeit.
Das ließe sich deutlich ausführlicher gerade mit Hilfe von Cohen, Xiang und Esherick ausführen, was eigentlich auch sinnvoll wäre, da der entsprechende Beitrag auf Wiki zum „Boxeraufstand“ schlichtweg schlecht ist und Lichtjahre entfernt von aktuellen Bezügen zum Forschungsstand.
Hier wäre zu prüfen, ob die "Boxer" nach einem zentralen Plan gehandelt haben oder chaotisch und spontan agierten. Generell schwierig, weil nur wenig über die Interna der "Boxer" bekannt ist.
Viele der Aktionen der Boxer waren unkoordiniert und folgen keinem zentralen Plan. Und das wird auch als Erklärung herangezogen, warum die Belagerung der Botschaften letztlich keinen Erfolg hatte.
Und sind die chinesischen Christen auch noch selbst schuld, dass sie von den "Boxern" gehasst und ermordet wurden?
Vielleicht solltest du den chinesischen Christen den Boxeraustand verzeihen.
Das ist natürlich eine polemisch Überzeichnung. Und mein Verweis, ähnlich bei Klein oder Vogelsang, deutet darauf hin, dass der Boxeraufstand durchaus als eine frühe Form eines Befreiungskrieges gedeutet werden kann, wie beispielsweise bei Mishra (S. 198ff). Der Parallelen zieht zwischen Aufständen in Indien und in China.
In diesem Sinne haben die christlichen Missionen zur Eskalation des Konflikts beigetragen. Und Konflikte in China zwischen rivalisierenden Gruppierungen waren in dieser Periode extrem „blutig“ Alleine der Bürgerkrieg aus der Periode,der Krieg der Qing gegen die Taiping-Bewegung, hat ca. 20 Millionen Chinesen das Leben gekostet.
Ein Hinweis auf die extrem hohen Verluste an Menschenleben in den kommenden Jahren im Rahmen der Chinesischen Revolutionen nach 1911.
Von daher sollte man schon die Verluste an Leben so tragisch jedes einzelne aus der heutigen Zeit ist, auch korrekt historisch lokalisieren.
Um es überschaubar zu halten wurde nicht jeder Aspekt durch präzise Literaturhinweise belegt, dennoch der Verweis auf herangezogene Literatur:
Cohen, Paul A. (1997): History in three keys. The Boxers as event, experience, and myth. New York: Columbia University Press.
Cohen, Paul A. (2003): China unbound. Evolving perspectives on the Chinese past. London, New York: Routledge Curzon.
Esherick, Joseph (1987): The origins of the Boxer Uprising. Berkeley: University of California Press.
Fenby, Jonathan (2009): The Penguin history of modern China. The fall and rise of a great power, 1850-2009. London: Penguin.
Klein, Thoralf (2007): Geschichte Chinas. Von 1800 bis zur Gegenwart. Paderborn, München [u.a.]:
Mishra, Pankaj : Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. 4. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Smith, Woodruff D. (1991): European imperialism in the nineteenth and twentieth centuries. Chicago: Nelson-Hall.
Vogelsang, Kai (2014): Kleine Geschichte Chinas. Stuttgart: Reclam