Davon haben wir nichts gewusst!

Wenn sich diese Diss. mit der "Judenvernichtung" bis 1941 beschäftigt, dann blendet es vor allem eines aus, die auf der Wannsee-Konferenz beschlossene "Endlösung" und die damit zusammenhängenden industriellen Massenmord, sprich Holocaust.
Das muss ein Missverständnis sein.
Haas befasst sich mit dem Zeitraum 1941-43. Er macht am Anfang seiner Diss. einen Überblick zum Zeitraum bis 1941.

Jan Karski berichtete zwischen 1942 und 1943 als Mitglied der polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa (AK) nach London. Jan Karski – Wikipedia
Witold Pilecki berichtete ebenfalls als Mitglied der AK ab Oktober 1940 bi 1943 direkt aus Auschwitz via die AK nach London. Witold Pilecki – Wikipedia
Witold Pileckis Bericht aus Auschwitz
Dort z.B. der Abschnitt Die neuen Krematorien in Birkenau/Rajsko

durch die im Untergrund arbeitende Jüdische Sozialistische Partei aus Warschau nach London geschmuggelt.
von einer Jüdischen Sozialistischen Partei in diesem Zusammenhang hörte ich noch nie.
 
von einer Jüdischen Sozialistischen Partei in diesem Zusammenhang hörte ich noch nie.

Ist doch gut, man lernt halt nie aus.

Ansonsten, anstatt hier Belehrungen zu verteilen, wäre es hilfreicher gewesen, stattdessen, wenn Du die Publikation kennst, inhaltlich zu referieren, welche Informationen denn der schweizer Öffentlichkeit zur Verfügung standen.
 
Dann nehmen wir doch mal den Hr. Haas. Wenn sich diese Diss. mit der "Judenvernichtung" bis 1941 beschäftigt, dann blendet es vor allem eines aus, die auf der Wannsee-Konferenz beschlossene "Endlösung" und die damit zusammenhängenden industriellen Massenmord, sprich Holocaust. Gewußt wurde die systematische Verfolgung von politischen Gegnern, Juden oder anderen "mißliebigen Personen" und das System der Konzentrationlager.

Dass Berichte in Zeitungen den Holocaust direkt thematisierten ist mir neu - was nicht viel heist - und es wäre durchaus intererssant, was denn da berichtet wurde. Es bleibt bei mir allerdings eine große Skepsis hinsichtlich der realistischen Darstellungen der Informationen (@ursi: Kannst Du etwas dazu sagen?)

Diese in Zürich erstellte Dissertation befasst sich mit dem Informationsstand der schweizerischen Behörden und in der Schweiz angesiedelter Organisationen über die Judenvernichtung. Nach dem Überblick über die Ereignisse der Jahre 1933-41 wird das Wissen über die Judenvernichtung im Politischen und im Justizund Polizei-Departement, in der Armee, der katholische Kirche und den Jüdischen Organisationen dargestellt. Das letzte Kapitel befasst sich mit den Berichten in den Zeitungen. Denn sie waren es, die das Bild über den Genozid der Öffentlichkeit vermittelten
(...)

Das die Behörden in der Schweiz von der Verfolgung und der Ermordung von Juden wussten, das ist belegt. Die NZZ hat Artikel dazu geschrieben - ich muss die aber erst recherchieren um genaueres zu sagen.

Die erwähnte Diss. habe ich mal vor Jahren gelesen, ist mir aber nicht mehr präsent.

Aus: "Diplomatische Dokumente der Schweiz"
Was wusste «man» – und ab wann?
Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni und dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 erreichten die Kriegshandlungen, aber auch die Verfolgungen der Jüdinnen und Juden Europas, eine völlig neue Phase. Ein zentraler Faktor, um die Handlungsspielräume der damaligen Entscheidungsträger einschätzen zu können, ist die Frage, ab wann die Behörden von der gezielten Vernichtungspolitik der Nazis wussten. Die Akten des Aussenministeriums – des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD) – zeigen, dass die Entscheidungsträger in Bern schon relativ früh über die Gräueltaten an der Ostfront informiert waren.

Diplomatenberichte über die Vernichtungspolitik Ende 1941
Bereits im November und Dezember 1941 liess der schweizerische Konsul in Köln, Franz-Rudolph von Weiss, dem EPD Berichte über die Deportationen deutscher Juden nach Osteuropa (dodis.ch/47311, dodis.ch/11981 und dodis.ch/47318) zukommen. Paul Rüegger, Gesandter in Rom, und René de Weck, Gesandter in Bukarest, berichteten über «systematische Verfolgungen» und die versuchte «biologische Vernichtung weiter Teile der Bevölkerung in den besetzten Gebieten» im Osten (dodis.ch/47313 und dodis.ch/47314, Original französisch).

Die Indizien häufen sich: Frühjahr 1942
Auch durch die Berichte deutscher Deserteure erhielten die Behörden im Frühjahr 1942 detaillierte Kenntnisse über Massenerschiessungen von Jüdinnen und Juden in den besetzten Gebieten der Sowjetunion (dodis.ch/11994 und dodis.ch/11995). Im Mai liess Konsul von Weiss dem Nachrichtendienst eine Fotodokumentation über «exekutierte Polen» und über das Ausladen hunderter Leichen von Juden aus deutschen Güterwagen an der «russischen Front» zukommen (dodis.ch/32107 und dodis.ch/32108, Original französisch). Ein Artikel der Forschungsgruppe der DDS in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte rekonstruiert die Geschichte dieser Fotografien."

Quelle: e-Dossier: Die Schweiz, die Flüchtlinge und die Shoah | dodis.ch
 
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Friedländer und Kenan beschäftigen sich ebenfalls mit der Frage der Rückmeldungen der Massenmorde im Osten nach Deutschland (vgl. S. 294ff). "Im Reich wurden Informationen über im Osten verübte Massakerin erster Linie durch Soldaten verbreitet....in die Heimat schrieben."

Das sind die validesten Hinweise, dass Vermutungen und Befürchtungen durch vertrauenswürdige Personen bestätigt wurden und diese Informationen lagen Personen im Reich mit zunehmender Länge des Krieges vor.

Parallel dazu sammelten Geheimdienste Informationen. "Schon im Juli 19141 reichten schweizerische diplomatische....Vertreter im Reich und in den Satellitenländern detaillierte Berichte über diese massenhaften Greuel ein; ihre Informationen stammten allesamt aus deutschen oder verwandten Quellen. Höhere und selbst niedrigere Beamte in verschiedenen deutschen Ministerien hattenb Zugang zu den Mitteilungen der Einsatzgruppen und zu ihren Berechnungen der atemberaubenden Zahl von Juden, die sie ermodet hatten. Derartige Informationen wurden im Oktober 1941 in interner Korrespondenz des Auswärigen Amtes erwähnt, und sie waren noch nicht einmal als "streng geheim" eingestuft. (ebd. S. 295)

Neben den Informationen über das Massenmorden durch geflohene bzw. den polnischen Untergrundgruppen, erhielten ab ca. Oktober 1941 britische Beamte aus entschlüsselten Meldungen ebenfalls Kenntnis von den Massenmorden auf sowjetischen Gebiet. Derartige Informationen wurden aber nicht weiter gegeben, um das Geheimnis nicht zu lüften, dass man im Besitz einer "Enigma-Verschlüsselungsmaschine" war und so die deutschen verschlüsselten Funksprüche mitlesen konnte. (ebd. S. 299)

Dennoch macht Freifländer und Kenan auch deutlich, dass es insgesamt, vor allem auch in den USA und in Palästina, große Wissensdefizite gab über die Vorgänge im Zuge der "Endlösung".

In diesem Sinne bleibt für die Situation die Beschreibung von Longerich zutreffend, dass man vieles vermutete, manches auch zutreffend war, einige Wenige - gemessen an der Gesamtbevölkerung - auch präzise Bescheid wußten und dennoch das Wissen über den Holocaust auf kleine Kommunikationsnetzwerke beschränkt war.

Friedländer, Saul; Kenan, Orna (2010): Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. München: C.H. Beck. (gekürzte Fassung der BPB)
 
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Aus dem Tagebuch von Anna Haag, 21. August 1942:

Der Sohn unseres Gärtners kam in Urlaub. Von Russland! Er hat dort geholfen, das neue "Führer-Hauptquartier" zu tarnen. Vor der Abreise Vereidigung aller, kein Wort vom Geschehen und Erlebten zu erzählen. Aber was gelten Hitler-Eide! Schon in Berlin wurde einer abgeführt, der sich mit Kameraden etwas laut unterhalten hatte. Und besagter Urlauber von hier hat auch einiges "ausgeschwitzt". Z. B.: dass die gefangenen Russen, die mitgearbeitet hätten an dem neuen Führer-Hauptquartier, alle weggekommen seien. Wohin? Darauf gab ein Augenblinzeln die Antwort. Dass man die Juden zu Tausenden massakriere. Nackt ausgezogen müssen sie sich auf den Bauch legen, mit Maschinenpistole Schuss ins Genick! Aus! Frauen, Kinder, alle! Dass ganze Ortschaften ausgerottet werden, wenn auch nur einer sich muckst! Zur Ehre des jungen Mannes sei es gesagt: er schüttelte sich vor Entsetzen! Er halte es nicht mehr aus! Das, was er stockend erzählte, scheint nicht das Entsetztlichste zu sein, was er mitansehen musste! Welch ein Pestgestank! Wann, wann endlich kommt die Erlösung!​

"Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode"
 
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